Kapitel 32 - Die Nachweihnachtsfeier




Tagebucheintrag von Wulf Marquard in Form eines imaginären Briefes an Derya Akgünoglu am Montag, den 29. Dezember 2014


Wir schreiben die ruhigsten Tage des Jahres. Es ist jene Zeit zwischen Weihnachten und Sylvester und schon wieder geht ein Jahr zur Neige und wieder mal frage ich mich wie immer in dieser Phase, wo denn dieses Jahr geblieben ist? Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie anno 2014 begonnen hat und nun ist es fast Geschichte. Die Zeit ist ein wirklich extrem seltsames Konstrukt. Wenn ich mich daran erinnere, wie das als Kind und Jugendlicher gewesen ist mit der Wahrnehmung der Zeit. Die Wochen zwischen den Oster- und Sommerferien erschienen ebenso unendlich wie jene von September bis Weihnachten. Oder die qualvoll langsame Epoche zwischen vierzehn und achtzehn, bis man endlich so lange durch die Gegend ziehen konnte, wie man es wollte.  

Zum ersten Mal seit langem habe ich die letzten Tage des Jahres frei. Als ich noch im Call Center auf dem Berge beschäftigt gewesen war, waren dieses ganz normale Arbeitstage, an denen ganz normaler Kundenservice angeboten wurde. KeTech, wo es ausschließlich B2B gibt, ist da gänzlich anderes. Da ruht der Betrieb, weil es sich schlicht und einfach nicht lohnt, in Kalenderwoche 52 mit Unternehmen zu kommunizieren. Ich bin übrigens sehr zufrieden mit meinem neuen Job, wobei wir neu doch besser in Anführungszeichen setzen. Bald ein halbes Jahr bin ich jetzt dort beschäftigt, die Probezeit, so versicherten mir Tülay und Jojo, sei von mir problemlos bestanden, da müsse ich mir keinerlei Sorgen machen. Obgleich in den meisten Betrieben solche Bonuszahlungen erst nach einem Jahr Zugehörigkeit gezahlt werden, hat KeTech mir 500 Euro Weihnachtsgeld überwiesen. Und Weihnachten soll jetzt hier auch weiterhin grob das Thema sein. Eine Weihnachtsfeier gibt es so nicht. Jojo sagte mir, er sei der schlimmste Weihnachtsmuffel der Welt und er zahle seinen Angestellten lieber etwas mehr anstelle einer teuren Feier. Dennoch hat er mich morgen eingeladen. Es scheint wohl eine sehr spezielle Sache zu sein. 

"Du bist echt ein guter Kerl, Wulf. Das meine ich nicht nur in Hinsicht auf deine Arbeit, sondern auch vom Menschlichen her. Mit dir kann man sich immer richtig gut unterhalten und, noch besser, du hörst auch zu. Ich habe da, denke ich, genau das richtige für dich und zudem einen Ersatz für die Weihnachtsfeier, die es bei KeTech nicht gibt. Ein Freund von mir hat ein Antiquariat in der Stadt. Wir zwei treffen uns immer zwischen Weihnachten und Neujahr, um das alte Jahr in philosophisch wie abgedrehter Form Revue passieren zu lassen. Das gelingt zwischen all den alten Büchern auch immer recht anständig. Dazu gibt es Bier und guten Whiskey. Du bist der erste Außenstehende, der in diese Runde geladen wird. Das bedeutet eine große Ehre für dich. Ein Ablehnen ist eigentlich unmöglich und würde mich zudem schwer kränken", sagte mir Jojo am letzten Tag vor den kleinen Betriebsferien. 

Jojo meinte es teilweise spaßig. Natürlich hätte ich auch absagen können, aber das wollte ich gar nicht. Besonders nachdem sich herausgestellt hatte, dass ich in dem besagten Antiquariat während meiner Studienzeit des ein oder andere Buch erworben hatte. Damals hatte ein Alt-68er den Laden betrieben und ich erinnerte mich, dass ich vor vier oder fünf Jahren in der regionalen Zeitung darüber gelesen hatte, dass durch eben jenen Alt-68er das Geschäft, welches in einer Seitenstraße nahe des Flusses liegt und in gewissen Kreisen Kultstatus besitzt, aus Altersgründen abgegeben worden war. Auch über den neuen Betreiber hatte in dem kurzen Artikel etwas gestanden, aber das war mir entfallen. Ich sagte also zu und berichtete Jojo von meiner Beziehung zu und meinem Wissen über das Antiquariat. 

