Kapitel 18 - Im Finale



Brief von Robin Trautmann an Carsten Arndt, Empfängeradresse in Newcastle upon  Tyne / Vereintes Königreich, Donnerstag, 5. Juli 1990

Hallo Carsten, 

ja, wir sind im Finale! Wir haben es geschafft und fahren weiter nach Rom ins Olympiastadion! Und das Beste ist, dort warten die Argentinier und nicht die Italiener. Die Argentinier sind die deutlich einfachere Aufgabe und außerdem werden die italienischen Zuschauer jetzt, wo ihre Mannschaft im Halbfinale die Segel streichen musste, ganz eindeutig auf unserer Seite stehen. Und sie hassen, solange sie es nicht mit dem SSC Neapel halten, Maradona, was noch obendrauf kommt. Außerdem ist mit Claudio Caniggia einer ihrer besten Spieler gesperrt. Aber vielleicht sollte ich mal meine Aufregung etwas herunterfahren und der Reihe nach gehen, beziehungsweise schreiben. Machen wir es, wie mein Geschichtslehrer sagen würde, chronologisch. Mensch, was waren die beiden Halbfinals für geile Spiele! Übrigens; wenn die Schrift an der einen oder anderen Stelle etwas kritzelig wirkt, dann liegt das daran, dass ich diesen Brief im Flugzeug schreibe. Meine Familie befindet sich nämlich auf dem Weg in den Sommerurlaub auf Lanzarote. 

Am Dienstagabend fand also Partie Nummer 1 im Stadion San Paolo in Neapel statt; Italien gegen Argentinien. Für mich und eigentlich für alle anderen auch waren die Italiener klarer Favorit und als die dann noch nach gut einer Viertelstunde durch Schillaci (durch wen auch sonst) in Führung gegangen sind, habe ich mir gedacht, dass die Messe gelesen ist. Dass die Argentinier eine richtige Packung bekommen und weggeputzt werden. Doch nach dem Gegentor wurden die Argentinier immer besser und besser. Sie machten, so sehe ich das, ihr bestes Spiel bei dieser Weltmeisterschaft. Das 1:1 nach gut einer Stunde durch Caniggia war da nur die logische Folge, auch wenn Walter Zenga bei seinem ersten Gegentor im Laufe dieser Weltmeisterschaft wirklich alles andere als gut aussah. Es ging in die Verlängerung und da war mir irgendwie schon klar, dass die Italiener es nicht packen, dass sie dem Druck als Favorit und Gastgeber nicht würden länger standhalten können. Ich habe das Spiel mit meinen Eltern und einem guten Freund der Familie, Andreas (ich habe Dir ja von ihm zuvor berichtet) im Wohnzimmer geschaut. Weil es nach Abpfiff der neunzig Minuten draußen an diesen längsten Tagen des Jahres noch hell genug war, bin ich zusammen mit Andreas kurz auf die große Wiese in den Garten gegangen, um ein paar Bälle auf das Holztor zu jagen, welches ich im Frühjahr zusammengezimmert hatte. Da habe ich gesagt, dass Italien das Halbfinale im Elfmeterschießen verlieren wird. Und so ist es dann auch tatsächlich gekommen. Sergio Goycochea erwies sich wie schon im Viertelfinale gegen Jugoslawien als Elfmeterkiller, wohingegen Walter Zenga keinen einzigen Elfer halten konnte. Am Ende taten mir, obwohl ich die Argentinier, wie gesagt, als Endspielgegner bevorzuge, die Italiener dann aber ziemlich leid. Und diese eine junge Frau im azurfarbenen Trikot, die eine der Fernsehkameras im Stadion beim Weinen gezeigt hat, Mann, hast Du die gesehen! Die sah wirklich verdammt gut aus. Die hätte ich in dem Moment gerne getröstet. Okay, das war also das erste Halbfinale gewesen. 

