Kapitel 28 - Die Hälfte des Weges




Aus Science & Economy, Weihnachten 2059, per Abo-Flash

Halbzeit für Bligh 2039

Damit eines von vornherein klar ist; dieser Artikel ist ein Artikel des Konjunktivs, der Möglichkeiten, so dass strenggenommen hier Wörter wie könnte, hätte, wäre regieren müssten. Die Erfahrung hat jedoch ergeben, dass Leser und Lauscher es bevorzugen, wenn dieses grammatikalische Instrument nicht benutzt wird. Der Text geht einem einfacher durch das Gehirn, ganz gleich, ob er nun über Augen oder Ohren aufgenommen wurde. Und, so sagen sie, er klinge positiver, verbindlicher, optimistischer. Daher versuchen wir im Rahmen dieses Artikels des oben geschilderten Problems zum Trotz den Konjunktiv weitestgehend zu vermeiden.

Die Miniaturraumsonde Bligh 2039 hat die Hälfte ihres über zehn Lichtjahre weiten Weges hin zum Sternensystem Singer hinter sich gebracht. Vor 20 Jahren zur Weihnachtszeit war das Gefährt, welches von einem Segel gezogen wird, durch einen extrem gebündelten Laserstrahl auf gut 25 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt worden. Seither befindet sich das Schiff auf seiner Reise durch den interstellaren Raum. Grund für den Aufbruch war die Tatsache, dass Mitte der 2020er-Jahre der Beweis für biologische Aktivitäten auf dem zweiten Planeten des dortigen Sonnensystems durch eine Atmosphärenanalyse erbracht wurde. Seither wissen wir, dass Leben außerhalb der Erde existiert, nur wissen wir leider überhaupt nicht, wie dieses aussieht. Abhilfe wird in dreißig Jahren Bligh 2039 schaffen, wenn sie Singer C2 erreicht und die ersten Fotos einer Welt außerhalb unseres Sonnensystems liefert, wobei die eigentliche Reise lediglich zwanzig weitere Jahre andauert, das Funksignal zurück zur Erde jedoch nochmals über zehn.

Die winzige Sonde Bligh 2039 ist das Herzstück des privaten Raumfahrtprogramms Project Starshot 25 der Asimov-Gruppe. Deren Chefin sprach in Anbetracht des Ereignisses auf einer Tagung der weltweit führenden Astronomen in Sydney, zu welcher sich die 57-Jährige per Hologrammblase zuschalten ließ. Sie trat dabei voller Euphorie auf und der Kern ihrer Aussage war: Bligh 2039 wird die Passage schon rocken! Gut, das muss der Betrachter anerkennen, sah sie dabei aus. Eine fröhliche, intelligente, lustige Frau, die in Würde altert und sich erst gar nicht die Mühe macht, das zunehmende Grau in ihren schwarzen Haaren hinfort zu färben. Make Up benutzt Iulia Asimov lediglich in sanften Ansätzen. Und so berichtete sie mit luftig leichter Stimme von den Ufern neuer Kontinente für die Menschheit, der Beitrag dieser Reise für den globalen Frieden und die zukünftige Nachfolge ihrer Person an der Spitze des Unternehmens durch ihre Zwillinge. Ihre Euphorie wirkte über den schlichten Hörsaal im Südosten Australiens hinaus. Kaum einer zweifelt, dass Bligh 2039 sein Ziel nicht erreichen wird.

Doch das ist keinesfalls in Stein gemeißelt. Tatsächlich kann aktuell niemand mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob die kleine Sonde samt Segel noch existiert und sich auf der Reise befindet. Der Grund dafür ist, dass die kommandierende KI Bligh 2039 erst am Zielort zum digitalen Leben erwecken will. Das wiederum basiert auf der Winzigkeit des Sternenschiffs und der damit verfügbaren Energie. Diese reicht lediglich zum rudimentären Betrieb der KI, für sieben bis zehn Fotografien von Singer C2 sowie deren Rücksendung per Signal zur Erde. Keine Watt darf daher zuvor verschwendet werden. Deshalb befindet sich die Sonde während der gesamten Reise größtenteils im tiefsten Winterschlaf und kann keine Zwischenmeldungen zum Status machen. Es ist sowohl möglich, dass Bligh 2039 sich ohne Probleme ihrem Ziel nährt, als auch, dass irgendein Fremdobjekt im interstellaren Raum sie bereits durch eine Kollision in tausend Stücke zerlegt hat, wenn der KI das Ausweichmanöver misslingt. Die endgültige Wahrheit werden wir erst in etwa dreißig Jahren erfahren. Bis dahin regieren Vermutungen und abstrakte Wahrscheinlichkeiten, die typischen Fälle von hätte, wäre, wenn eigentlich. Und die wollen wir ja unbedingt vermeiden.