Kapitel 10 - Gedanken zur Nacht (Roter Stern)


Tagebucheintrag von Iulia Asimov am Freitag, den 22. November 2030

Heute war London, wie man sich die Stadt an einem Tag in Mitten des Herbstes vorstellt; ein Stereotype. Nebel lag über der Themse und all den Häusern der Metropole, ob diese nun groß oder klein sind. Hier und dort fiel in unregelmäßigen Abständen Nieselregen in die weißlichen Schwaden hinein. Mein Vater schaute aus dem Bürofenster heraus und er sah über die Szenerie des Nebels, aus welchem hier und dort die Dächer der umliegenden Gebäude wie Inseln aus einem milchigschäumigen Ozean herausragten. Sein Blick verweilte jenseits der Scheibe für einen unbestimmten Zeitraum, bevor er sich an den Leiter HR sowie mich wendete und leise sagte: "Die Stadt trägt heute mal wieder ihr Totenhemd. Ich könnte dahingehend vielleicht auch mal zu einem der Schneider in der Savile Row gehen und mich beraten lassen. Stilvoll sollte der Mann diese Welt verlassen." Er schenkte uns dabei ein freundliches, entspanntes Lächeln, welches ich erst tausendfach in jede nur erdenkliche Richtung interpretierte. Doch endlich kam ich zu dem Schluss, dass dieses Lächeln tatsächlich nichts anderes war als eine Begleiterscheinung seines berühmten schwarzen Humors und ein Zeichen der bereits erwähnten Entspannung. Ja, seit Papa weiß, dass das Unternehmen in Familienhand bleibt, wirkt er vollkommen entspannt. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein Mensch so entspannt sein kann, wenn ein derartig brutales Schicksal ihn umgibt. Aber darüber kann wohl nur der Mensch urteilen, welcher tatsächlich mit einem solchen Schicksal zu leben hat. Doch hin zum Zustand der Entspannung musste ich meinen werten Herrn Papa eher nötigen als sanft zu geleiten.

Letzte Woche ging ich zu ihm, um die berühmte imaginäre Pistole auf die imaginäre Brust zu setzen. Er sperrte sich erst komplett, lag mir wie erwartet im Ohr mit dem Haifischbecken, vor dem er mich immer habe fernhalten wolle. Er argumentierte, dass ich auf dem Sprung stehe, Professorin an der Universität zu werden. Andere Menschen würden ihr Leben lang von einer solchen Karriere träumen und doch täte es ewig nur ein Traum bleiben. Papa wurde philosophisch. Er sprach von der großen Freiheit, welche ich als einer von ganz wenigen Menschen auf dieser Welt in Gänze besäße. Ein Unternehmen wie die Asimov-Gruppe zu führen, sei hingegen die völlige Aufgabe von Freiheit. Das Unternehmen bestimme an vierundzwanzig Stunden und dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr das Leben. Jede Entscheidung über das wenige Tun außerhalb des Unternehmens würde strikt durch dieses selbst bestimmt und niemals habe man den Kopf auch nur für eine Minute frei davon. Ein solches Dasein als Geschäftsfrau und Geschäftsmann sei die ausgeprägteste Form der Sklaverei, nur wisse man lange selbst nicht, dass man der Sklave sei und wenn man es merke, wäre es längst zu spät. Das wolle er mir ersparen. Abschließend erwähnte er noch, dass ich mich ja bereits voller Hingabe um die Stiftung kümmere und somit bereits ausreichend Teil des Unternehmens sei. Nun war die Zeit meiner Argumentation gekommen. Ich sagte in etwa wie folgt:

