Die Nacht vor dem Finale

 


...es beginnt mit dem Anruf an einem verkaterten Samstag und endet im okkulten Wahnsinn

 

Anno 2008 steht Naturwissenschaftler Doktor Jonas Twelker auf der Sonnenseite des Lebens. Er befindet sich auf dem Weg zum Professor, die Heirat mit seiner intellektuellen Freundin steht unmittelbar bevor.

Diese Welt in Trümmer legt eine Postsendung, welche er in seinem Fach an der Bonner Universität findet. Sie enthält ein Erpresserschreiben samt Beweisen, die Jonas mit seiner unheilvollen Vergangenheit konfrontieren. Vor zwölf Jahren, als er in seiner Heimatstadt Bielefeld gerade sein Abitur hinter sich gebracht hatte, beging Jonas zusammen mit zwei Freunden aus einer perversen Laune heraus ein schier unfassbares Verbrechen.

Der Erhalt dieser Sendung bedeutet für Twelker den Abstieg hinab in die irdische Hölle, deren Dauer Jahre anhält und deren menschliche Abgründe immer tiefer und tiefer werden. Doch existiert gar eine noch wesentlich finsterere Welt dahinter?

Den Roman könnt Ihr kostenlos auf diesem Blog lesen. Einmal pro Woche werde ich ein neues Kapitel online stellen.

Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen! 


Die Nacht vor dem Finale

 

Für all jene, über welche du einst annahmst, sie seien wahre Freunde, und deren tatsächliche innere Beschaffenheit du erst dann erkennst, wenn es zu spät ist.

 Und selbstverständlich für all jene, deren volle menschliche Qualitäten du vielleicht registrierst, nachdem sie längst aus deinem Leben entschwunden sind.

 

Koblenz, im Frühjahr 2023

 

Cover; Eigenproduktion, Bildquellen: Pixabay

 

 

 

 

 

Teil I

 

Die Postsendung

 

„Der ist ein Menschenmörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus dem Eigenen; denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge.“

Johannes 8/44

 

  

Kapitel 1

(Bonn im Sommer 2008) Beim siebten oder achten synthetischen, nervtötenden Heulton registriert mein benebelter, schwermüder  Geist, dass hier nicht die elektrisch verzerrte Trompete des Jüngsten Gerichts pustet, sondern mich schlicht und einfach meine Freundin Dilek anruft. Sie wollte sich melden, sobald ihre erste Nacht in der Fremde vorüber und der Premierentag dort in Gang gekommen sei. Meine Hand fährt unter der dünnen Sommerdecke aus und greift nach dem schnurlosen Telefon auf dem Nachttisch, ertastet zunächst eine halbvolle  Glasflasche, findet endlich aber das gesuchte Objekt.

„Hallo!“
„Na, Süßer. Habe ich dich geweckt?“

„Nicht so wirklich. Ich bin schon wach. Aber liege noch im Bett. Wie geht es dir?“

„Ausgezeichnet“, antwortet mir die sinnliche Frauenstimme. „Ich habe wunderbar geschlafen und inzwischen festgestellt, dass ich hier wirklich gut entspannen kann, Schatz. Ich glaube, in diesem Landhotel werde ich richtig zur Ruhe kommen.“

„Das ist schön, Dilek“, sage ich und merke, welche gewaltigen Mengen an Alkohol gestern konsumiert wurden. „Das freut mich so für dich.“

„Und wie geht es dir?“, fragt die süße Dilek, auf die ich eigentlich immer, nur im Moment, mein Zustand trägt die Schuld, so überhaupt keine Lust verspüre.

„Ganz gut“, lüge ich. „Nur ein wenig müde.“

Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf explodiert, gleich einfach in tausend Scherben zerspringt, wenn mein Magen ihm in Punkto Zerstörung nicht zuvorkommt.

War es nicht schon im Voraus klar, dass du, Freund Twelker, wenn Dilek ihre Erholungsreise antritt, derart über die Stränge schlagen würdest? Selbstverständlich war das klar!

