Kapitel 12 - Der Blick auf den Wald



Schreiben von Robin Trautmann an Carsten Arndt, Freitag, den 22. Juni 1990 (per Fax, Auszüge)

Hallo Carsten, 

vielen Dank für Dein Fax und vielen Dank auch, dass Du die seltsamen Zeichen all den Leuten gezeigt hast. Natürlich habe ich mich sehr über Deine netten Zeilen gefreut; wie immer. Mit der Begrüßung und dem Bedanken fasse ich mich mal heute recht kurz, denn es gibt viel zu erzählen und natürlich fange ich mit, wie könnte es in diesem Sommer auch anders sein, dem schönen Sport Fußball an. 

Gerade bin ich nervös. Das hat auch gute Gründe und Du wirst sicherlich leicht erraten, dass diese Gründe mit dem Achtelfinale zusammenhängen. Nun kommt es also doch zu einem denkbar frühen Zeitpunkt zum Derby gegen die Niederlande. Das Los musste entschieden, weil Hans van Breukelen im Tor gegen die Iren einen richtigen Bock geschossen hat. Torwart Haltenichts kann man dazu wohl nur sagen. Als das Tor für Irland durch Quinn gefallen ist, war ich ziemlich geteilt. Auf der einen Seite habe ich mich gefreut, wenn der größte Rivale unserer Mannschaft von einem kleineren Gegner einen Treffer kassiert und am Ende gar noch einen Punkt geraubt bekommt. Auf der anderen Seite war ich fast schon ein bisschen entsetzt. Denn wenn die Holländer das 1:0 durch Gullit über die Zeit gebracht hätten, wären sie zusammen mit England auf dem ersten Platz gewesen. Dann hätte wegen der totalen Gleichheit beider Teams zwar auch das Los entscheiden müssen, aber nur darüber, wer Erster oder Zweiter wird und wir wären den Niederländern in jedem Fall aus dem Weg gegangen; jedenfalls mindestens bis zum Halbfinale. Nun gut; dieser Typ auf der Kreuzfahrt, der mit der hübschen, schwarzhaarigen Tochter Alexandra, ich weiß gar nicht mehr, wie der hieß, der hat doch immer gesagt: "Es kommt, wie es kommt und es ist, wie es ist." Der war ja eigentlich ziemlich primitiv, aber was er da gesagt hat, das passt schon. Wir können es nicht ändern und da müssen wir durch. Ja, das Spiel am Sonntag um 21:00 Uhr macht mich nervös. In meiner Klasse hat Ayhan, ein Freund von mir, gesagt:  "Mach dir doch nicht so einen Kopf, Robin! Deutschland spielt bis jetzt den besten Fußball von allen Mannschaften und die Holländer spielen den letzten Dreck. Die spielen schlechter als Arminia, Mann! Du wirst sehen, das wird eine klare Sache." So viel Vertrauen in die Welt hätte ich gerne. Sicherlich ist das, was Ayhan da gesagt hat, korrekt. An seinen Worten kann wohl niemand, der etwas von Fußball versteht, zweifeln. Doch die Niederlande haben Gullit, van Basten und Rijkaard in ihrer Elf und Gullit, van Basten und Rijkaard können jeweils für sich mit einer einzig guten Aktion ein Spiel entscheiden in der letzten Sekunde, auch wenn ihr Team über neunzig Minuten den größten Kokolores zusammen gekickt hat. Außerdem ist auch klar, dass immer, wenn es gegen Deutschland geht, die Holländer hundert Prozent geben und noch ein bisschen mehr. Fest steht, dass meine Bauchschmerzen erst dann vorbei sind, wenn am kommenden Sonntag das Spiel abgepfiffen wird und Deutschland ins Viertelfinale eingezogen ist. 

