Kapitel 16 - Der Name




Tagebuch von Iulia Asimov am Ostersamstag 2039

Wir schreiben wieder jene Stunden, welche mir so sehr ans Herz gewachsen sind. Langsam geht der Abend über in die Nacht, die Stille und die Ruhe ziehen ein in die große Stadt, von welcher der Mensch am Tage selbst an einem Ostersamstag nur träumen kann.  Seit etwa einer Stunde sind die Kinder im Bett, was für zwei noch nicht mal Dreijährige etwas spät sein mag, aber der Kindergarten ist geschlossen über Ostern und so streng wollen wir mal nicht sein. Meine Eltern waren mir gegenüber während der Ferien auch niemals auf eine frühe Zeit fixiert, wenn es um das Zubettgehen ging. Besonders Papa ließ in dieser Hinsicht häufig Fünfe gerade sein. Mein Mann sitzt neben mir auf dem Sofa und probiert, über diese neue Hologrammtechnik ein Rugbyspiel zu sehen. Das Ganze funktioniert lediglich rudimentär und die Bildqualität ist sehr schwankend. Mal ist sie brillant, mal weiß der Betrachter nicht, ob er einen Sportler vor sich sieht oder eine Kuh beim Grasen. Es steckt eben alles noch in den Kinderschuhen hinsichtlich dieser Technik. Ich sage ihm immer mal wieder, wenn er wegen der Störungen Flüche ausstösst, schimpft oder vor Wut gar heftig auf die Bierflasche zwischen seinen Händen drückt, er solle doch einfach wieder auf SmartTV-Plus umsteigen, um das Spiel in Ruhe zu Ende schauen zu können, aber da ist er stur wie ein kleines Kind, dass im Supermarkt in der Spielzeugabteilung unbedingt eine Actionfigur von den Eltern gekauft bekommen möchte. Während er sich also etwa alle zehn Minuten wegen einer Sache, die so oder so nicht änderbar ist, aufregt, sitze ich neben dem Sofa in meinem Lieblingssessel unter der Stehlampe im sanften Kunstlicht und schreibe mit Füllhalter und Tinte in die Kladde. Und es gibt Neuigkeiten, die wesentlich erwähnenswerter sind als der schwächelnde Hologrammprojektor. 