„Schön“, sagt Dilek. „Was hast du gestern gemacht?“

„Ich war bis 21:00 Uhr im Institut. Dann bin ich am Rhein spazieren gegangen und später konnte ich nicht schlafen, weil du mir so fehlst wahrscheinlich. Ich bin bis drei, vier Uhr morgens durch die Wohnung gelaufen, bevor ich endlich Schlaf finden konnte. Ich hoffe, du bist bald wieder hier. Ich vermisse dich, Schatz.“

Meine Worte errichten ein wundervolles Lügengebilde und eine lauwarme Halbwahrheit; auf der einen Seite vermisse ich Dilek tatsächlich, auf der anderen ist es gar nicht verkehrt, dass sie zehn Tage anderswo weilt. So kann der Mann des Hauses sich ganz ungeniert bei sich bietender Gelegenheit dem Nachtleben hingeben, wie dieses zum Beispiel gestern ausschweifend der Fall war.

„Ich vermisse dich auch. ` freue mich schon, wenn ich dich wieder gut erholt in die Arme nehmen kann“, erklärt meine Freundin.

Als legen zentnerschwere Gewichte und nicht lediglich ein ausgiebiger Kater auf meinen schmalen Schultern, setze ich mich im Bette auf und lasse den Blick durch das Schlafzimmer schweifen.

Auf dem Nachttischlein steht eine halbleere Flasche Bitburger mit einer Zigarettenkippe im schalen Bier, eine geöffnete Dose Jack Daniels Cola liegt achtlos auf den Dielen des Fußbodens vor dem Kleiderschrank und der Fernseher dem Bett gegenüber zeigt stumme Bilder eines Dokusenders, von dem ich mich nicht entsinnen kann, ihn eingeschaltet zu haben; eine harte, wirklich ausgesprochen harte Nacht!

Ein bestialisch stechender Schmerz in meinem Kopf unterstreicht die eiserne Härte des kürzlich Gewesenen.

Wollte Dilek mich in den Arm nehmen bei ihrer Rückkehr? Wahrscheinlich...

„Ich werde dich nie wieder loslassen, wenn das passiert“, murmele ich.

Gleich einer Teenagerin kichert Dilek wohlwollend über meine Worte und während ich noch ihrer Gemütsäußerung lausche, piept unter der Bettdecke das Mobiltelefon.

Wie kommt das Gerät bloß an diesen Ort? Was hast du gestern in den letzten zwei, drei Stunden der Nacht eigentlich genau gemacht, Freund Twelker?
Als ich nach meinem Samsung krame, ist Dilek noch immer positiv von meinen Worten angeregt.

„Darauf freue ich mich schon“, sagt sie schließlich.

Ich habe mein Handy gefunden, klappe es auseinander und sehe auf dem Display, dass Markus Herbig mir eine Textnachricht geschickt hat.

„Und wie ich mich freue“, antworte ich ihr beiläufig. „Was hast du heute noch vor?“

„Ich gehe spazieren. Hier in den fränkischen Wäldern. Ganz alleine. Aber ich werde an dich denken dabei.“

 

Hey Jonas,

war ein richtig geiler Abend gestern. Was? Wollen wir heute wieder losziehen? Ich hätte schon richtig Lust. Ruf an, wenn du ausgeschlafen bist. Gruß, Markus

 

 

Schon im Studium, wo Markus als angehender Paläontologe Biologie als Nebenfach belegte,  und wir uns in einem Kurs zur Stammesgeschichte kennenlernten, nannte man ihn den Unverwüstlichen, wenn es um das Partymachen ging; einen Spitznamen, den er bis heute voller Würde trägt. Während ich nach einer Sauftour wie der gestrigen mit meinen fast dreiunddreißig Lebensjahren mittlerweile zwölf bis zwanzig Stunden Erholungspause benötige, schläft der gute Doktor Herbig vielleicht vier, um nach dem Aufstehen fröhlich weiterzuzechen.

„Schön, dass du an mich denkst. Ich denke auch an dich“, murmele ich.

Dilek kichert erneut.

„Du, ich muss jetzt ciao sagen. ` bin praktisch schon auf dem Sprung nach draußen. Wir können heute Abend ja nochmal telefonieren“, erklärt sie ganz entspannt.