"Seit über siebenundzwanzig Jahren tust du alles, damit deine Tochter glücklich ist und ein Leben führen kann, welches ein Mensch doch eigentlich nur aus einem Märchen kennt. Du hast mir für alles den Rücken freigehalten und mir alles ermöglicht, was ich machen wollte. Du hast mich nie zu irgendetwas gezwungen oder gedrängt, wie andere Eltern das doch bei ihren Kindern zu tun pflegen. Ich meine, Papa, wie viele Damen und Herren dort draußen sind Ärztinnen und Ärzte, weil es der Wunsch der Eltern war! Denn diese sind ja auch Ärzte gewesen und deshalb muss das Kind nachfolgen. Das sind dann die Ärzte, die immer so lustlos und humorlos daherkommen. Wie viele Beamte dort draußen sind Beamte, weil ihre Eltern das für die bürgerlichste Karriere schlechthin halten! Wie viele Kinder werden mit drei ans Tennisnetz gestellt, damit sie eines Tages Ruhm bringen, in welchem sich die Eltern sonnen können! Kannst Du Dich noch an Alexandra erinnern, mit der ich befreundet war, bis sie im Alter von zwölf auf dieses Eliteinternat in der Schweiz geschickt wurde und wir uns aus den Augen verloren haben? Alexandra war damals auf der Tennis-Juniorentour eine ganz große Nummer. Alle haben den Eltern zu einer solchen Tochter gratuliert. Doch Alex, sie sagte es mir selbst, hat Tennis gehasst. Sie hat alle ihre Gegnerinnen in Grund und Boden gespielt und es sah so leicht aus, als sei es die Erfüllung ihrer Träume. Dabei hat Alex Tennis gehasst. Sie hat das Training, die Spiele und sogar die Frau gehasst, die im Club geputzt hat. Du hast mir das alles erspart, obwohl sowohl Mama als auch ich wissen, dass du es trotz deiner Worte über Haifischbecken gerne gesehen hättest, wenn die Firma nach deinem Ausstieg auf irgendeine Art und Weise in der Hand der Familie bleibt. Denn die Firma ist dein Lebenswerk und nach deiner Frau und deinem Kind das einzige auf dieser Welt, was dir irgendwas bedeutet. Und innerhalb des Unternehmens ist es das Project Starshot, welches dein liebstes Kind ist. Ich habe doch mit Oma und Opa über ihr ältestes Kind geredet. Du hattest das Lesen gerade erst erlernt, da haben sie dich Nacht für Nacht dabei erwischt, wie du Comics mit der Taschenlampe gelesen hast, nachdem das Licht ausgeschaltet worden war und die Schlafenszeit für den Knaben begonnen hatte. Du hast Star Wars, Valerian und Veronique und tausend andere Science-Fiction-Comics gelesen oder Bücher über das Weltall. Es ist dein großer Traum, zu den Sternen zu reisen. Du hast 2016 damit begonnen, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Dass du die endgültige Erfüllung nun nicht mehr erleben wirst, bricht Mama und mir das Herz. Aber ein gebrochenes Herz kann heilen im Gegensatz zu jenem, welches vollkommen zerstört ist. Und es würde unsere Herzen vollkommen zerstören, wenn du wegen deines Lebenstraums nicht in Frieden von dieser Welt gehen könntest. Und du wirst niemals ganz in Frieden gehen, wenn ein Manager, mag er auch noch so fähig und fleißig sein, die Geschäftsführung deines Lebenswerks übernimmt. Daher zahle ich dir nun zurück, was du mir gegeben hast. Ich werde die Asimov-Gruppe leiten und deinen großen Traum mit der Reise nach Singer C2 Wirklichkeit werden lassen. Es ist nur gerecht, dass ich mich nun krumm mache für dich, wo du dich doch all die Jahre für Mama und mich krumm gemacht hast. Und mach dir bitte keine Sorgen, dass ich scheitern könnte. Ich habe deine gewaltige Intelligenz geerbt und du wirst mir alles beibringen, was ich später wissen muss, um im Haifischbecken nicht zu ertrinken. Du wirst mein Lehrer sein. Und weil wir zwei Hübschen nicht mehr all zu viel Zeit haben, fangen wir direkt morgen an. Touché?"

Dann fing Papa zu weinen an. Ich hatte bislang meinen Vater niemals weinen sehen, nicht ein einziges Mal. Aber als er nach einer für mich schwerlich zu bestimmenden Zeitspanne mit dem Weinen aufhörte und sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen wegtupfte vom Gesicht, da sagte er:

 "Touché. Ich habe dir ja nie was abschlagen können. Weißt du noch, wie ich dir als Kind, wo wir eigentlich nur eine Pizza holen wollten, das halbe Sortiment von Playmobil gekauft habe? Wir wollten gar nicht in den Spielzeugladen gehen, aber der war nun eben leider neben der Pizzeria und du hast mich breitgetreten, doch mit dir in den Laden zu gehen. Ich habe mich drauf eingelassen mit der Aussage, es gebe nur eine Kleinigkeit, ein Hörspiel oder ein Kleid für die Puppe oder eine kleine Packung Playmobil. Tja, der Rest ist Geschichte. Als wir nach Hause gekommen sind, habe ich noch nie deine Mutter so sauer gesehen. Sie hat mir gesagt, ich würde dich zu einer hochnäsigen Prinzessin verziehen, die niemals eine Beziehung zum Geld haben werde. Ich würde eine arrogante Schnepfe erschaffen, die später mit Verachtung auf alle Menschen hinabblicke, die sozial schwach seien. Einen Menschen, für den nur Kaufkraft und Geld zähle, ohne dass dieser Mensch selber in der Lage sei, Geld zu verdienen, weil der liebe Papi ja alles regele und so weiter und so weiter. Zwei Tage hat Mama nicht mit mir geredet oder nur das Nötigste, bevor sie mir verziehen hat. Aber uns beide zusammen in die Stadt gehen lassen, hat sie danach nie wieder. Schon gar nicht, als du Teenagerin geworden bist."