Gestern erhielt unser PR-Team über das Tool einen Namensvorschlag von einem siebzehnjährigen Jungen. Die werten Kolleginnen und Kollegen waren sowohl von dem Vorschlag als auch von der Nachricht selbst derartig begeistert, dass sie mir diese zukommen ließen. Der Junge teilte uns mit, dass er im Leistungskurs Geschichte ein Referat über die Meuterei auf der Bounty verfasse und wie dieses Ereignis in den späteren  Jahren endlich in Literatur und Film dargestellt werde. Dazu übermittelte David, so sein Name, folgende virtuelle Zeilen in einer Form des Schreibens, wie ich sie bei einem Menschen seines Alters bisher nicht gesehen habe: ... am 29. April 1789 kam es also südlich der Inseln von Tonga zu jener Meuterei, welche wohl die berühmteste in der Geschichte der Seefahrt ist und die in all den Filmen, Romanen und Hörspielen leider vollkommen verzerrt dargestellt wird, was die Rolle des Kapitäns William Bligh betrifft. So hat der gemeine Mensch, der heute überhaupt noch von jenen längst vergangenen Geschehnissen weiß, das Bild vor Augen, dass Bligh ein Sadist, ein Tyrann, ein Unmensch gewesen wäre, der seine Mannschaft bestialisch gequält hätte. Nichts davon ist wahr. Laut der Geschichtswissenschaft war William Bligh ein fast schon väterlich eingestellter Schiffsführer, der wesentlich weniger körperliche Strafen verhängte, als es damals üblich war. Der Grund für den Streit mit dem Offizier und Anführer der Meuterer Fletcher Christian waren fehlende Kokosnüsse, welche Bligh rationiert hatte, damit sie als Vitaminvorrat für die Besatzung auf der langen Rückfahrt aus der Südsee dienten. Dieser Streit und die Sehnsucht mancher Männer, im paradiesischen Tahiti verweilen zu dürfen,  mündeten endlich in der feindlichen Übernahme des Schiffes durch die Meuterer. Dass Bligh in Film und Literatur so schlecht dasteht heute, liegt unter anderem an einer Rufmordkampagne Fletcher Christians zu Lebzeiten der Beteiligten. Doch darum soll es hier nicht gehen. William Bligh musste die Bounty verlassen mit den Männern der Besatzung, welche weiter zu ihm hielten. Sie bestiegen eine offene Barkasse, die völlig überladen und dazu noch besonders klein war. Die Meuterer dachten wahrscheinlich, dass Bligh mit diesem Boot niemals durchkäme und der Ozean sämtliche Spuren tilgen würde. Doch sie sollten sich täuschen. Es gelang William Bligh unter widrigsten Umständen das kleine Boot durch die Torres Straße, die damals noch ein beinahe gänzlich unerforschtes Seegebiet gewesen ist, über 6700 Kilometer hin zu einem sicheren Hafen auf der Insel Timor zu bringen. Diese Fahrt gilt bis heute als eine der größten Leistungen in der Geschichte der Seefahrt und sie beweist, dass Kapitän William Bligh ein wahrer Meister der Navigation gewesen sein muss. Die Barkasse war übrigens ein 7,5 Meter langes und 2 Meter breites Boot, welches über zwei Segel verfügte. Der beinahe gänzlich auf sich allein gestellte Bligh segelte durch teilweise unbekannte Gewässer in einem winzigen Boot über eine Distanz, die damals für ein solch kleines Schiff quasi kaum zu bewältigen galt. Die KI Eurer Sonde ist vollkommen auf sich alleingestellt. Die KI muss eine für die heutige Zeit schier unglaubliche Distanz überwinden. Die Sonde, welche sie steuert, ist winzig und sie besitzt ein Segel. Zusammen mit der Sonde muss die KI ein beinahe komplett unbekanntes Gebiet durchqueren. Die KI wird zudem eine außergewöhnliche Leistung erbringen müssen, um ihr Ziel, das Sternensystem Singer zu erreichen. Aller Euphorie zum Trotze gibt es genug Menschen, die sagen, die Sonde wird ihren Zielpunkt nicht erreichen. Ich aber bin der Meinung, dass sie es schaffen wird mit einer für die Menschheitsgeschichte bis dato einmaligen Leistungen und möchte daher den Namen Bligh 2039 vorschlagen, wobei sich die 2039 natürlich auf das Jahr des Aufbruchs bezieht... Diese Zuschrift hat mich zutiefst beeindruckt und ich fing umgehend damit an, mich über die wahre Geschichte der Bounty und ihres Kommandanten William Bligh zu befassen. David hat in allen Punkten recht, was das Historische betrifft und auch der Vergleich, den er bemüht hinweg über weit mehr als zwei Jahrhunderte trifft den Nagel auf den berühmten Kopf. Die KI ist wirklich vollkommen auf sich gestellt und muss durch unbekanntes Gebiet eine große, große Reise tun. Für die Navigation durch die fremden Weiten zeichnet sie selbst verantwortlich und die Kurskorrekturen können lediglich über ein Instrument erfolgen; das Segel. William Bligh lebte in der Zeit der großen, prächtigen Segler und er steuerte die Barkasse durch das unbekannte Gebiet mit Ruderriemen und einem kleinen Segel. Vor langer Zeit, das ist, glaube ich, in der neunten Klasse gewesen, habe ich eine Geschichtslehrerin gehabt, die gesagt hat, Geschichte wiederhole sich im Lauf der Menschheit stetig aufs Neue, auch wenn die Fassaden der Wiederholungen sich unterschieden.  Begeisterung breitete sich nach der Kenntnisnahme des Namensvorschlages in mir aus und ich entschloss mich, die berühmte Nacht darüber zu schlafen. 

Die Begeisterung ist heute noch immer ungebrochen und wie ich nun die Feder über das Papier führe und die Tinte langsam trocknet, ist in mir die Entscheidung gereift, dass es unter all den Namen, welche an uns herangetragen wurden, nur einen wirklich treffenden geben kann. Und dieser Name lautet: Bligh 2039.