Kapitel 31 - Kasper Hauser der Moderne


Tagebucheintrag von Doktor Derya Akgünoglu am Freitag, 30. Januar 2009

Manche Patienten verlassen die Klinik und kaum sind sie aus der Tür, so habe ich sie bereits wieder vergessen. Sie waren vor ihrem Aufenthalt für mich nicht existent und verschwinden nach der Entlassung zurück in mein großes geistiges Nichts, aus dem sie erschienen sind auf der kurzfristigen Bildfläche unserer gemeinsamen Zeit. Es ist, als seien diese Personen in ein Schwarzes Loch gesogen worden. Dass es sich mit bestimmten Personen bei mir so verhält, sagt nicht etwa  Negatives über den jeweiligen Menschen aus. Warum es sich so verhält, kann ich nicht sagen. Es ist, wie es ist. 

Wieder andere Patienten verschwinden nach ihrer Entlassung temporär aus meinem Geist. Sie können tagelang weg sein, manchmal sogar länger, um dann plötzlich, zum Beispiel beim Putzen, wieder vor dem inneren Auge aufzutauchen. Dann frage ich mich plötzlich: Hey, was ist wohl aus Markus Jäger geworden, der so wunderbar Traktoren restaurieren konnte, aber immer wieder von derart schlimmen Depressionen heimgesucht wurde, dass es ihn fast umgebracht hat? Ob er seinen Dämonen entfliehen kann auf Dauer? 

Und dann gibt es da die Kategorie von ehemaligen Patienten, welche mir eigentlich täglich in den Sinn kommen. Über die ich mich recht häufig frage, wie es ihnen wohl seit der Entlassung ergangen sein mag. Zu dieser Kategorie gehört ganz sicher Maya Schiatterella, die an diesem Freitag den Weg zurück ins Leben angetreten ist; in ein Leben, das wohl extra für sie neu erschaffen werden muss. Einen solchen Fall habe ich in meiner Karriere als Ärztin noch nicht gehabt. Sie weiß bis heute nicht, woher sie kommt und welche Person sie einst gewesen ist. In den gut drei Monaten, die Maya in der Klinik weilte, konnte nichts zu ihrer Vergangenheit herausgefunden werden; weder durch Arbeit mit ihr selbst noch von Seiten der Behörden. Die Vergangenheit dieser jungen Frau bleibt ein einziges großes Fragezeichen. Die Sprache lernt sie recht schnell. Sie spricht bereits recht ordentlich Deutsch, allerdings noch nicht so viel, dass sie alleine ein Leben führen könnte. Doch alleine wird Maya nicht bleiben. Rosie, die Tierärztin, die ja bereits vor etwas mehr als zwei Wochen entlassen wurde, nimmt Maya bei sich auf und hilft ihr zunächst durch jenen komplexen wie, so glaube ich, bislang einzigartigen juristischen Prozess, welcher von nun an erforderlich ist, damit Maya eine Bürgerin dieses Landes werden kann. Sie hat einen langen Weg sowohl formell als auch seelisch vor sich, bis sie endlich wieder ein wirklich existierender, individueller Mensch sein kann. Verdammt, wenn ich darüber nachdenke, kriege ich Kopfschmerzen. Nur über ihre berufliche Zukunft braucht Maya sich keine Sorgen machen. Von der Goethe Universität in Frankfurt am Main war ein Professor hier, um sich ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten in Mathematik genauer anzusehen. Diese Fähigkeiten haben den guten Mann fast umgehauen. Nach etwa zwei Stunden Theorie, von welcher ich nur eines verstanden habe, nämlich gar nichts, erklärte uns der Professor, dass Maya sofort, wenn sie die Sprache besser beherrsche, an der Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin beginnen könne. Eine Professur sei ihr sicher. Er sei sich sicher, dass Maya in ihrem alten Leben etwas mit Mathematik gemacht habe. Das glauben wir hier auch alle in der Klinik. Doch warum finden sich darauf keine Hinweise? Auf der ganzen Welt wird keine Mathematikerin oder Studentin der Mathematik vermisst. Wie gesagt, dieser Fall ist so seltsam wie einmalig. Maya erscheint mir manchmal wie ein weiblicher Kasper Hauser der Moderne. Kasper Hauser, der seltsame Findling. Kasper Hauser, der seltsame Kriminalfall. Mein werter Kollege, Oberarzt Hannes Schütz, vermutet ebenfalls eine kriminelle Aktivität hinter dem Fall Maya Schiatterella wie auch manche vermuten, dass hinter Kasper Hauser eine kriminelle Aktivität stecke. Der kleine Kasper soll ja als adeliges Kind gegen ein totes Baby vertauscht worden sein, damit jemand anderes die Erbfolge antreten konnte. Um Erbfolge geht es in Hannes Theorie ganz und gar nicht. Er vermutet jedoch, dass Maya ein ungewolltes, unter dem Radar der Behörden geborenes Baby gewesen sei, welches eine verzweifelte Mutter verkauft habe. Der Käufer wäre ein perverses Genie gewesen, das Maya in einem Keller gefangen gehalten und mit mathematischen Wissen vollgestopft habe, um einen menschlichen Computer zu züchten. Doch eines Tages sei Maya die Flucht gelungen und, um das erlebte Grauen zu überwinden, hätte ihr Geist eine Amnesie aufgebaut zum Selbstschutz. Natürlich ist das auf dem Papier möglich. Jedoch behaupte ich, dass dahingehend die lebhafte Fantasie von Hannes ein wenig davongallopiert ist. Er ist nun mal nicht umsonst einer der größten Fans von Frank Herbert und dessen Büchern über den Wüstenplaneten. Am Ende bleibt jedoch eine große Gemeinsamkeit zwischen Kasper Hauser und Maya Schiatterella. Beide tauchten plötzlich wie aus dem Nichts auf der Bildfläche auf und niemand wusste (weiß), wer sie waren (sind) und wo sie her gekommen sind; Kasper zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Nürnberg und Maya knappe zweihundert Jahre später zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Supermarkt in einer Kleinstadt auf den Höhen des Mittelgebirges. 