„So machen wir ` s.“

„Ich liebe dich, Schatz.“

„Ich dich auch und wie.“

Aufgelegt.

Nachdem ich eine Weile dumm im Bett gesessen und auf die Bilder einer Schiffstaufe, die tonlos über die Mattscheibe flimmern, gestarrt habe, melden sich Nachdurst und eine ziemlich volle Blase eifrig zu Wort.

Ich lege Handy und das mobile Teil des Festnetztelefons auf die freie Seite der Matratze, dahin, wo Dilek üblicherweise nächtigt, rappele mich auf und schleppe mich mühsam ins Bad.

Nach dem Pinkeln fällt mein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken.

Au weia!

Die schwarzen Haare stehen wirr ab vom Kopfe, mein eigentlich eher schmales Gesicht sieht ziemlich aufgedunsen aus und das Weiß der Iris durchziehen rote Äderchen. Die dunklen Ringe unter den Augen machen dieses Erscheinungsbild ebenfalls nicht besser und ich möchte gar nicht daran denken, wie eine dritte Person meinen Mundgeruch wahrnehmen täte oder den Schweiß, der in meinem weißen T-Shirt klebt.

Vorteilhaft, dass Dilek mich nicht in diesem Zustand sehen kann. Da sie die feste Meinung vertritt, dass meine Person über ein enormes Suchtpotential verfüge und sie persönlich fast keinen Alkohol konsumiert, sieht sie es alles andere als gerne, wenn ich um die Häuser ziehe. Okay, ich gebe zu, dass, nachdem ich das zweite, dritte Bier intus habe, es mir schwerfällt aufzuhören und brav ins Bettchen zu gehen, aber ob das gleich ein Zeichen für eine mögliche Sucht darstellt, sei mal dahingestellt.

Heraus aus dem Bad und ab in die Küche.

Ich öffne den Kühlschrank und eine kalte unsichtbare Wolke streift meine freie Haut an Beinen und Armen. Neben dem Mineralwasser liegt eine Flasche Bier, lächelt mich förmlich an, scheint mir zuzuzwinkern.

So ein Bierchen ist bestimmt nicht verkehrt gegen den Kater, außerdem kannst du danach sicherlich noch ein paar Stündchen weiterschlafen.

Nach langem hin und her denke ich an Dilek und greife zum Mineralwasser.

Zisch, den Deckel abgedreht, die Plastikflasche zum Mund geführt und einen gierigen Zug gegen den wütenden Nachdurst genommen.

Das Wasser ist so kalt, dass mein vom Alkohol geschundener Magen beinahe verkrampft und ich absetzen muss, bevor in meinem Bauch eine wahre Rebellion stattfindet. An den Kühlschrank gelehnt warte ich eine Minute und nehme dann vorsichtig kleinere Schlucke zu mir, was wesentlich besser funktioniert.

Mit der Flasche in der Hand kehre ich ins Schlafzimmer zurück und beschließe, vor dem Hinlegen lieber zwei Kopfschmerztabletten zu konsumieren. Obgleich Dilek einen Teil an Arzneien in ihren Erholungsurlaub mitgenommen hat, befinden sich extrem viele Medikamentenschachteln in der Nachttischschublade auf ihrer Seite des Bettes.  Die Geschichte ihrer seelischen Krankheit, die partiell auf ihren hübschen Körper übergreift, reicht bis in ihre Studienzeit zurück und die letzten Kapitel sind dahingehend leider noch lange nicht geschrieben.

Andere Männer, so sagte Dilek mir am Anfang unserer Beziehung, schrecke eine solche Tatsache ab, sie täten das Weite suchen, sobald sie davon erführen und deshalb, das erklärte sie zu einem späteren Zeitpunkt, liebe sie mich auch so sehr, weil ich ihre Person mit dieser endlos andauernden Krankheit voll und ganz akzeptieren würde.

Ich finde die Kopfschmerztabletten, genehmige mir zwei davon und lasse mich vorsichtig auf die Matratze zurückfallen.