Gestern habe ich wieder Latein mit Mirja gehabt. Sie hat sich neben mich gesetzt, weil sie mal wieder auf den letzten Drücker zum Unterricht erschienen ist. Mirja hat wirklich umwerfend ausgesehen in ihrer schlichten schwarzen Jeans und dem weißen U2-T-Shirt. Sie läuft so oder so sehr schlicht rum und trägt, was ich richtig cool finde, auch kein Make Up. Wenn ich mir dagegen die anderen Mädels aus meinem Jahrgang angucke. Mensch, Carsten, die tragen mindestens eine halbes Kilo Jade im Gesicht. Auch scheint sie sich nicht stundenlang mit ihrer Frisur zu beschäftigen. Mirja bindet sich ihre pechschwarzen Haare zumeist einfach nur zu einem Pferdeschwanz zurück, was ich auch richtig toll finde, denn dann kann man ihr schönes Gesicht sehen. Du, das sieht so fein aus, als hätte das ein Künstler gemalt. Mirja hat dunkelblaue Augen, was zusammen in einem aufregenden Kontrast zu der hellen Haut steht, die sie hat. Jedenfalls haben wir während der Doppelstunde uns Nachrichten hin und her geschickt. Mal habe ich auf ihren Block geschrieben, mal sie auf meinen. Mirja hat echt was im Kopf und dazu noch eine ganz spezielle Art von Humor, welche mir sehr gut gefällt. Ich musste mich einige Male richtig zusammennehmen, um nicht mitten im Unterricht laut loszulachen. Jedenfalls sind wir nun ungefähr einig, dass wir uns in der ersten Ferienwoche treffen und, wenn das Wetter mitspielt, ins Freibad gehen. Mirja schwimmt nämlich genauso gerne wie ich. Vor den Ferien klappt ein Treffen zeitlich einfach nicht. Unsere Schule geht zumeist bis 16:00 Uhr und danach kümmert sich Mirja oft noch um ihre demente Großmutter. Ein Mädel, welches klug, hübsch, lustig, sozial, sportlich und dazu noch nicht arrogant ist, das muss man erstmal auf diesem Planeten finden. 

