Kapitel 14 - Der Termin



Historisches Datum für Start von Project Starshot Singer C2; aus Science Gate via VRMS, Donnerstag, der 3. März 2039

Als Iulia Asimov an diesem Donnerstag vor die versammelten Journalisten im Pressezentrum der Asimov-Gruppe trat, wirkte die siebenunddreißigjähre CEO selbstbewußt, zufrieden und äußerst gut gelaunt. Lässig fielen die glänzenden schwarzen Haare über die Schultern, listig funkelten die haselnussbraunen Augen in dem rundlichen Gesicht, welches gänzlich ohne Make Up auskam. In Blue Jeans und roter Schlumpfjacke wirkte sie mehr wie ein Rockstar als wie eine Geschäftsfrau, die ein globales Unternehmen führt und eine Entscheidung gewaltiger Tragweite verkündet. Lächelnd nahm sie zwischen den leitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Project Starshot Singer C2 am langen Tisch auf dem Podium Platz. Dahinter leuchtete auf einem gigantischen Bildschirm das Logo jenes Projekts, wegen welchem heute die Welt auf diesen Ort schaute; die Buchstaben PS vor einer Karte des Singer Sternsytems, doch an diesem Tag war etwas anders. Schaute man genauer hin, so sah man, dass die Buchstaben gefüllt waren mit Gesichtern ordinärer Menschen, wie sie auf den vier Kontinenten unseres Planeten leben. Iulia Asimovs Botschaft lautete damit ganz klar: Starshot steht für uns alle, egal ob wir aus den Slums von Kinshasa kommen oder die Penthouse's in Monte Carlo bewohnen. Die Gesichter zeichneten an diesem Donnerstag ihre Winzigkeit aus. Ja, wir leben zwar nur in einer mikroskopischen Oase in den Weiten der unendlichen Wüste des Weltalls, aber wir können diese Weiten, jedenfalls teilweise, überwinden und eine andere Oase erreichen. Iulia Asimov, die vor zwei Jahren Mutter von Zwillingen geworden ist, liebt die Sprache der Bilder, das unterschwellige Transportieren von Aussagen, genau wir ihr 2031 verstorbener Vater und Unternehmensgründer das immer getan hat. Mir einer lässigen Armgeste stoppte Asimov den donnernden Applaus, welcher aufgebrandet war, nachdem sie den lichten Presseraum betreten hatte. Sie ließ sich Zeit, bevor die Worte kamen; euphorisch, melodisch, luftig und leicht, als könnten sie locker die Grenzen unseres Planeten passieren und vor dem Miniatursternenschiff Singer C2 erreichen. Auch die leichte Schrägheit bei der Wahl der Sprache hat Iulia Asimov mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihrem Vater geerbt. 

"Meine lieben Freundinnen und Freunde, die ihr auch der Gattung Homo Sapiens angehört. Vor gut dreiundzwanzig Jahren kam meinem Vater beim Betrachten eines ganz banalen Krimis eine Idee. Im Rahmen der Ermittlungen suchte das Polizistenduo eine Diskothek auf, um den Inhaber zu befragen. In der Disko hämmerten die Technobässe, die Nebelmaschinen spien und rote und grüne Laserstrahlen durchzuckten die Szenerie. Es war eben dieses gebündelte Licht, welches Papa auf den zunächst flüchtigen Gedanken brachte, damit ein Raumschiff anzutreiben. Doch er wusste natürlich nicht, wie das genau funktionieren sollte. So blieb die Idee vage in seinem Hinterkopf und wurde erst wieder klarer, als er zu einem Geschäftstermin in der Hansestadt Hamburg gewesen ist. Mein Vater war gerne in Hamburg, er hat diese Stadt und ihre Bewohner sehr gemocht. Besonders der Hafen hatte es ihm angetan. Und so zog er auch eines Sommertages, nachdem die Verträge gemacht worden waren, mit einer Halbliterflasche Astra-Pils über die Kais und genoss den Anfang des Abends und die Stimmung an diesem Ort. An einem Anleger war die Mannschaft eines prächtigen, historischen Schiffes dabei, das Großsegel zu flicken. Da kam ihm der Einfall, einen Laserstrahl auf ein Segel zu feuern, welches sich im Weltraum befindet und eine Sonde hinter sich herzieht. Wäre es möglich, damit die Geschwindigkeit zu erreichen, um in der Dauer eines menschlichen Lebens zu unserem Nachbarstern zu reisen? Aus welchem Material müsste ein solches Segel bestehen? Wie groß müsste es sein? Wie stark der Laser? Und so weiter und so weiter. Mein Vater war gelernter Bankkaufmann, der nach seiner Ausbildung noch Betriebswirtschaftslehre studiert hat. So konnte er sich diese Fragen selbstverständlich nicht selbst beantworten, aber in seiner Firma arbeiteten damals sowohl männliche als auch weibliche Physiker, Ingenieure und Chemiker, an die er sich wendete. Als sie zu ihm ins Büro kamen, haben sie vor Angst gezittert, dass sie ihre Jobs verlieren, denn mein Vater war ein schrecklicher Chef. Nein, Spaß beiseite. Sie waren von seiner Idee beeindruckt und hielten eine solche Sache durchaus für machbar. Natürlich sei am Ende alles weniger eine Frage der verfügbaren Technik als des Geldes. Eine Frau, die als Ingenieurin in der Firma arbeitete, berichtete Papa von zwei guten Freunden, zwei Astrophysikern, welche als Professoren an britischen Universitäten lehrten und sich privat sehr intensiv mit dem Thema interstellarer Reisen befassten. Sie stellte den Kontakt her und nachdem Papa mit den Herren Rowe und Bailey mehrere Flaschen schottischen Whiskey gekippt hatte, riefen sie anno 2016 das Projekt Starshot ins Leben. Am Anfang wurden sie ziemlich belächelt und es hieß, Männer seien doch stets nur Träumer und große Kinder. Nicht ganz Unrecht haben diese Stimmen gehabt, denn mein Vater und die Herren Professoren Rowe und Bailey waren die größten Träumer, welchen ich in meinem bisherigen Leben über den Weg gelaufen bin. Okay, Ronald Rowe und James Bailey laufe ich auch heute noch über den Weg, nur an den Träumern hat sich nichts geändert. Jedoch wird aus Träumen manchmal Wirklichkeit. Ich habe gestern die letzten Verhandlungen mit der ESA abgeschlossen und den Beginn der über vierzig Jahre dauernden Reise auf Samstag, den 16. Juli 2039 festgelegt. An diesem Tag werden Sonde und Segel vom europäischen Weltraumbahnhof in Französisch-Guayana sich auf ihren langen Weg über Billiarden von Kilometern machen. Es dauert kein halbes Jahr mehr, meine lieben Freundinnen und Freunde! Es dauert kein halbes Jahr mehr! Und bis dahin gebe ich euch allen rund um diesen schönen Planeten eine Aufgabe. Wie soll die erste Raumsonde, die einen belebten Planeten ansegelt, heißen? Auf der Homepage des Projektes wurde ein Tool installiert, über welches ihr eure Ideen mitteilen könnt", sagte Iulia Asimov den versammelten Journalisten in dem übervollen Pressezentrum und unzähligen Betrachtern der Liveübertragung mit. Und nachdem die dynamische, niemals ruhend wirkende Frau um Mitwirkung bei der Namensfindung gebeten hatte, brandete erneut hämmernden Applaus auf. Die anwesenden Damen und Herren erhoben sich erneut von ihren schlichten Sitzplätzen, bevor sich Asimov den Fragen annahm. Geduldig und über mehrere Stunden hinweg beantworteten die Chefin der Asimov-Gruppe und deren leitende Wissenschaftler sämtliche Anliegen der Anwesenden. 