"Den Laden hat anno 2010 ein junger Franzose übernommen, der hier Romanistik und Germanistik studiert hat mit dem Schwerpunkt klassische Literatur. Ich kenne ihn über seine heutige Frau, mit der habe ich Mathematik zusammen studiert. Heute ist sie Lehrerin an einem Gymnasium. Die hat mich damals zu einer sehr abgedrehten Geburtstagsparty eingeladen und da habe ich Jean, so heißt unser werter Gastgeber am 30. Dezember, kennengelernt. Der Typ ist noch viel abgedrehter, als die Party es damals war und er ist bereits sehr gespannt darauf, dich kennenzulernen. Denn ich habe ihm bereits viel über unsere Gespräche hier berichtet. Du wirst ihn sicherlich mögen, Wulf, und ich freue mich, dass du dabei bist", erklärte mir Jojo mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. 

Jetzt sitze ich hier und bin gespannt, was mich morgen bei dieser philosophischen drei Mann Runde im Antiquariat erwartet. Im Fernsehen ist heute auf 3Sat den ganzen Tag Western das Thema. Es laufen die wahren Juwelen des klassischen und des Italo-Western. Ich schaue das Programm bereits, seit ich gegen 10:00 Uhr aufgestanden bin. Jetzt gerade läuft Der Mann, der Liberty Valance erschoss, danach kommt Rio Bravo und zur späten Stunde das absolute Highlight mit Spiel mir das Lied vom Tod. Ich habe mir auf die erste freie Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr nach vielen Jahren eine Flasche Johnnie Walker Black gekauft und spätestens wenn Sergio Leones Meisterwerk anfängt, werde ich mir ein Gläschen davon gönnen. Vielleicht auch zwei, denn der Film ist ja bekanntlich lang und ich tendiere dazu, die Nachtstunden, wenn ich Wochenende oder Urlaub habe, zu genießen. Doch übertreiben werde ich es heute nicht, denn morgen steht die besagte Nachweihnachtsfeier im Antiquariat an und da geht sicherlich der eine oder andere Drink durch. Und dass ich es heute nicht übertreibe, gilt als ziemlich sicher. Immerhin ist Vladi Landsmann nicht in der Stadt. Ich habe übrigens seit dem Gelage im Sommer nie mehr als drei Bier am Abend getrunken und selbst das war die berühmte Ausnahme. 

 Als ich vorhin kurz auf dem Balkon gewesen bin, habe ich einen krassen Sonnenuntergang sehen können, wie es ihn eben nur zu dieser dunklen, kalten, verregneten Jahreszeit gibt. Obgleich ich späten Herbst und Winter wie der Teufel das Weihwasser fürchte, musste ich mir eingestehen, dass dieser Sonnenuntergang etwas für sich hatte. Wobei Sonnenuntergang dafür wohl in dem Moment das falsche Wort war, denn die Sonne hatte sich bereits in die Welt weiter westlich verabschiedet. Ich sah mehr ihre Nachwehen. Der Himmel mit seinen ewigen tiefhängenden, dunklen Wolken darin leuchtete schwach und lediglich an wenigen Stellen in diversen Akzenten von Rot. Es schien, als glimme dort oben partiell ein kaum zu beschreibendes Feuer, während darunter die Lichter der Vorstadt in kälteren Tönen leuchteten. Ich blieb auf dem Balkon stehen, bis das Feuer im Firmament erlosch und merkte dabei die Kälte kaum. Es war wirklich ein schönes Schauspiel. 

Was machst Du Sylvester? Ich werde bei meinem Bruder und dessen Familie ins Jahr 2015 (was immer es uns auch bringt) rutschen. Wir haben jeder zwanzig Euro in Feuerwerk investiert, was vor allem die Kleinen sehr freut. Bevor wir allerdings ins Haus meines Bruders verlegen, treffen wir uns zunächst alle bei meinen Eltern. Nichts Aufregendes ist daher zum Jahreswechsel geplant, obgleich es mit meinem Bruder durchaus ein paar Gläser mehr werden können. 

Eigentlich freue ich mich aber immer, wenn Weihnachten und Sylvester vorbei sind, denn dann gilt es, nur noch den Januar hinter sich zu bringen. Im Februar werden die Tage endlich langsam merklich länger. Ich mag diese dunkle Jahreszeit so überhaupt nicht. Sie macht mich immer furchtbar schwermütig. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte diese Phase des Jahres mit Dir zusammen verbringen. Denn zu zweit kommt man da sicherlich leichter durch; nicht wahr? 

So, jetzt geht Liberty Valance zu Ende und ich werde nun den Stift hinlegen und während der Nachrichten um acht Uhr kurz unter die Dusche hüpfen. Um Viertel nach fängt Rio Bravo an und den Film möchte ich in vollen Zügen genießen. Ich denke, dass ich es sicherlich dieses Jahr zumindest noch kurz schaffe, Dir ein paar Zeilen zu schreiben. 


Bis bald und liebe Grüße