Ich merke, wie die Müdigkeit mich wieder übermannt und meine Gedanken unzusammenhängender werden. Sie ziehen plötzlich in seltsame, logisch wohl kaum zu erklärende Richtungen.

Bei Kennedy war doch ganz klar eine Verschwörung am Werk und bei den Anschlägen des 11. Septembers ebenso. Aber wie war das mit der Mondlandung? Wie wird das Wetter in den nächsten Wochen? Im Finale der diesjährigen Euro besaß Deutschland nicht den Hauch einer Chance gegen Spanien. Das 0:1 ist da noch ein schmeichelhaftes Ergebnis gewesen. Im Internet schreibt so ein Kerl doch tatsächlich, dass die Erde hohl sei und aus ihrem Inneren heraus eine Reptilienrasse von entsetzlicher Intelligenz den Planeten hinter den Kulissen regiere. Dazu hat der Knilch, Landsmann sein Name, sogar ein Video bei YouTube hochgeladen und vielleicht wohnt dort ja auch der Satan. Hat John Lennon Anfang der 1960er-Jahre für den großen Erfolg seine Seele dem Teufel verkauft? Geht so etwas? Und überhaupt…

Das erneute Heulen meines Festnetztelefons reißt mich aus der Fahrspur, die auf dem direkten Wege ins Reich der Träume führt.

Verdammter Mist!

„Hallo.“

„Jonas?“, fragt mich eine männliche Stimme, die mir irgendwie vertraut vorkommt.

„Ja, Jonas hier. Wer ist da?“

„Andre aus Bielefeld.“

Mein alter Freund Andre aus Bielefeld, welch seltene Ehre wird mir denn da unerwartet zuteil?

Das letzten Mal haben wir uns vor fast genau sechs Jahren gesehen und schauten gemeinsam das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft in unserer Stammkneipe in Bielefeld-Brackwede; Deutschland gegen Brasilien 0:2, eine gehörige Enttäuschung. Wobei es Andre damals mehr ums Saufen als den Sport ging. Er ist wahrlich kein Fußballfan.

Danach riss der Kontakt wohl aus beruflichen und aus Gründen der Distanz sowie einem Mangel an Zeit ab. In Bonn, wo ich bereits seit Beginn meines Biologiestudiums lebe, ging meine Promotion, in die ich sehr viel Arbeit und Ehrgeiz investierte, über die Bühne und Andres Firma fing ungefähr zu diesem Zeitpunkt richtig zu blühen an. Von meiner Mutter und aus dem weltweiten Netz weiß ich, dass sie aktuell bombastisch läuft und tiefschwarze Zahlen schreibt. So sagt man in Brackwede, jenem Stadtteil von Bielefeld, in welchem wir heranwuchsen, hinter vorgehaltener Hand, dass der Faust, so Andres Familienname, mit Mitte dreißig bereits mehrfacher Millionär sei.

„Andre. Schön, dass du dich mal meldest. Wie geht es dir?“

„Schlecht, Jonas. Sehr schlecht.“

Seine Stimme klingt wahrlich jämmerlich, das nimmt selbst ein Schwerhöriger mit defektem Equipment wahr.

Ob Andre Faust gestern Nacht auch so gesoffen hat? Wenn dem so war, dann wahrscheinlich edelsten Champagner, wo er doch mehrfacher Millionär ist.

„Das ist gar nicht gut. Woran liegt ` s?“

Seine Firma ist pleite! Seine Firma ist pleite und jetzt will er sich bei dir ausheulen, Freund Jonas Twelker! 

„Sag, hast Du heute schon in den Briefkasten geschaut?“, kommt es nur als Antwort.

„Warum, hast du mir Post geschickt?“

„Frag bitte nicht, Jonas. Sag mir einfach, ob du heute schon in deinen Briefkasten geguckt hast. Bitte, es ist sehr wichtig.“

Nun fällt mir auf, dass seine Stimme nicht nur jämmerlich, sondern auch extrem besorgt bis an die Grenze zur Verzweiflung heran in meine Ohren dringt.

