Kapitel 13 - Das Angebot



Tagebucheintrag von Gabrielle Trautmann, Dienstag, 26. Juni 1990

Ich sitze gerade auf unserer Terrasse in der goldenen Abendsonne und genieße das letzte Licht des Tages, bevor gleich die Sommernacht ihr warmes, schwarzes Kleid über diese Stadt und das Land legen wird. Es sind dies die längsten Tage des Jahres, eine von Magie erfüllte Zeit, in welcher das Leben leichter wirkt. Manchmal wünsche ich mir, dass diese Phase des Sommers ewig anhalten würde, aber dann wäre sie sicherlich nicht so besonders, wie sie es eben ist. Ich weile hier draußen alleine, denn Robin schaut mit seinem Vater natürlich, wie könnte es sich auch anders verhalten, Fußball. Bei der Weltmeisterschaft treffen in Bologna im letzten Spiel des Achtelfinales England und Belgien aufeinander. Zur Pause stand es noch 0:0. Robin befindet sich nach der Partie der deutschen Elf gegen die Niederlande im siebten Fußballhimmel. Seit jenem 2:1 Sieg zu Mailand ist mein größtes Kind fest davon überzeugt, dass die DFB-Mannschaft jetzt niemand mehr aufhalten kann auf dem Weg zum Weltmeister. Robin schwärmt von diesem Spiel und wird es wahrscheinlich noch für den Rest seines Lebens tun, obgleich er sich noch immer über den Schiedsrichter und den Skandal um Frank Rijkaard, Rudi Völler und dessen rote Karte echauffiert. Meine liebe Tochter sitzt in ihrem Zimmer und schaut ein Video der New Kids on the Block und das Nesthäckchen schläft, ganz wie sich das für einen noch nicht mal dreijährigen Knaben gehört, bereits. Daher hockt die werte Gattin und Mutter hier draußen ganz alleine. 

Heute rief uns Frau Doktor Ursula Kojima-Ottovordemgentschenfelde an, die Dame, von der wir Ende der Siebzigerjahre dieses wundervolle Haus gekauft haben und die Jonas letztens in der Universität aufgesucht hat, um Informationen über dieses exotische Buch einzuholen, welches ihm im Rahmen seines Praktikums geschenkt worden war. Eines gilt nun als sicher; dieses Buch ist kein dummer Scherz, für welchen ich es gehalten habe. Frau Doktor sagte mir Folgendes: "Ich habe von einem guten Kollegen, der an der SOAS in London Arabistik lehrt und dem ich Auszüge aus dem Buch Ihres Sohnes gefaxt habe, eine Rückmeldung erhalten. Bei dem Text handelt es sich wohl um einen sehr frühen Entwurf einer Plansprache aus dem mittelalterlichen Mesopotamien. Das Buch, welches Ihr Sohn im Besitz hat, wurde dazu von einem britischen Orientalisten im Jahre 1789 zu dokumentarischen Zwecken zusammengestellt und lediglich zehn Mal gedruckt. Sechs Exemplare befindet sich in  Bibliotheken von Universitäten und dort zumeist im Bereich der Arabistik, denn der Versuch dieser frühen Plansprache fusst entfernt auf der damaligen arabischen Sprache. Vier galten als verschollen, doch nun ist eines ja wieder aufgetaucht. Mein Kollege in London bietet Ihrem Sohn fünftausend Britische Pfund für dieses Buch, denn er möchte es gerne der SOAS zuführen, die noch nicht im Besitz eines solchen Werkes ist." Das waren natürlich erstaunliche Neuigkeiten und erst beschlich mich Skepsis, da ich ja von Natur aus ein sehr misstrauischer Mensch bin. Meine Gedanken dazu lauteten, dass das Buch bedeutend mehr wert sein musste, wenn Frau Doktor Ursula Kojima-Ottovordemgentschenfelde schon freiwillig mit fünftausend Pfund daherkam, was ja nun über elftausend Mark sind. Aber dann hat mein Mann, dessen Passion alte Bücher und der Markt dafür sind, mir gesagt, dass es durchaus passen könne mit dem Preis. Zwar sei das Buch sehr selten, aber die weltweite Nachfrage dafür auch extrem gering. Nur irgendwelche Arabisten und von denen wahrscheinlich auch nur ein kleinerer Teil, hätten Interesse an einer solchen Art von sehr spezieller Literatur. Robin könne sich freuen, dass die Sache mit dem Besuch an der Bielefelder Universität in eine solche Richtung gegangen sei. Zudem habe er ungemeines Glück gehabt. Glücklich darüber ist Robin jetzt in der Tat. Frau Doktor Ursula Kojima-Ottovordemgentschenfelde will uns das Geld in Bar vorbeibringen und das Buch abholen, sobald die Überweisung aus London bei ihr eingegangen ist. Was er mit dem Geld machen will, hat er noch nicht entschieden.

Und jetzt muss ich Schluss machen mit dem Schreiben für heute. Das Licht schwindet immer mehr und das ist wohl das Zeichen dafür, den Stift aus der Hand zu legen und bei einem kalten Bier mit meinen Jungs den Rest der Partie zwischen England und Belgien zu schauen. Weil ich durch die offene Terrassentür noch immer keinen emotionalen Laut habe hören können, denke ich, dass es wohl noch immer 0:0 steht.