Kapitel 24 - Maya




Tagebucheintrag von Doktor Derya Akgünoglu am Freitag, den 14. November 2008, um 07:30 Uhr morgens

Eine Patientin sagte mir gestern zu Beginn meiner Nachtschicht: - Frau Doktor, wissen Sie den genauen Zeitpunkt, wann im Herbst die Bäume plötzlich keine Blätter mehr tragen oder wann sie im Frühling ergrünen? - Darauf konnte ich leider aus dem Stehgreif keine Antwort geben. Doch auch später, als ich genauer darüber nachdachte, fiel mir dazu nichts Exaktes ein. Für mich ist es so, dass es von einem auf den anderen Tag entweder grün oder kahl ist, ohne dass ich den Zeitpunkt näher benennen kann. Aber sehr interessant war diese Frage dennoch.

Noch immer nicht genauer benennen kann ich auch jenes, welches der Patientin, die wohl um die dreißig Jahre alt sein mag, widerfuhr, die Dienstag am späten Abend in die Klinik Bauerstedt eingeliefert wurde. Ich schrieb ja bereits darüber, dass sie unter einer starken Erkältung litt, hohes Fieber hatte und zudem nicht ansprechbar war. Sie weinte nur. Schmutz klebte überall in ihren Haaren, dem Gesicht und an dem weißen Anzug, der mich an die Requisite aus einem Science-Fiction-Film erinnerte. Sanft badete Schwester Martina sie, was sie ohne Widerstand über sich ergehen ließ, und nach Erteilung meiner Erlaubnis fuhr Pfleger Jan kurz nach Hause, um von seiner Freundin, die in etwa die gleiche schlanke Statur wie Patientin X besitzt, einen Trainingsanzug zu besorgen. Wir von der Belegschaft waren alle der Meinung, dass wir sie nicht in irgendein weißes Krankenhaushemd stecken konnten. Als Frau X, wie wir sie getauft hatten, weil bei ihr keinerlei Dokumente gefunden worden waren, frisch gebadet war, in dem grauen, nach Weichspüler riechenden Trainingsanzug steckte und zudem die Arzneimittel gegen das Stimmungstief, Fieber und Schmerzen Wirkung zeigten, entspannte sich zum ersten Mal ein wenig der Ausdruck auf ihrem zarten, hübschen Gesicht unter den blonden Haaren. In der Zwischenzeit hatten wir einen Teller heiße Gemüsesuppe und zwei Brötchen mit Käse zur späten Stunde organisiert, welche Frau X rasch verzehrte, um danach umgehend in ihrem Zimmer im Beobachtungsbereich der geschlossenen Abteilung der Nervenklinik einzuschlafen. Als ich die Nacht darauf zum Dienst erschien, waren die körperlichen Untersuchungen an X zum größten Teil bereits abgeschlossen. Zu meiner Erleichterung war sie nicht das Opfer schwerer sexueller Gewalt geworden, was ich zunächst befürchtet hatte. Nachdem ich die Ergebnisse der besagten Untersuchung gelesen hatte, trat ich in ihr Zimmer. Sie stand dort im Dunkeln und starrte hinaus in den finsteren Wald jenseits des Fensters, der  direkt an das Krankenhausgebäude grenzt. Erst als ich leise und sanft - Hallo - sagte, drehte sie sich zu mir hin und ich meinte gar in dem wenigen Licht, welches durch die offene Zimmertür in den Raum hineinfiel, einen kurzen Anflug von Lächeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Ich zeigte mit dem Finger auf meine Brust und sagte mehrmals meinen Vornamen. Plötzlich tat X dasselbe bei sich und es kam - Maya - über ihre Lippen und diesmal lächelte sie kurz, aber zweifelsohne. Nun kennen wir immerhin ihren Namen, Maya. Aber mehr als in Zeichensprache kann man mit ihr nicht kommunizieren. Das Personal und die Patienten, welche in der Summe schon aus aller Herren Länder stammen oder diverse Fremdsprachen beherrschen, haben Maya auf Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Russisch, Polnisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Chinesisch, Serbokratisch und sogar auf Norwegisch angesprochen. Sie scheint keine Sprache davon auch nur annähernd zu verstehen. Natürlich haben meine Kollegen und ich eine erste Diagnose erstellt. Wir denken, dass Maya an einer Amnesie leidet, die einen großen Teil ihrer Vergangenheit einfach ausgelöscht hat. Wie es dazu gekommen ist, darüber kann lediglich spekuliert werden. Nach den ersten Untersuchungen ist dieses nicht auf einen Unfall zurückzuführen, denn bis auf die Unterkühlung ist sie körperlich in einem guten Zustand. Ihr Schädel zeigt keinerlei äußere Verletzungen und auch die Gehirnströme weisen nicht auf irgendwelche inneren Schädigungen hin. Also muss dieser Zustand wahrscheinlich auf einem traumatisierenden Erlebnis basieren. Ich habe da die Meinung, dass Maya Zeuge von einem schrecklichen Ereignis wurde. Sie sah ein furchtbares Gewaltverbrechen und lief weg von dort, wo es geschah. Sie irrte durch die Gegend in der Kälte, nächtigte im Freien, was den Schmutz an Kleidung und im Gesicht sowie die starke Erkältung erklärt, und musste endlich Lebensmittel stehlen, weil sie schlicht und einfach hungrig war. Allerdings, ich habe bereits sehr viele Stunden am PC im Internet verbracht, steht bis jetzt nichts davon in all den Medien, dass sich hier im Umkreis ein furchtbares Verbrechen ereignet hat. Doch, wer weiß, vielleicht ist das Verbrechen bislang einfach noch nicht entdeckt oder es existiert gar keines, so dass der Gedächtnisverlust bei Maya gänzlich andere Ursachen aufweist. Die Polizei ermittelt selbstverständlich in dieser Sache und steht dabei mit der Klinik in einem engeren Kontakt. Vielleicht bringt sie ja Licht ins Dunkel. In jeder Hinsicht ist der Fall Maya mysteriös und er wird noch mysteriöser wenn man sich den Anzug anschaut, den sie bei der Einlieferung trug. Als ich ihn kurz in der Hand hielt, fühlte es sich an, als bestünde er aus Metall. Er lässt sich aber wie Stoff falten. Und in ihm scheinen Drähte eingearbeitet zu sein. So was habe ich noch nie gesehen. Vielleicht ist Maya ja Mitglied in irgendeinem Star Trek-Fan Club und war auf einem Treffen. Von einem guten Freund, der mit seiner Frau ein leidenschaftlicher Fan der Serie ist, weiß ich, dass die auf ihren Trek-Treffen sehr ausgeflippt herumlaufen. Eventuell sollte ich die Sache mit dem Anzug mal der Polizei mitteilen. Das ist, glaube ich, bislang noch nicht geschehen.

Und nun werde ich mit dem Schreiben für heute Schluss machen. Ich bin müde und wollte beim wohlverdienten Feierabendbier noch ein wenig Ally McBeal per DVD schauen, bevor ich mich gleich ablege. Heute steht die letzte Nachtschicht dieser Woche an und es interessiert mich brennend, wie es Maya diesen Abend geht.