Kapitel 26 - Mathematik

 



Tagebucheintrag von Doktor Derya Akgünoglu, Mittwoch, 19. November 2008 nach der Spätschicht.

Wir befinden uns nun in der Zeit, an denen die Tage immer kürzer werden und die Dunkelheit mehr und mehr das Zepter des Regierens in die Hand nimmt. Erst im Laufe des Februars wird sich daran etwas ändern. Die Tageslänge beträgt etwa acht Stunden, aber gefühlt kommt sie einem Menschen wie mir, welcher den Frühling und den Sommer liebt, gleich zwei vor. Pausenlos ist es nun dunkel! Mich überkommt ab dem späten Herbst stets ein Gefühl von Schwermut, Einsamkeit und Verlorenheit und ich bedauere es während dieser Jahresphase zutiefst, dass ich als Single alleine lebe. Schon jetzt kann ich die Zeit ab dem 14. Februar, wenn mein Vater Geburtstag hat, kaum erwarten. Doch bis dahin heißt es: Augen zu und durch! Ein langer Weg liegt vor mir; ein langer dunkler Weg, der von den eiskalten, finsteren Objekten des Kuiper-Gürtels zurück zur warmen, hellen Erde führt.

Maya befindet sich nun seit über einer Woche auf der geschlossenen Station der Nervenklinik. Sie ist wirklich der außergewöhnlichste Fall, welchen ich in den sechs Jahren, die ich nun am Krankenhaus in Bauerstedt tätig bin, gesehen habe. Das Gute ist, dass Maya langsam anfängt, Beziehungen aufzubauen zu anderen Menschen. In dem Fall sind das ich und die Tierärztin Rosemarie Wendt, welche die Sucht nach Barbituraten, zu denen sie als Veterinärin leichten Zugang hat, nicht nur in die soziale Isolation, sondern auch in eine schwere Depression getrieben hat. Im September rief sie eine Notfallhotline an, weil sie kurz davor stand, sich mit einem Mittel, mit dem normalerweise Haustiere eingeschläfert werden, aus dem Leben zu schießen. Seither befindet sich Rosie, wie sie von den anderen Patienten genannt wird, auf der geschlossenen Station. Obgleich die sprachliche Barriere die beiden Frauen voneinander trennt, besitzen sie jedoch, was unübersehbar ist, eine deutliche Verbindung zueinander. Nach Rücksprache mit den Ärzten, weil Rosie sich stark gefestigt hat und Maya nicht gefährdet erscheint, sich selbst etwas anzutun, darf das Duo die geschlossene Station verlassen und sich auch außerhalb des Klinikgebäudes aufhalten. Rosie sagte mir, dass Maya sie auf ihren Spaziergängen durch die engere Umgebung und den nahen Wald zu allem frage, was das passende Wort dafür sei. So zeige sie auf Bäume, Autos, Straßenlaternen, die Wolken im Himmel etc und sage dabei stets - Das? -, worauf Rosie ihr dann das jeweilige Wort auf Deutsch und Englisch nennt. Rosie hat mir weiterhin berichtet, dass der Umgang mit Maya ihr enorm weiterhelfe auf dem Weg, sich besser zu fühlen. Vielleicht sieht die Veterinärin, die selbst die Fünfzig längst passiert hat, in der jüngeren Frau so etwas wie die Tochter, die sie nie gehabt hat. Einmal saßen die beiden zusammen im Raucherraum der geschlossenen Station, von wo es man so einen wundervollen Ausblick auf den Wald und die Berge des Mittelgebirges hat. In diesem Raum gibt es neben einer alten Stereoanlage, die ein Patient vor vielen Jahren gespendet hat, auch unheimlich viele Zeitungen und Bücher, welche dort allesamt im Laufe der Zeit gestrandet und verblieben sind. So hockten sie also auf dem nikotingelben Sofa nebeneinander und blätterten in einem Guinness Buch der Rekorde von 1987. Während Rosie eine von den vierzig Selbstgedrehten pro Tag qualmte, fragte Maya sie, was auf den jeweiligen Fotografien zu sehen sei. Weiterhin hat Rosie für Mayas Zimmer ein Radio organisiert. Ihr Sohn hat es hierhergebracht. Nun hört Maya häufig den Sender für klassische Musik und blättert dabei in den Bildbänden, die sie aus dem Raucherraum oder dem Bücherschrank im Foyer der Klinik dorthin mitnimmt. Auch Kleidung hat Rosies Sohn für Maya herangebracht.

