Kapitel 11 - Am Ende der Vorrunde


Schreiben von Carsten Arndt an Robin Trautmann, Mittwoch 20. Juni 1990 (per Fax)


Hallo Robin,

zunächst einmal Entschuldigung dafür, dass ich mich solange nicht gemeldet habe. Natürlich erkläre ich Dir auch die Gründe. Ein Freund von meinem Vater spielt doch in einer belgischen Jazz-Band. Die haben jetzt ihr drittes Studioalbum aufgenommen. Pech für ihn und Glück für mich war, dass sich der Pianospieler bei einem Unfall mit dem Fahrrad den rechten Arm gebrochen hat und nicht mit ins Studio zu den Aufnahmen gehen konnte. Du kannst sicherlich erraten, wer den armen Kerl ersetzt hat. Ich habe mich zwei Tage lang mit der Notation beschäftigt, kräftig geübt und dann haben die Aufnahmen auch sehr gut geklappt. Die Mitglieder der Band waren jedenfalls voll des Lobes für mich. Es ist echt aufregend gewesen, in einem richtigen Studio unter professionellen Bedingungen Musik aufzunehmen und mit richtigen Berufsmusikern zusammenzuarbeiten. Und noch dazu wird mein Name bald auf dem Cover eines Albums stehen samt Danksagung. Okay, ich muss natürlich sagen, dass diese Band nur in der belgischen Jazz-Szene und im deutschen Grenzgebiet wirklich bekannt ist, wobei bekannt natürlich noch mal etwas genauer hier beschrieben werden muss. Bekannt im Jazz zu sein, ist was ganz anderes als im Rock oder Pop bekannt zu sein. Da ist dann alles eben ein paar Nummern kleiner, aber die Mitglieder der Band, mit denen ich zusammen gespielt habe, können von ihrer Musik leben. Und das muss man erstmal schaffen. Daher bin ich schon etwas stolz auf mich.

Die Tänzerin hat mich gestern angerufen. Wir haben recht lange telefoniert und sie möchte in den Sommerferien, bevor sie für fast zwei Monate in einem Hotel auf Fuerteventura als Animateurin arbeitet, eine gute Freundin in Köln besuchen. Das ist dann nicht sehr weit weg von Aachen und wir sind uns einig, dass es cool wäre, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und uns in Köln zu treffen. Ich freue mich schon ziemlich darauf, aber es ist noch eine ganze Weile hin und in dieser Zeit kann natürlich jede Menge passieren. Vielleicht ist bis dato ja auch vollkommen die Luft raus. Ich glaube das zwar nicht, aber im Leben  ist alles möglich. Wie sieht es eigentlich bei Dir und diese Mirja aus der Parallelklasse aus? Ihr wolltet doch irgendwann mal zusammen was trinken gehen nach der Schule.

Ansonsten schaue ich, wann immer es mir möglich ist, natürlich die Fußballweltmeisterschaft in Italien. Deutschland hat gestern zum Ende der Vorrunde nur 1:1 gegen Kolumbien gespielt. Ich war in den ersten Momenten nach dem Schlusspfiff schon enttäuscht, was wohl auch daran gelegen hat, dass die Mannschaft die Spiele davor echt genial gespielt hat. Aber jetzt denke ich, dass die einfach nicht mehr hundert Prozent gegeben haben, weil die nach den ersten beiden Spieltagen schon ganz sicher als Erster der Gruppe für das Achtelfinale qualifiziert gewesen sind. Außerdem, das ist meine Meinung zu dem Spiel, hat Deutschland wesentlich besser als Kolumbien gespielt. Die Südamerikaner haben wirklich Glück gehabt, dass die in der Nachspielzeit noch den Ausgleich gemacht haben und dadurch als Gruppendritter weitergekommen sind. Hätte Deutschland hundertprozentig gespielt, dann wäre das Spiel 3:1 oder 4:1 für uns ausgegangen. Heute Abend ist dann Schottland gegen Brasilien angesagt und ich hoffe, dass die Schotten vielleicht was reißen können, denn die sind mir sympathisch und es wäre denen zu gönnen, wenn die endlich einmal die Vorrunde bei einer WM überstehen. Aber richtig interessant wird es morgen, wenn diese komische Gruppe F mit den wenigen Toren und all den Unentschieden zu Ende geht. Wer da auf dem dritten Platz landet, kann eventuell der Gegner von uns im Achtelfinale sein. Und das kann, wenn die so weiter einen Driss wie bis jetzt spielen, durchaus Holland sein. Dann würde Deine Befürchtung tatsächlich wahr werden. Dass England auf dem Dritten landet, glaube ich nicht. Dafür haben die bislang in dieser seltsamen Gruppe noch von allen anderen Mannschaften am besten gespielt. Außerdem schlagen die morgen Abend Ägypten. Du wirst sehen.

Die Kopie aus dem Buch ist ziemlich merkwürdig. So seltsame Zeichen, oder was immer sie sein sollen, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Zuerst habe ich sie meinen Eltern gezeigt, die leider genauso wenig damit anfangen konnten wie ich. Meine Mutter denkt, dass das einfach nur irgendein Quatsch ist. Dass das Buch irgendwelche jungen Leute gefertigt haben, die damit irgendeine Person hinters Licht führen wollten, vielleicht ihren Lehrer oder den Professor. Mein Vater hingegen sieht die Sache etwas anders. Er meint, dass könnte auch der Versuch vor langer Zeit gewesen sein, eine neue und, wie er es sagte, ökonomische Sprache zu erschaffen. Eine Plansprache nennt man das wohl. Die bekannteste Plansprache, erklärte mein Vater mir weiter, sei Esperanto. Aber Esperanto ist das in Deinem Buch in keinem Fall. Und natürlich habe ich die Kopie meinem Musiklehrer Doktor Weinheim gezeigt und später noch den Männern, mit denen ich das Jazz-Album aufgenommen habe. Allesamt sind das absolute Profis in dem Bereich, aber allesamt können sie überhaupt nichts damit anfangen. Mit Aufzeichnungen, um Musik grafisch darzustellen, so erklärten sie mir, habe die Sache ganz sicher nichts zu schaffen. Es tut mir leid, dass ich Dir nicht weiterhelfen konnte. Vielleicht weiß diese Frau an der Bielefelder Uni ja etwas damit anzufangen. Warst Du schon bei der oder hast Du den Termin erst noch?

So, mein guter Freund, jetzt mache ich mal Feierabend mit dem Schreiben für heute und werde das Papier durch die Faxmaschine jagen. Ich freue mich schon, wieder von Dir zu lesen.

Bis bald und liebe Grüße 

Carsten