Kapitel 17 - Der Aufbruch



Tagebuch des Astronauten und Physikers Noah Schumacher, kurz vor Weihnachten 2039 an Bord der Internationalen Raumstation Nostromo im Erdorbit, per Audioaufnahme 

Obgleich ich mich bereits seit fast neunzig Erdentagen in der Station befinde, kann ich mich einfach nicht an diesem Anblick satt sehen. Der blaue Planet dort unten mit den gelben, grünen, weißen, braunen, grauen Einsprengseln von Land und den schneeweißen Schlieren der Wolken darüber ist schlicht und einfach die wundervollste Perspektive, welche ein Mensch von seiner Heimat erhalten kann. Von hier oben aus gesehen registriert selbst der wachsame Geist nichts von all den Konflikten, der Gier und dem Hass dort unten und es erscheint einem umso lächerlicher, dass wir es nicht hinbekommen, all diese Kriege, Streitereien und Machtspielchen einzustellen, um endlich an einem Strang zu ziehen und die wahren Probleme zu lösen, was dann sicherlich in Union ganz, ganz schnell gehen würde. Es muss niemand Hunger leiden. Mit der richtigen Technik in Anbau und Lebensmittelproduktion können wir locker 12 Milliarden Menschen ernähren. Wir müssen nur zusammenstehen, an dem berühmten Strang ziehen und vor allem damit aufhören, Lebensmittel wie Gold oder Silber an den Börsen der Welt zu handeln. Lebensmittel und deren Rohstoffe sind nichts, was in die Hände der Spekulanten gehört, sie sind ein Grundrecht eines jeden Menschen, an dem nicht gerüttelt werden darf. Aber das erklär mal einem dieser von der Gier geblendeten Idioten dort unten. Die Gier ist es auch, die immer wieder zu Kriegen führt; die Gier nach Ressourcen, die Gier nach Gebieten, die Gier nach Großreichen, die Gier nach Macht. Manchmal führen auch so idiotische Fragen zu blutigen Konflikten, durch welchen Glauben man denn nun Gott oder den Göttern am nächsten sei. Was für ein Schwachsinn! Als ob Gott - den es, dieser wundervolle Anblick beweist es, einfach geben muss - einen Menschen mehr oder weniger liebt, weil er nun einen Juden, einen Christ, einen Moslem oder sonst was verkörpert. Gott misst uns nur nach unseren Taten und nicht daran, ob wir die Offenbarung des Johannes korrekt interpretieren, den Koran auswendig oder wundervoll aus dem Tanach rezitieren können. Manchmal glaube ich, es wäre das Beste für die Menschheit, wenn wir alle religiösen Schriften in die Giftschränke versiegelter Bibliotheken verbannen. Hier oben befindet sich der Elfenbeinturm schlechthin, dessen perfekter Inbegriff. All diese chaotischen Zustände dort unten sind so fern von einem selbst, dass sie kaum existent erscheinen. Erst wenn meine Frau mich über Videocall von der Erde aus kontaktiert und mir, nachdem die Kinder von der Kamera fort sind, erzählt, dass es einen Terroranschlag mal wieder gegeben habe, ein Konflikt drohe oder in Folge eines selbigen Millionen Menschen von Hunger und extremer Not bedroht seien, wird mir wieder bewusst, wo ich eigentlich herkomme und wohin ich gehöre. Es ist wahrlich erstaunlich, dass sich ein solches Gefühl bereits nach neunzig Tagen einstellt; ein Gefühl, von allem losgelöst zu sein und dieses Gefühl, das sage ich voller Überzeugung, bezieht sich nicht nur auf die Schwerelosigkeit an diesem ganz speziellen, so besonderen Ort. Meine zwei Kollegen, Amanda und Lee, empfinden genauso. Wie beschrieb es Amanda wahrhaftig treffend; sie habe den Eindruck, seit sie hier sei, in einer surrealen Blase zu leben, obwohl rein gar Nichts an diesem Ort surreal ist. Der wundervolle blaue Planet, um welchen wir uns im freien Fall immer wieder und wieder und wieder bewegen; er ist real. Das Meer von Sternen dort in unvorstellbaren Entfernungen; es ist real. Die für ein Geschöpf aus Kohlenstoff und Wasser so lebensfeindliche Umgebung dort draußen, wie man sie auf der Erde höchstens im Inneren des Planeten findet, und von der uns noch nicht einmal zehn Zentimeter Außenwand aus Gerothan trennen; sie ist real. Ein kleines Stückchen Weltraumschrott, das Fragment eines längst verloschenen TV-Satelliten, welches mit der Nostromo zusammenstößt, reicht aus, um alles zu zerstören und uns in eine Umwelt zu katapultieren, in der wir nicht einmal zwanzig Sekunden bei Bewusstsein und keine zwei Minuten am Leben bleiben. Selbst der Arktische Ozean gewährt dem Menschen mehr Überlebenszeit. Und dennoch, so sagte mir Amanda, fühle sie sich hier wie in einem Traum, in dem es weder Tod noch Leid noch sonstige Gefahren gebe. Sie sagte, dass dieses Empfinden für alle Welten, das gesamte Universum gelte, solange man sich an diesem Ort, an Bord der Nostromo befände. Das sei die surreale Blase. Ich finde, dass das sehr gut erklärt ist.