Wenn ich zu Maya aufs Zimmer komme, um nach ihr zu sehen, fragt auch sie mich, wie man denn die Gegenstände nennt, die in all den Bildbänden zu sehen sind. Das Spektrum reicht übrigens von Tierbüchern bis hin zu Werken über die Planeten unseres Sonnensystems. Maya macht mit dem Sprechen permanent Fortschritte. Wenn sie aktuell etwas wissen möchte, zeigt sie auf das jeweilige Foto oder den Gegenstand und fragt: - Was ist das? - Auch ihr Alter konnte ich herausbekommen. Dafür habe ich zunächst auf mich gezeigt und mitgeteilt: - Ich bin fünfunddreißig Jahre alt. Fünfunddreißig -, bevor ich die Zahl auf ein Blatt Papier brachte und dabei erneut auf meinen Körper wies. Zahlen kennt Maya. Oh ja, das tut sie! Sie schrieb umgehend die Zahl 27 neben die meinige und deutete dabei auf sich mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. In meinem Grundstudium Medizin und meiner Schulzeit kam ich nun auch mit Mathematik in Kontakt. Obgleich Mathe noch nie meine Paradedisziplin war, schaffe ich es auch heute noch, einfache Formeln nach X oder Y oder R und so weiter aufzulösen. Ich schrieb aus einem plötzlichen Einfall heraus auf das Papier A = h × b und deutete auf das h. Rasend schnell stellte Maya die Formel richtig auf A : b = h um. Dafür brauchte sie keine zwei Sekunden zu überlegen. Ich nahm nun eine etwas schwerere Formel, an die ich mich noch entsinnen konnte, und schrieb diese auf das Papier. Aufzulösen galt es nun nach Y. Erneut brauchte Maya nur wenige Augenblicke, um zum richtigen Ergebnis zu gelangen. Ich konnte mich noch gut an eine Aufgabe zum Logarithmus erinnern, die mir in der elften Klasse in einer Klausur untergekommen war. Ich hatte damals die Befürchtung gehabt, dass ich diese Aufgabe und die ganze Klausur versaubeutelt hatte, aber sie war richtig und der Test bestanden gewesen. Wahrscheinlich werde ich deshalb diese Aufgabe niemals in meinem Leben vergessen und schrieb sie nun auf das Blatt zwischen uns auf dem Tisch in Mayas Krankenzimmer. Die junge Frau brauchte keine Minute, um die Aufgabe sicher und korrekt zu lösen. Nachdem Maya den Bleistift abgelegt hatte, freute sie sich wie ein Kleinkind, was man an ihrem Gesicht unschwer übersehen konnte. Als ich nach dieser Schicht zur später Stunde wieder nach Hause kam, suchte ich im Keller in einer Umzugskiste nach einem bestimmten Buch, welches sich an Schüler mit Mathematik-LK und Studierende der Naturwissenschaften richtet, und fand es tatsächlich. Es gelangte übrigens im Verlauf des Grundstudiums in meinen Besitz. Diese Lektüre nahm ich am nächsten Tag mit ins Krankenhaus. Maya sollte mich nicht enttäuschen. Nein, das tat sie nicht, sondern ließ im Gegenteil meinen Mund vor Staunen offen stehen. Von Aufgaben, die ein Eleve mit Schwerpunkt Mathematik in den Abiturprüfungen lösen muss, bis dahin, womit die angehende Physikerin zum Ende ihres Grundstudiums (okay, heute gibt es dort ja nur noch Bachelor und Master) konfrontiert wird; Maya löste alles im Rekordtempo. Dabei hatte sie einen solchen Spaß, dass ich ihr das Buch, das Geodreieck, den Zirkel und das Millimeterpapier schenkte, worauf sie mit ihrem Akzent - Danke sehr, Frau Doktor - antwortete.

Ich kann mir nun beim besten Willen nicht mehr vorstellen, dass das, woran Maya leidet, tatsächlich Amnesie ist. Ich habe recherchiert und keinen Fall entdeckt, wo ein Mensch mit einer Amnesie derartige Höchstleistungen in Mathematik erbringt. Ich weiß beim besten Willen nicht, was mit dieser Frau passiert ist und an welcher Krankheit sie leidet. Merkwürdig ist auch, dass die Polizei noch immer keinen Hinweis darauf hat, wer Maya genau sein könnte. Die Kripo arbeitet mit sämtlichen Dienststellen innerhalb der EU und von einem großen Teil der Welt zusammen, aber nirgendwo wird diese Frau vermisst oder als Verbrecherin gesucht. Kein Siliziumchip kennt ihr Gesicht. Ihren Nachnamen wissen wir mittlerweile auch, da ich ihn mit der gleichen Art wie den Vornamen herausbekommen habe. Maya Schiatterella lautet ihr voller Name.  Natürlich hat die Polizei damit gearbeitet, aber dabei kam dann nichts heraus. Die zwei Maya Schiatterellas, die man ermitteln konnte, leben in Argentinien und Italien und erfreuen sich dort bester Gesundheit. Auch der kaufmännischer Direktor der Klinik hat diese Infos oder vielmehr diese nicht Infos vernommen. Weil dem so ist, fängt er langsam an, darüber Bauchschmerzen zu bekommen, wer denn die Kosten von Mayas Klinikaufenthalt endlich begleicht. Denn, so viel ist klar, bislang konnte selbstverständlich weder eine private noch eine gesetzliche Krankenkasse ermittelt werden, bei der unsere Maya Schiatterella Mitglied ist. Aber der Oberarzt, ich und die Sozialarbeiterin sind bereits dabei, hier eine Lösung zu erarbeiten. Fest steht, dass Maya in diesem Zustand und dieser Situation noch längst nicht entlassen werden darf. Ihr Fall bleibt also weiterhin spannend, mysteriös und auch ziemlich traurig.

So, und nun werde ich das Schreiben für heute beenden. Es geht langsam auf zwei Uhr zu und die Müdigkeit hält Einzug. Das Bett und ein leise spielendes Hörbuch, welches mich auf dem Weg ins Reich der Träume begleitet, rufen nach mir.