„Nein. Habe ich noch nicht. Aber warum das Ganze?“

„Bitte, Jonas, stell jetzt keine Fragen. Guck nach der Post und dann ruf mich wieder an! Hast du meine Nummer?“

„Ja, ja. Wenn du sie nicht unterdrückt hast, ist sie schon in meinem Telefon.“

Apropos Nummer! Woher hat Andre Faust meine Nummer? Sie ist neu, erst drei Jahre alt und steht in keinem Telefonbuch und im Internet kann man bei Eingabe meines Namens lediglich die Dienstnummer an der Universität Bonn ersehen.

„Ach übrigens! Woher hast du meine Nummer?“

„Ich habe vorhin deine Mutter angerufen. Natürlich hat sie sie mir gegeben. Und meine eigene Nummer habe ich auch nicht unterdrückt. Würdest du jetzt bitte nach der Post sehen“, lässt Faust nicht locker.

Das Anliegen scheint ihm ernst zu sein, sehr ernst, todernst!

Plötzlich geht es mir hunderttausendmal schlechter, als das durch den Alkohol bereits der Fall ist. Einhergehend mit einem Anfall von Schüttelfrost schlägt eine gewisse Erinnerung, die ich zwölf Jahre meist erfolgreich unterdrückte, plötzlich mit voller Gewalt zu, springt ins Licht eines gleißend hellen Scheinwerfers; Mark, Andre und ich, Jonas Twelker, die drei alten, guten Freunde und ihr tiefdunkles Geheimnis.

 Kann es tatsächlich sein, dass nach all der Zeit noch etwas nachkommt?!

„Sag mal, hat die Sache was mit damals zu tun?“, frage ich und jetzt zittert sichtbar der mobile Hörer der Telefonanlage in meiner Hand.

Schweigen in der Leitung, welches sich endlos hinzuziehen scheint, bevor Andre die brutale Antwort von sich gibt.

„Ja. In der Tat. Das hat es. Aber darüber reden wir besser nicht hier am Telefon. Geh jetzt bitte nachsehen und dann ruf mich kurz zurück und sag mir, was du in deiner Post gefunden hast.“

„Okay. Bis gleich.“

Ich suche den Schlüsselbund - ?wo wurde der gestern nur hingelegt? - und mit jeder verstreichenden Sekunde wird mir übler und übler und kälter und kälter der Sommerwärme zum Trotze. Als ich ihn schließlich im Bereich der Eingangstür finde, müsste sich meine Haut eigentlich in schmutziges Eis mit einer Temperatur nahe des absoluten Nullpunktes transformiert haben.

Nur in Boxershorts, T–Shirt und Badeschlappen verlasse ich meine Wohnung und schlurfe zitternd und gegen Erbrechen ankämpfend die Treppen aus der zweiten Etage hinunter in der festen Erwartung, eine Katastrophe, den Untergang der Zivilisation in meinem Briefkasten vorzufinden. Ich rechne mit Post von der Polizei oder der Staatsanwaltschaft.

Halt! Nicht von der Staatsanwaltschaft. Weil es sich bei unserem Geheimnis nicht um ein paar unbezahlte Strafzettel wegen Falschparkens handelt, hätten bei einer Anklageerhebung schon längst der Handschellen geklickt. Wahrscheinlich will die Bielefelder Kriminalpolizei die Herren Jonas Twelker,  Andre Faust und Mark Wenzel zu einem unverbindlichen Gespräch vorladen, nur ein paar Routinefragen zu einer unschönen Sache, welche sich Ende Juni im Sommer 1996 zutrug.

Gepeinigt von heftigen Magenkrämpfen und leichten Stichen - jedenfalls kommen sie mir so vor - in der linken Brust nähere ich mich der Ansammlung von Briefkästen neben der gläsernen Haustür.

Wir stellen Ihnen nur ein paar lose Fragen, reine Routine natürlich. Niemand steht unter Verdacht, aber können Sie sich noch erinnern, was sie am Samstag, den 29. Juni 1996 zwischen 22:00 Uhr und 03:00 Uhr morgens taten, Herr Doktor Twelker?

Unser Briefkasten liegt genau in der Mitte; der dritte von oben, der dritte von unten.