Das zweite Halbfinale habe ich dann nicht mehr in Bielefeld geschaut, sondern bei meinem Onkel mütterlicherseits und dessen Familie im Westerwald. Dort haben wir eine Zwischenstation gemacht, bevor wir heute morgen in aller Früh weitergezogen sind in Richtung Frankfurter Flughafen. Ich bin mir gestern auf der Fahrt zu meinem Onkel so sicher gewesen, dass das Spiel gegen England eine ganz klare Sache für uns wird. Wir sind gegen 14:00 Uhr dort eingetrudelt und ich war kaum nervös. In jedem Fall war das kein Vergleich, wie es vor dem Spiel gegen die Niederlande der Fall gewesen ist, wo ich bereits Tage vorher so aufgeregt gewesen war, dass ich kaum etwas essen hatte können. Ich war fast so entspannt wie vor dem Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei (obwohl das am Ende von der DFB-Elf auch nicht die beste Leistung im Turnier gewesen ist, aber daran war ja weniger die Stärke des Gegners Schuld als der eigene Schlendrian und wohl auch etwas Hochmut). Doch als es dann gegen 19:00 Uhr langsam auf den Anstoß zuging, kam die Nervosität plötzlich durch. Vorher hatte ich erwartet, dass die Deutschen das Spiel locker gewinnen würden,  2:0 oder so. Nun war ich mir da nicht mehr sicher. Im Wohnzimmer meines Onkels schauten wir dann die Partie. Wir, das heißt in diesem Fall neun Leute; mein Vater, meine Mutter, meine Schwester, ich, mein Onkel, meine Tante, mein Cousin und meine Cousine und sogar mein kleiner Bruder war dabei. Es muss gespürt haben, was das für ein besonderes Spiel war, denn er wollte an diesem Abend einfach nicht ins Bett. Die Engländer spielten gut, verdammt gut. Vor allem Paul Cascoigne machte sein bestes Spiel, jedenfalls sehe ich das so, im Turnier. Ich will jetzt nicht sagen, dass die Engländer drückend überlegen waren, aber sie waren mindestens gleichstark. Das muss man ganz klar anerkennen. Ich habe bereits nach einer Viertelstunde gemerkt, dass das mit dem deutlichen Sieg und dem Spaziergang ins Finale gegen Argentinien nichts wird. Ich wurde mit jeder Minute nervöser und nervöser. Das 0:0 zur Pause ging voll in Ordnung. Als Andreas Brehme nach gut einer Stunde diesen abgefälschten Freistoß zum 1:0 geschossen hat, haben wir natürlich alle gejubelt, aber komischerweise bin ich danach noch nervöser geworden. Wenn man kurz vor dem großen Ziel ist und doch noch geschlagen wird, dann ist das wesentlich bitterer, als wenn die Niederlage glasklar ist. Du weißt sicherlich, was ich meine, Carsten. Zehn Minuten vor Schluss ist dann der Ausgleich durch Gary Lineker gefallen. Große Enttäuschung hat sich im Raum ausgebreitet. Mein Vater, der Fußball immer sehr objektiv guckt, meinte, dass das Tor absolut verdient ist. Um ehrlich zu sein, er hat Recht gehabt. Der Ausgleich war verdient. England hat einfach nur ein sehr gutes Spiel gemacht. So ist es dann in die Verlängerung gegangen und als dieser Angriff von Chris Waddle gespielt wurde, dachte ich schon, es ist aus, aber der Ball ist an den Innenpfosten geknallt. Wenn der reingegangen wäre, hätte sich Deutschland davon sicherlich nicht mehr erholt. Das galt auch kurz vor Ende für England, als Guido Buchwald den gleichen Pfosten getroffen hat. Nun gut, als es ins Elfmeterschießen gegangen ist, war mein Magen kräftig am schmerzen. Ich habe mich gefühlt, wie kurz bevor es einen schwierigen Mathetest zurückgibt und konnte eigentlich gar nicht hinsehen. Die ganze Familie saß da im Wohnzimmer, als wären wir alle aus Stein. Erst als Bodo Illgner den vierten Elfmeter gehalten hat, ist mein Cousin aufgesprungen und hat gejubelt. Aber nur ganz verhalten. Denn danach war ja Olaf Thon dran und wieder konnte ich kaum hinsehen. Doch der hat den so lässig gemacht, dass das eigentlich schon fast zu leicht aussah. Nun musste Chris Waddle treffen. Während der zum Elfmeterpunkt gegangen ist, wusste ich, dass er vergeben und Deutschland ins Endspiel kommen wird. Auf seinem Gesicht lag ein ziemlich verzweifelter Ausdruck, fand ich jedenfalls. Und er hat den Ball weit übers Tor geballert. Ich habe so gejubelt. Wir alle haben voll gejubelt, aber mir haben die Engländer auch richtig leid getan. Irgendwie hat es keine Mannschaft verdient, nach einem solch genialen, packenden Spiel im Halbfinale einer Weltmeisterschaft rauszufliegen. Elfmeterschießen ist wie Lottospielen irgendwie. Toll fand ich insgesamt auch, wie fair die im Spiel und danach gewesen sind. Das war eine ganz andere Hausnummer als das Spiel gegen die Niederlande. Bevor er richtig gefeiert hat, hat Lothar Matthäus zum Beispiel erstmal Chris Waddle getröstet. Das war wirklich ein ganz großer Fußballabend, wie man ihn so oft nicht zu sehen bekommt. Es ist für Dich bestimmt sehr krass gewesen, das Spiel in England zu gucken,  oder? Für die Familie, bei der Du zu Gast bist, muss das Ausscheiden der Engländer sicherlich extrem hart gewesen sein. Ich freue mich schon, wenn Du mir über die Erfahrung, dieses geniale Halbfinale in England geschaut zu haben, schreiben wirst. 

Ich habe mich übrigens entschieden, was ich mit den über elftausend Mark mache, die ich für das seltsame Buch bekommen habe. Ich werde das Geld auf einem Sparkonto bei der Deutschen Bank anlegen und darauf zurückgreifen, wenn ich eines Tages studiere. Meine Eltern fanden diese Entscheidung so gut, dass sie mir angeboten haben, dass sie ab September jeden Monat zweihundert Mark auf dieses Konto überweisen, solange bis mein Studium beginnt. Wenn man sich überlegt, dass ich nicht vor 1996 im Oktober mit der Universität anfange, dann befinden sich fast 25.000 Mark auf dem Konto. Damit kann man als Student schon weit kommen. 

Ach ja, wenn ich schon nicht die hübsche Italienerin, die in Neapel so schlimm geweint hat, trösten kann, dann kannst Du vielleicht die hübsche Engländerin trösten, die neben dem Haus Deiner Gastfamilie wohnt und die Dich immer so nett anlächelt und hintenrum schon Infos über Dich eingeholt hat. Wie war der Name noch gleich? Jennifer? Du musst mir unbedingt schreiben, wie es in der Sachen weitergeht. 

So, und jetzt tut mir die Hand vom ganzen Schreiben weh und ich werde mal Feierabend für heute machen. Außerdem zeigen die gleich einen Film hier im Flugzeug; Beverley Hills Cop mit Eddie Murphy. Der geht immer durch. Dann lass uns ganz fest die Daumen drücken für Sonntagabend, wenn es gegen Diego und Argentinien geht! Du wirst sehen, wir werden Weltmeister! Ich freue mich, bald wieder von Dir zu lesen. 

Beste Grüße 

Robin