Aber wir wollen die Welt dort unter mal nicht zu schwarz malen. Denn ein Faktum ist ganz klar, dass es Lichtblicke gibt. Die Gens Una Sumus-Bewegung weist, so konnte ich kürzlich lesen, im dritten Jahr in Folge stark steigende Mitgliederzahlen auf. Weltweit sollen es bereits über dreißig Millionen Menschen aus allen Kulturkreisen sein. Es scheint ihrem Gründer, dem exzentrischen Dot-Com-Milliardär Steven Miller-Ivanovic, zu gelingen, viele von uns für die Denkweise zu erreichen, dass wir alle eine einzige Spezies sind, die lediglich eine allgemeine, schriftlose Spiritualität anstelle komplizierter, uns voneinander trennende Religionen benötigt. Auch dessen Pazifismus, der Glaube an den friedlichen Fortschritt der Technik sowie die vegane Ernährung - die es endlich ermöglichen soll, alle Menschen satt zu bekommen, weil Flächen für die Haltung und Mästung von Nutztieren so unnötig werden und dem Kampf gegen den Hunger dienen können  - gefallen einer immer größer werdenden Anzahl von Männern und Frauen rund um den Globus. Miller-Ivanovic vertritt wie ich die Ansicht, dass Wasser und Nahrung Grundrechte und keine Spekulationsobjekte sind. Auch das kommt bei sehr vielen Menschen sehr gut an. Und endlich ist da noch die großzügige Unterstützung von Miller-Ivanovic für das Projekt Starshot, die ihm weltweit Sympathien einbringt.

Apropos Starshot. Ich bin ein glücklicher Mensch, da mir die Ehre zukommt, dem Schauspiel des Aufbruchs der Miniatursonde aus einer ganz besonderen Perspektive beiwohnen zu dürfen. Fast sechs Monate nach dem Start hat die Kapsel die Miniatursonde nun auf Ihre Startposition gebracht, welche etwas außerhalb jenes Radius liegt, in dem der Mond die Erde umkreist. Von dieser Stelle ausgehend wird das Segel für gute fünfzehn Minuten von dem unsagbar starken Laserstrahl von der Erde aus erfasst und angetrieben. Die Aktion soll in etwa fünf Minuten beginnen und wie es der Zufall will, befindet sich die Nostromo dann in einer Stellung im Orbit, von welcher aus ich quasi einen Logenplatz haben werde. Das rundliche Fenster, vor dem ich festgeschnallt im Sessel hocke, wird mir eine Perspektive ermöglichen, die keinem anderen Menschen geboten wird. Doch ich sollte hier nicht nur von mir sprechen, denn natürlich werden Amanda und Lee das Ereignis mit mir gemeinsam verfolgen. Die Schutzbrillen gegen den gewaltigsten, jemals künstlich erzeugten Lichtblitz liegen schon bereit. Und nun schweben meine werte Kollegin und mein werter Kollege hinein in unseren Aufenthaltsraum. Sie lächeln breit und auf ihren so unterschiedlichen Gesichtern liegt der Ausdruck purster Euphorie. Für mich ist das das Zeichen dafür, die Aufnahme zu stoppen und mich meiner Freunde anzunehmen. Denn Freunde sind wir in der gemeinsamen Zeit hier oben wahrlich geworden. Ich werde diesen akustischen Eintrag dann beenden, wenn Bligh 2039 den heimatlichen Hafen des Systems Erde verlassen hat...

