Kapitel 6 - Das Geschenk



Schreiben von Robin Trautmann an Carsten Arndt, Freitag, der 15. Juni 1990, per Fax





Hallo Carsten, 

vielen Dank für Dein nettes Fax vom Mittwoch und Entschuldigung, dass ich erst jetzt antworte. Ich habe, wie sollte es im Moment auch anders sein, nach meiner Arbeit im Antiquariat mich direkt vor den Fernseher geklemmt und von 17:00 bis 23:00 Uhr die WM geschaut. Und weil ich unter der Woche früh raus muss, komme ich erst jetzt dazu, Dir zu schreiben. Denn am morgigen Samstag habe ich frei, weil Praktikanten an solchen Tagen nicht arbeiten müssen.

Fußball habe ich natürlich auch bis ebengerade geschaut. Deutschland hat die Vereinigte Arabische Emirate mit 5:1  geschlagen. Das war eindeutig mehr als ein Arbeitssieg und nach dem genialen 4:1 im ersten Spiel gegen Jugoslawien glaube ich langsam auch, dass unsere Elf bei diesem Turnier weit kommen kann, obwohl ich natürlich nicht Deinen Optimismus habe. Du hast ja von Anfang an gesagt, dass Deutschland Weltmeister wird. 

Ich finde es echt spannend, dass die Tänzerin sich bei Dir gemeldet und Dir direkt einen Brief über vier Seiten geschrieben hat. Nur etwas schade, dass sie in München lebt und studiert, denn zwischen Aachen und München liegen nun leider ein paar Kilometer. Da kann man nicht einfach mal so auf einen Kaffee vorbeischauen. Das Mädel scheint aber echt cool zu sein. Sie verdient sich ihr Geld für das Studium, indem sie in den Ferien als Animateurin arbeitet. Andere Studenten lassen sich alles von Papa und Mama finanzieren. Echt Respekt davor. Dass sie fünf Jahre älter ist als Du, darüber würde ich mir an Deiner Stelle jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Du bist siebzehn und sie zweiundzwanzig. Fünf Jahre sind nicht die Welt und in zehn Jahren noch weniger. Und meine Oma sagt immer: Wo die Liebe hinfällt. Ich drücke Dir in jedem Fall die Daumen, dass es gut mit Clarissa weitergeht und ihr euch in nächster Zeit treffen könnt. 

Mein Praktikum läuft richtig gut, danke der Nachfrage. Ich habe da sogar schon Verantwortung übertragen bekommen. Mein Chef, Herr Pauli, hat letztens zwei Bananenkisten voller alter Bücher ersteigert. Die stammen aus dem Nachlass von einem alten Mann, der hier in Bielefeld wohl sehr bekannt gewesen ist. Der Sohn von diesem alten Mann hat die Bücher versteigern lassen und das Geld, was er dafür bekommt, wird für einen guten Zweck gespendet oder so. Jedenfalls hat Herr Pauli mir aufgetragen, dass ich aussortieren soll, welche Bücher wir im Antiquariat behalten und verkaufen und welche Bücher wegkommen. Natürlich hat der Chef das am Ende noch kontrolliert, aber im Großen und Ganzen war er echt zufrieden mit meiner Arbeit. Ein Buch habe ich aussortiert, weil es vollkommen abgedreht ist. Es ist in einer Sprache, die keiner kennt. Jedenfalls kein normaler Mensch. Herr Pauli hat keine Ahnung und auch meine Mutter und mein Vater kennen sie nicht und meine Mutter hat immerhin Germanistik und Alte Sprachen studiert. Mein Vater sagt, dass die Zeichen, die in dem Buch drin sind, vielleicht etwas mit Mathematik zu tun haben. Jedenfalls hat mein Chef mir das Buch geschenkt und gesagt, dass er mir hundert Mark in die Hand drückt, wenn ich herausbekomme, was das für ein abgefahrener Driss ist. Das werde ich auch versuchen. Mein Vater und meine Mutter haben das Haus hier von einer Frau gekauft, die an der Uni Bielefeld Japanisch unterrichtet. Der werde ich das mal zeigen. Vielleicht ist das irgendeine Sprache aus dem Fernen Osten und die kennt die. Dir zeige ich das auch. Vielleicht hat es ja was mit Musik zu tun und es sind irgendwelche Noten oder so. Ich habe einfach eine Seite aus dem Buch kopiert, ausgeschnitten und packe das ins Fax mit hinein. Das Buch behalte ich in jedem Fall. Eventuell ist es was wert. Uralt ist es definitiv. 

Jetzt werde ich langsam ins Bett gehen. Die Uhr zeigt schon weit nach Mitternacht. Ist das nicht geil; morgen können wir ausschlafen und dann am Abend kommt es in Cagliari zum ersten richtigen Topspiel der WM. England spielt gegen Holland. Ich glaube, dass wird morgen ein richtig genialer Tag. 

Ich freue mich auf Deine Antwort. 

Viele Grüße und hinter meinen Zeilen findest Du die Kopie aus dem seltsamen Buch. 

Robin