Danach fing Vater an zu lachen und ich stimmte mit in diesen freudigen Ausbruch an Emotionen ein. Ich glaube, wir haben als Vater und Tochter niemals zuvor so intensiv und herzlich miteinander gelacht. 

Kehren wir aus der näheren Vergangenheit ins Hier und Jetzt zurück; aktuell ist es kurz nach 23:00 Uhr und der Nebel hat sich längst verzogen und die finsteren, tiefhängenden Wolken sind mit ihm gegangen. Es ist eine kalte, klare Nacht und wäre die Lichtverschmutzung nicht, der Himmel über London wäre ein Meer von silbern funkelnden Sternen. Erst seit knapp einer Stunde bin ich wieder in meiner Wohnung. Zuvor hatte ich diesen Tag von 09:00 bis 21:30 Uhr mit Papa und den leitenden Angestellten in der Zentrale des Unternehmens in der City verbracht. Es sind eindeutig die Nachtstunden, die ich besonders mag. Ich fühle mich wohl an der Schwelle hin zu dieser Tageszeit und meistens sitze ich dann noch im Wohnzimmer, trinke ein Glas Wein und höre klassische Musik, um mir dabei meine berühmten Gedanken zum Tage oder, genauer formuliert, zur Nacht zu machen, welche dann wiederum Einzug partiell in das Tagebuch finden.

Heute drehen sich diese Gedanken zur Nacht vor allem um das, was nach dem Tod passiert. Es ist dieses ja wohl eine der ältesten Fragen der Menschheit und ich frage mich dazu, ob es tatsächlich eine unsterbliche Seele gibt, die immer dann in ein Paradies eingeht, wenn der Träger dieser Seele zu Lebzeiten ein anständiger Mensch gewesen ist. Werde ich Papa eines Tages an einem solchen Ort wiedersehen? Wird unsere Familie dort eines Tages wieder vereint sein und werden wir dort das Antlitz unserer besten irdischen Tage tragen? Oder ist es nach dem Tode schlicht und einfach vorbei und der Mensch wird zu einem kaputten Fernseher, welcher mit durchtrenntem Stromkabel in einer vermüllten Sackgasse im Nieselregen liegt? Ist die Hoffnung auf Wiedersehen, ewiges Leben und Erlösung aber auch dann nicht verloren, weil es doch das Multiversum gibt? Die Zeit, so die Theorie dazu, teile sich an jedem Punkt und bilde in neues Universum, in dem dann alles möglich sei. Wenn dem so ist, muss es also auch irgendwo ein Universum geben, wo wir als Familie wieder vereint sind und Papa keinen Krebs in sich trägt. Wo keine Diagnose solch schrecklicher Natur existiert und Papa lebt, bis er mindestens fünfundachtzig ist und noch bei klarem Verstand mitbekommt, wie das Miniaturschiff den Exoplaneten Singer C2 erreicht. Und sind wir dann verstorben, wir alle drei aus der kleinen Kernfamilie, dann geht es in einem anderen Universum, welches Teil des stetig wachsenden Multiversums ist, einfach weiter; das ewige Leben mal auf eine andere Art und Weise. Hier übernimmt der Glaube an die Wissenschaft - die Theorie eines Multiversums ist tatsächlich in der modernen Physik vorzeigbar - den Glauben an eine transzendente Welt mit dem gleichen Ergebnis: Irgendwann werde ich irgendwo ewiges Leben haben. Es ist ein Thema, mit dem der Mensch sich locker bis zum Erwachen eines neuen Tages befassen kann, nur bin ich aktuell dazu leider viel zu müde, um hier noch weiter meine Gedanken zur Nacht zu Papier zu bringen. Und morgen steht der nächste Zwölf- bis Vierzehnstundentag an. Obgleich ich in mir weiß, dass das, was ich tue, absolut die richtige Entscheidung gewesen ist, steht eine Sache jedoch fest: Du nette, beschauliche Universität in der amerikanischen Provinz; ich werde Dich vermissen!