...Meine Herren! War das beeindruckend. Auf die Sekunde pünktlich zuckte er ohne Vorspiel aus der Wüste der Sahara empor; rot und gebündelt und so hell, dass man selbst hinter der stark getönten Schutzbrille Angst bekommen musste, dass einem im Nachgang ein Augenleiden befallen könnte. Dieser Blitz schien den gesamten Teil des Universums, welchen wir von Bord der Nostromo aus sehen konnten, in diesem einen, in diesem speziellen, in diesem einzigartigen Moment komplett auszufüllen. Dieser Blitz überstrahlte all die funkelnden Sterne und ließ unsere blaue Heimat komplett verblassen. Dieser Blitz war heller als tausend Sonnen. Für genau 18 Minuten und 43 Sekunden bestimmte er mein gesamtes Denken, meine ganze Welt, welche im Hinblick auf die Ereignisse um mich herum, doch so winzig, winzig klein daherkommt. Es existierte nichts weiter als dieser gigantische Laserstrahl, der ein Objekt jenseits des von hier aus Sichtbaren anschob. Die nicht mal zwanzig Minuten seiner Dauer entzogen sich komplett meiner zeitlichen Wahrnehmung, welche eigentlich ziemlich ordentlich ist. Hätte ich die genauen Zahlen nicht und mich würde jemand dazu befragen, so täte ich antworten, es könnte eine halbe Minute gewesen sein oder ein ganzer Tag. Doch irgendwann nach dieser nicht näher zu definierenden Zeitspanne verschwand der Laserblitz so schnell, wie er gekommen war, und nachdem die Schutzbrillen abgenommen worden waren und die Augen sich an die neuen, alten Sichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah das Universum wieder aus wie eh und je. Es war das altbekannte geworden. Nun befindet sich die winzige Sonde mit ihrem Segel also am Beginn der über 94 Billionen Kilometer langen Reise. Sie hat sich auf jenen Weg gemacht, der über vierzig irdische Jahre anhalten wird und die Funkwellen retour benötigen nochmals mindestens eine Dekade . Wenn erste Signale von Singer C2 also auf der Erde, auf unserer winzig kleinen Insel des Lebens eintreffen, werde ich, falls ich dann überhaupt noch atme, ein alter, ein sehr alter Mann von weit über neunzig sein. Wie sehr beneide ich jene, die noch nicht geboren sind, und die Rückmeldung von Singer C2 bei vollem Bewusstsein erleben werden. Doch sollte ich mich an dieser Stelle besser nicht beschweren. Ich habe den Start dieser einzigartigen Mission miterlebt. Wie viele Menschen, die diese uns umgebenden unermesslichen Weiten lieben, sind vor mir gestorben und konnten von einem solchen Zeugnis lediglich träumen! Noch dazu haben meine zwei Freunde und ich einen VIP-Platz in hoher Potenz auf dieses Ereignis gehabt. Nein! Einen Grund zur Beschwerde gibt es keinen! Ich werde mich nun mit Amanda und Lee über das Erlebte unterhalten. Wir werden lange reden, das gilt als sicher. Und dir, Bligh 2039, wünsche ich nach gutem, altem Seemannsbrauch: Mast- und Schotbruch, kleine, dahinsegelnde KI!