In der Universität bin ich schon gewesen und aus mehren Gründen war das ein echt krasser Ausflug dorthin. In Bielefeld liegt die Uni auf einem Berg und ziemlich nah zur Alm, dem Stadion von Arminia Bielefeld. Es ist eine sehr neue Universität. Eröffnet wurde die, wie ich mal in der Zeitung gelesen habe, 1969. Bei den alten Unis wie in Bonn oder Münster verteilen sich die verschiedenen Fakultäten oft über das ganze Gebiet der Stadt. In Bielefeld befindet sich alles unter einem Dach, in einem einzigen Gebäude, was bedeutet, dass die Universität ein riesiges Teil ist. Für mich könnte sie auch ein gewaltiges Raumschiff sein. Daran habe ich jedenfalls gedacht, als ich mich auf den Eingang zubewegt habe. Der Architekt muss echt genial gewesen sein. Ich bin mit meinen Eltern viel in dieser Welt herumgekommen, aber ein solch ungewöhnliches Bauwerk habe ich selten gesehen. Innen gibt es eine riesige zentrale Halle, mit zahlreichen Treppen, einer Galerie und Brücken von einer Seite auf die andere. Das erinnert mich irgendwie an das Innere, was man in den Star Wars-Filmen von den Todessternen und den Sternzerstörern sehen kann. Ich musste mich, nachdem das erste ehrfürchtige Staunen vorüber gewesen war, dort erstmal orientieren und habe sicherlich zwanzig Minuten gebraucht, bis ich das Büro von der Japanischlehrerin gefunden hatte. Das war ziemlich weit oben und aus den Bürofenstern konnte man direkt auf das Grün des Teutoburger Waldes schauen. Die Frau, von der meine Eltern das Haus gekauft haben, heißt samt akademischem Titel Frau Doktor Ursula Kojima-Ottovordemgentschenfelde. Das ist kein Witz. Komm selbst nach Bielefeld und schau nach! So steht es auf einem Schild neben ihrer Bürotür. Ich musste erstmal tüchtig grinsen und gegen das Lachen ankämpfen, bevor ich an die besagte Bürotür geklopft habe und eingetreten bin. Als erstes ist mir aufgefallen, wie hell es in dem Büro war und was für große Fenster es hatte. Durch die Fenster gab es, wie gesagt, einen richtig coolen Blick auf den Teutoburger Wald und ich habe mir für einen Moment gedacht, dass es sicherlich eine coole Sache wäre, in der Universität zu wohnen. Nur die Strom- und Gasrechnung möchte ich dann nicht bekommen. Aber Spaß beiseite; Frau Doktor Ursula Kojima-Ottovordemgentschenfelde (ich muss immer noch grinsen, wenn ich diesen Namen schreibe) sah sehr streng aus; ein graues Kostüm, die bereits grauen Haare zu einem Knoten gebunden und eine goldene Brille. Das Gesicht wies bereits ein paar Falten auf und ich glaube, die hat Puder dafür verwendet. Es mag vielleicht gemein sein, aber ich musste zuerst an Frau Mahlzahn aus Jim Knopf von der Augsburger Puppenkiste denken. Die sah wirklich so aus, wie man in einem Film eine sehr strenge Lehrerin darstellen würde. Aber endlich war die unterm Strich ziemlich nett. Die hat sich sehr viel Zeit genommen, hat das Buch in aller Ruhe durchgeblättert, ist hier und da zu dem Bücherregal gegangen, um Vergleiche anzustellen und Dinge nachzuschlagen. Nach etwa zehn Minuten hat Frau Doktor mir dann gesagt: "Also, ich kenne das, was in diesem Buch dargestellt wird, leider nicht. Sicher bin ich mir jedoch, dass es sich dabei um eine Sprache handelt. Es ist eine Sprache, auch da bin ich mir ganz sicher, die künstlich, also von irgendwem entwickelt worden ist, und die sich wahrscheinlich auf irgendwelche mathematischen Prinzipien stützt. Dass es der Person sehr wichtig mit dieser Sprache gewesen sein muss, sieht man daran, wie gut dieses Buch einst verarbeitet worden ist und wie gut es all die Jahre überstanden hat. Denn von der Technik der Fertigung, die hier angewendet worden ist, schätze ich, dass das Buch im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert gefertigt wurde. Hier wurde schon Geld in die Hand genommen, damit das entstehen konnte, was jetzt hier vor uns auf dem Tisch liegt. Schade nur, dass es keine Hinweise drauf gibt, wie man diese Sprache anwendet und übersetzt. Daher gehen wir mit ziemlicher Sicherheit mal davon aus, dass das kein Wörterbuch und keine Grammatik darstellt. Wenn Sie es erlauben, Herr Trautmann, dann möchte ich gerne ein paar Seiten daraus kopieren, um sie einigen meiner Kolleginnen und Kollegen zu zeigen. Vielleicht wissen die mehr damit anzufangen als ich." Natürlich habe ich nichts dagegen gehabt und ich fand es überaus nett von ihr, dass sie mich gesiezt hat. Das haben bislang noch nicht viele ältere Menschen getan. Jedenfalls ist sie kurz aus dem Büro gegangen, um die Kopien zu machen und ich habe mir in der Zeit ihrer Abwesenheit die Fotos angeschaut, die überall gerahmt in ihrem Arbeitszimmer hingen. Frau Doktor scheint religiös zu sein, denn viele Fotos zeigten sie mit Pastoren oder Bischöfen oder was auch immer, so genau kenne ich mich da nicht aus. Ich habe nur gesehen, dass das irgendwelche religiöse Persönlichkeiten gewesen sind. Als Frau Doktor dann wieder zurückgekehrt ist, hat sie mir das Buch gegeben und gesagt, dass sie sich bei mir melden täte, wenn sie Neuigkeiten von ihren Kollegen und Kolleginnen erfahren würde. Ansonsten solle ich bitte meine Eltern ganz nett grüßen. Bevor ich das Büro verlassen habe, konnte ich noch einmal einen Blick hinaus aus den Fenstern und auf den wunderschönen Wald dahinter werfen. Danach habe ich mir noch in einem von den vielen Cafes, die es in der Bielefelder Uni gibt, eine Cola gekauft und mich auf eine der Bänke gesetzt in der riesigen Halle, um einfach nur ein wenig die ganz besondere Atmosphäre an diesem abgefahrenen Ort zu genießen. So, jetzt bist Du auch in Sachen des Buches, welches mir in meinem Praktikum geschenkt wurde, auf dem neusten Stand.

Gut, jetzt ging es hier genug um mich, jetzt kommen wir mal zu Dir und Deiner Tänzerin (...)