Kapitel 8 - Die Tochter (Roter Stern)




Tagebuch von Iulia Asimov, Mittwoch, 13. November 2030

Jetzt hat es auch die Welt erfahren, dass mein Vater bald sterben wird. Dass der Krebs in ihm unaufhaltsam weiterfrisst und spätestens zum Sommer 2031 das Leben in ihm verzehrt hat. Keine sechzig wird er werden. Gut, ich weiß es bereits seit diesem Frühjahr, doch es zu glauben, es als Realität anzusehen, fällt mir schwer. Manchmal ist es mir nur zu stark bewusst, was immer dann geschieht, wenn die Gewissheit dessen, was die logische ärztliche Diagnose unwiderlegbar und voller Brutalität erklärt, in meinem Geiste zirkuliert. Doch diese Momente sind seltene Ausnahmen. Zumeist verdränge ich mit der kindlichen Fantasie, dass Mütter und Väter schlicht und einfach nicht aus dieser Welt hinaus gehen können, da sie unsterblich sind. Wenn der Nachwuchs selbst alt und grau ist, dann werden sich die Eltern noch immer vor dem Einschlafen über diesen beugen, voller Liebe in den wunderschönen, ewig jungen Gesichtern. In diesen so normalen wie ursprünglichen Gedankengängen bin ich seit der herzlosen Diagnose im Frühjahr viel gewandelt, bis eben jene diese Gänge voller destruktiver Gewalt wieder eingerissen hat und immer wieder aufs Neue einreißt. Mama, so sagte sie mir, ergehe es da ähnlich. Sie sehe meinen Vater in den letzten Monaten immer als den jungen Mann, mit dem sie um die Jahrtausendwende am Strand der Bretagne glückliche Stunden zu Beginn einer großen Liebe verbracht habe. Selten, ich gebe es zu, reden wir zwei derartig offen über unsere Gefühle und das nahende Ende. Zumeist herrscht das Verdrängen vor und die stille Hoffnung auf das große (medizinische) Wunder der plötzlichen Heilung aus dem Nichts.

Es tut zudem weh, zu wissen, dass Papa seinen Lebenstraum, die Reise hin zu Singer C2, nicht erleben wird. Papa macht zwar hier auf den harten Kerl, aber, das weiß ich ganz sicher, in der Einsamkeit seines Chefbüros vergießt er bittere Tränen über dieses Faktum. Auch die Nachfolgefrage über seinen Posten an der Spitze der Asimov-Gruppe frisst in ihm gnadenlos mit dem Krebs um die Wette. Das fußt auch darauf, dass er Mama und mich mit der Sturheit eines Esels von dieser Sache fernhält. Weil Mama stark stottert und sehr darunter leidet, hat er sich immer vor sie gestellt und sie somit vor den neugierigen Mikrofonen der Regenbogenpresse bewahrt. Er würde lieber auf seine Schmerztabletten verzichten, als Mama um die Nachfolge zu bitten. Und ich bin natürlich - ganz ein guter, sorgenvoller Papa - noch immer das kleine Mädchen, welches man vor dem Tun, ein großes Unternehmen durch die Welt des Kapitalismus zu führen, bewahren muss. Solche Aufgaben fänden in einem Haifischbecken statt und von Haifischbecken halte man jene Menschen, welche man liebe, fern, so sagt Vater stets. Ich erinnere mich noch gut an seine Worte im Rahmen eines Gespräches vor drei Jahren.

>>Ich habe mich doch nicht all die Jahre an 365 Tagen im Jahr durch Sechzehnstundentage geboxt, damit meine Tochter dasselbe machen muss. Du bist klug, du bist lyrisch, du bist musikalisch. Ich will, dass deine Mutter und du ein Leben ohne jede Sorgen lebt. Dafür habe ich mich über all die Jahre krumm gemacht und mich mit diesen hinterlistigen Profilneurotikern herumgeschlagen, welchen man an der Spitze des hohen Unternehmertum so über den Weg läuft. Werde Professorin für Sprachwissenschaft oder gründe eine Stiftung, damit alle Menschen auf der Welt etwas zu essen bekommen. Dann hast du eine wahrlich erfüllende Tätigkeit und ansonsten lebst du bitte gut von unserem Geld und suchst dir einen Mann, der genau so intellektuell und lieb ist wie du, mit dem du dieses Leben gemeinsam genießt.<<

Ja, Papa hat recht. Papa ist eine Ausnahmeerscheinung in dem besagten Haifischbecken und ich verspüre tatsächlich wenig Verlangen danach, mich mit linkischen Profilneurotikerinnen und Profilneurotikern zu umgeben. Doch so einfach, wie Papa mir den Zustand dieser Welt erklärt, ist es nicht. Gestern sagte er via Social Media-Stream, dass das Project Starshot erst fortgesetzt werde, wenn die Nachfolge an der Spitze der Asimov-Gruppe geklärt sei. Papa tut sich so schwer mit dieser Suche, weil er fast jedem Menschen von außerhalb misstraut und jenen Absolventen der wirtschaftlichen Eliteuniversitäten erst recht, die sich jetzt reihenweise auf die bald vakante Position seinerselbst bewerben werden. Doch erst, wenn er diese Nachfolge für ihn beruhigend geregelt hat, kann er in Frieden diese Welt verlassen. Dass dieses geschieht, muss für mich als Tochter im Moment die allerhöchste Priorität haben. Daher werde ich etwas tun, was ich eigentlich gar nicht tun will, aber mein Willen zählt nun nicht, denn Papa hat sich sein Leben lang für nur zwei Menschen krumm gemacht; für Mama und mich, sein einziges Kind und goldenes Mädchen. Das Unangenehme beginnt gleich morgen für mich, wenn ich meinem schwerkranken Vater die imaginäre Pistole auf die imaginäre Brust setze.