Durch die Einigung mit der ESA sind die Vorbereitungen für die lange Reise der noch namenlosen Sonde faktisch abgeschlossen. Die Batterie an Laserkanonen in der Wüste Algeriens, welche beinahe zu hundert Prozent aus Solarenergie gespeist wird, ist einsatzbereit. Ein erfolgreicher Testlauf fand bereits Anfang des Jahres statt. Sonde und Segel befinden sich ebenfalls einsatzbereit im Hochsicherheitsbereich der Labore der Asimov-Gruppe und warten nun auf den Abtransport nach Südamerika. In den Laboren lagert auch die Kapsel, welche die Ariane-Rakete an jenem schicksalshaften Tag ins All bringt und die Segel und Sonde hin zu ihrem tatsächlichen Startpunkt befördert. Ein Kontrollzentrum existiert übrigens nicht. Denn Projekt Starshot kommt gänzlich ohne menschliches Zutun aus. Es ist dies die erste Raumfahrtmission in der Geschichte der Menschheit, welche komplett von einer Künstlichen Intelligenz geführt wird. Einzig die Empfangsstation für das Auffangen der Bildsignale von Singer C2 steht noch nicht. Doch dafür sind ja, wenn wir Hinflug und Rückweg der Funkwellen addieren, noch weit mehr als fünfzig Jahre Zeit. 

Das Datum des Starts von Starshot hat Iulia Asimov übrigens mit Bedacht gewählt. Nichts ist bei dieser Frau einfach so, alles folgt einem höheren Plan, ihrem höheren Plan. Am 16. Juli 1969 brachen Buzz Aldrin, Neil Armstrong und Michael Collins an Bord einer Saturn-Rakete zum Mond auf. Etwa drei irdische Tage später setzte Neil Armstrong als erster Mensch seine Füße auf einen anderen Himmelskörper als die Erde. Es war dies ein Quantensprung in vielerlei Hinsicht für die Menschheit und Project Starshot Singer C2 wird nicht weniger sein. Daher schickt Iulia Asimov auf den Tag genau siebzig Jahre später, am Samstag, den 16. Juli 2039, zwar keine Menschen, aber eine Künstliche Intelligenz in Miniaturformat auf eine Reise, deren Distanz so unzählige Male länger ist als jene der Besatzung der Apollo 11-Mission; so gewaltig, dass der menschliche Geist sie nicht zu fassen vermag. 

Doch über die Bedeutung des 16. Julis verlor Iulia Maria Maja Asimov, wie ihr voller Name lautet, im Rahmen der Pressekonferenz kein Wort. Dass das mündige Individuum von alleine darauf kommt, so viel Grundmaß an Intelligenz erwartet sie endlich schon von den Angehörigen der Spezies Homo Sapiens.