Zitternd führe ich den kleinen Schlüssel ins Schloss, was meines Getatteres wegen einer wahren Geschicklichkeitsübung gleichkommt, aber endlich steht die kleine Klappe offen.

Im Inneren liegen zwei Briefe, von denen einer meine Handy-Rechnung ist, der andere die Werbesendung eines großen Energielieferanten, welche mich ermuntert, doch bitte die Bonner Stadtwerke zu verlassen.

Erleichterung!

Ich spurte die Treppe hinauf, kehre in die Wohnung zurück und rufe Andre Faust in Bielefeld an.

„Einmal Rechnung, einmal Werbung. Sonst nichts“, erkläre ich meinem alten Freund.

„Sonst nichts?“

„Nein, Andre, sonst nichts.“

Schweigen in der Leitung.

„Sag mal, kriegst du auch Post zu deinem Arbeitsplatz an der Uni?“

„Ja. Des Öfteren. Zumeist fachliche Sachen“, antworte ich.

„Ist diese Adresse...“, Andre zögert kurz. „...ist diese Adresse zum Beispiele im Internet einfach herauszubekommen?“

„Ja, natürlich. Schließlich bin ich wissenschaftlicher Mitarbeiter.“

„Dann solltest du auch dort einmal nachsehen.“

Weil die Post also nicht von offizieller Stelle kommen kann, da Behörden und Polizei meine Privatanschrift spielend herausbekommen hätten, bleibt zunächst Verwirrung über, die allerdings wieder äußerst zügig der Angst weicht; einer furchtbar intensiven Angst.

„Okay“, antworte ich. „Soll ich das sofort machen?“

„Am besten ja. Am besten ja.“

Wir verabreden, später nochmals zu telefonieren.

Schnell ziehe ich mir die gestrige Jeans über, stecke die baren Füße in mein Paar Alltagsturnschuhe und im Laufschritt geht es hinab in den Fahrradkeller, wo mein Mountainbike auf mich wartet.

Auf meiner Fahrt durch die Innenstadt stellt sich der Tunnelblick ein, lässt lediglich die zwanzig Meter Straße vor dem Blickfeld erkennen und mich weder hübsche Mädels in luftiger Kleidung noch all die anderen Menschen wahrnehmen, die an diesem netten Sommertage flanieren.

Etwa zehn Minuten später sperre ich mit zitternden Händen die Tür des Zoologischen Instituts an der Meckenheimer Allee auf und eile von Krämpfen im Magendarmtrakt gepeinigt auf die Postfächer unweit des Eingangs zu. In der für mich bestimmten Ablage befinden sich drei Sendungen. Die erste ist ein großer, brauner Umschlag, der den Katalog einer Spezialfirma für Laborartikel enthält, desweiteren eine handschriftliche Nachricht von Professor Heribert Ruländer, meinem Chef, der einen inneren Groll gegen die sich immer weiter ausbreitende digitale Kommunikation hegt.

 

Lieber Herr Twelker,

 

das wöchentliche Treffen muss wegen eines auswärtigen Termins meinerseits am Mittwoch leider ausfallen. Als Ersatztermin schlage ich den kommenden Donnerstag, 10.00 Uhr vor.

Ich bitte um eine kurze Rückmeldung, wenn Sie diesen Termin nicht wahrnehmen können.

 

MfG

 

Ruländer

 

Und schließlich ein kleines, flaches Päckchen, das eigentlich mehr ein großer Umschlag ist, dessen Adressfeld mit schwarzen Blockbuchstaben beschriftet wurde, die eindeutig meinen Namen samt des akademischen Titels, die Anschrift und die Postleitzahl bilden. Der Entwertungsstempel stammt aus Bielefeld und wirbt für eine temporäre Ausstellung in der Kunsthalle. Nur einen Absender sucht der aufmerksame Betrachter vergeblich.

Dein Todesurteil! Das Päckchen aus der Hölle!

Ich entschließe mich, dass es vorteilhafter wäre, dieses Schreiben in meinem Büro zu öffnen. Trotz des Samstages besteht die Gefahr, mit einem übereifrigen Doktoranden zusammenzustoßen und wer weiß, wie mein Erscheinungsbild rüberkommt, wenn ich den Inhalt des Päckchens genauer in Augenschein genommen habe.