Heute morgen verabschiedete Maya sich von mir mit den Worten: -Vielen Dank, Frau Doktor, für alles, was sie getan für mich haben. Ich werde immer denken an Sie-, danach hat sie mich in den Arm genommen und konnte die eine oder andere Träne nicht zurückhalten. Ich blickte ihr nach, wie sie die schützenden Mauern der Klinik verließ und sich auf den Weg in das brutale Leben dort draußen machte. Maya stieg in den roten Golf, hinter dessen Steuer Rosie saß. Erst als der Wagen gänzlich aus meinem Blickfeld verschwunden war, kehrte ich ins Krankenhaus zurück. 

Ach ja, die Sache mit den Kosten für Mayas Aufenthalt sind auch geklärt. Nach einem schier endlosen und nervenzerreißenden Ping Pong-Spiel mit Behörden und Krankenkassen hat sich endlich eine Stiftung für in Not geratene Menschen dazu bereiterklärt, die Rechnungen zu übernehmen. Aus deren Zentrale in Bielefeld kam gestern dafür ein Prokurist in die Klinik, um die Einzelheiten mit der kaufmännischen Leitung zu klären. Der Kerl hat mich irgendwie an Wulf Marquard erinnert, mit dem ich zusammen in der Oberstufe gewesen bin. Ja, der Wulf. Der war echt ziemlich süß und vielleicht hätte es mit uns eine kleine Romanze gegeben. Von meiner Seite war da schon Interesse da und den ein oder anderen Wink mit dem Zaunpfahl habe ich ihm schon gegeben, aber entweder hat er es nicht kapiert oder er wollte nicht oder hat sich nicht getraut. Schade. Im Internet findet man jedenfalls so gut wie nichts über ihn. Ich frage mich oft, was er wohl macht. 

Auch über Maya werde ich mich in Zukunft sicherlich oft fragen, wie es ihr wohl ergehen mag. Sie gehört eindeutig in die dritte Kategorie von Patienten, welche ich zu Beginn dieses Eintrages bereits erwähnte. Bis die Justiz Maya zu einer vollwertigen Bürgerin dieses Landes gemacht hat, ist sie freiwillig bei der Barmer krankenversichert. Die knapp hundert Euro dafür pro Monat zahlt Rosie. Ich wünsche dir von ganzem Herzen alles nur erdenklich Gute und wüsste nur zu gerne, was in deinem bisherigen Leben geschehen ist.