Mein Büro in der obersten Etage ist klein, vollgestopft mit Büchern und der kantige Schreibtisch quillt über vor Papieren.

Ich setze mich in den einfachen Drehstuhl aus schwarzem Kunststoff. Beiläufig streift mein Blick über ein noch unfertiges Skript, das für die Erstsemester im Oktober bestimmt ist. Zum Start in ihr Studentenleben werde ich das Einführungsseminar abhalten, wenn, ja wenn, der werte Dozent dann nicht aufgrund seiner Vergangenheit im Bau oder der Forensik weilt.

Sofort sind meine Gedanken wieder bei dem flachen Umschlag in den Händen, die mittlerweile derartig zittern, dass sie mühelos mit denen eines Saufaus auf Entzug konkurrieren können. Ewigkeiten, so scheint es, brauchen meine Finger, um die Vorgänge zu bewältigen, die von Nöten sind, diese Postsendung zu öffnen. Endlich jedoch liegt der Inhalt auf dem Schreibtisch im Sonnenlicht, welches schräg durch das kleine Fenster in den Raum hineinfällt. Es erhellt einen zusammengefalteten Papierbogen und einen silbernen CD–Rohling.

Ich falte das Papier auseinander und lese die wenigen Worte in kindlichen Blockbuchstaben. Anschließend schließe ich für etwa zehn Sekunden die Augen, als könne diese Aktion bewirken, dass beim Wiederöffnen etwas gänzlich anderes in meinen Händen liegt; der Donnerstags-Kicker oder eine Werbebroschüre der Metro etwa.

Doch die Worte auf dem schlichten Bogen bleiben brutale Wirklichkeit.

 

 

Drei Junge Männer, 12 lange Jahre.

 

Eine ungehäure Tat. Beweise auf CD gebrant

 

Ich kenne Sie alle und ich kenne Ihre Namen.

 

Jonas Twelker

Andre Faust

Mark Wenzel

 

Mein Schweigen wird sein Preis haben. Was bleibd sonst noch übig? Ihr werdet bezahlen ihr Hunde. Ich melde mich wider.

 

Darunter befindet sich eine unleserliche Unterschrift, die alles und auch gar nichts bedeuten könnte; eine Verhöhnung, ein Gefühl des nahen Triumphes, ein kleiner Scherz am Rande.

Der Brief gleitet mir aus den Händen, segelt auf das graue Linoleum des Fußbodens hinab.

Während kalter Schweiß meinen Körper bedeckt und die pure Todesangst in meinem Inneren wütet, fahre ich den Dienstcomputer rauf und lege die CD ein, auf der nur eine einzelne Audiodatei existiert.

Aus den kleinen Boxen im Chaos auf meinem Schreibtisch ertönt:

„So, halt! Genau hier warten wir. In etwa fünf Minuten macht die Spelunke in Gadderbaum dicht. Wir haben also noch reichlich Zeit. Los Mark, leg deinen Rucksack ab und verteil Parka, Einmalhandschuhe und Duschhauben!“

Plötzlich ist alles wieder bis ins kleinste Detail präsent in meinem Kopf. Der Erinnerungsblitz hat brutal eingeschlagen. Weil ich das Folgende unter keinen Umständen hören möchte, wird die Aufnahme rasch gestoppt und plötzlich schmerzt da ein gemeines Stechen in der linken Brust.

Ein Herzanfall! So fängt ein Infarkt an!

Zudem füllt nun derartig viel Schleim meinen Magen und steigt die Speiseröhre hinauf, dass ich ihn unmöglich weiter in mir behalten kann, aber der Weg zur Toilette auf dem Flur ist gerade unendlich weit, ein Fußmarsch bis an den Rand unseres Sonnensystems.

Die flache Hand vor den Mund haltend stolpere ich zum Papierkorb hinüber, um mich auf allen Vieren kauernd in diesen hinein zu übergeben.

Während ich würge, kotze und krächzende Geräusche ausstoße, fangen mir die Tränen über die Wangen zu laufen an wie bei einem Kleinkind, das unter einer schlimmen Magendarmgrippe leidet und seinen Zwieback und seinen Kräutertee erbricht.

Irgendwann ist es vorbei. Nichts kommt mehr aus meinem Magen hoch. Trotz der sommerlichen Temperaturen in meinem kleinen Büro unter dem Dach zittere ich vor Eiseskälte. Ich drehe mich auf die Seite, rolle mich zu einer Kugel zusammen, friere und kann einfach nicht mit dem Weinen aufhören.

Weil die Last eines ganzen Neutronensterns auf meinen Körper hinabdrückt, schaffe ich es nur unter größten Kraftanstrengungen, mich wieder zu erheben und zu dem Bürodrehstuhl zurückzukehren.

Hinter mir in dem vollgestopften Bücherregal tickt jene schmucke schwarze Designeruhr, die Dilek mir geschenkt hat.

Ich hätte ja gar keine Uhr in meinem Büro, stellte sie einst bei einem Besuch fest und ließ auch meine Argumentation nicht gelten, dass man die Zeit doch auch dem Handy oder der Uhr im PC und dem Display des Diensttelefons entnehmen könne.

Eine Uhr, so fuhr sie fort, benötige Zeiger, müsse dreidimensional sein und, am wichtigsten, ticktack, ticktack machen.

Sie eilte umgehend in die nahe Stadt und kehrte eine Stunde später mit eben dieser Uhr zurück, die sie mir feierlich und mit einem dicken Kuss überreichte.

Oh, wie sehr sehne ich mich in diese Vergangenheit zurück; Tage, an denen die Welt noch in Ordnung, noch in ihrer Fugen war.

Ticktack, ticktack, ticktack...

Ich schließe die Augen, worauf Dileks hübsches Gesicht vor meinem inneren Auge auftaucht, um kurz darauf in tausend Scherben zu zerfallen.

Ticktack, ticktack, ticktack...

Tage, an denen die Welt noch in Ordnung, noch in ihren Fugen war...

Ticktack, ticktack, ticktack...

Wer hat dieses Päckchen gesendet? Wer hat dieses Päckchen gesendet? Wer hat dieses Päckchen gesendet?  

Jonas Twelker, Andre Faust, Mark Wenzel.

Ticktack, ticktack, ticktack.

Ich höre die Uhr.

Ticktack, ticktack, ticktack.

Ich erinnere mich.

 

Kapitel 2

(Bielefeld im Sommer 1992) Als ich mitten in der letzten Woche der Sommerferien den Schulhof betrete, scheint die Sonne an diesem späten Nachmittag schräg und heiß vom wolkenlosen Himmel. Gegen ihre intensiven Strahlen muss ich anblinzeln, bevor sich in dem typischen Licht, das dem August zu eigen ist, Konturen abzeichnen.

Im Sand spielen eifrig tobende Kinder, wobei ihre freudigen Laute zu mir herüberschweben und ihre jungen, hübschen Mütter rauchend auf einer der Bänke sitzen, um über die Kleinen zu wachen.

Auf dem Gummiplatz, so heißt das Tartansportfeld auf dem Schulaußengelände umgangssprachlich, geht es unter nicht minder intensiven Geräuschen höchst sportiv zur Sache. Die Jungs spielen Zwei gegen Zwei-Fußball, was bei diesem Wetter extrem anstrengt, noch dazu in Jeans und T-Shirt.

Über Betontreppen gehe ich hinauf zum Platz, öffne die Tür in dem grünen Metallgitterzaun und knalle sie geräuschvoll krachend hinter mir zu.

Das Fußballspiel ist in vollem Gange und für eine Weile beobachte ich, wie der jüngere Martin sich gekonnt, elegant an dem wesentlich älteren, größeren und kräftigeren Christopher – Brauni - Braun vorbeidribbelt, bevor ich mich vorsichtig, um meine Kumpels in ihrem Tun nicht zu stören, am Rand entlang zu einer kleinen Gestalt hinbewege, die rauchend auf der anderen Seite des Platzes an einer orangenen Mauer lehnt.

„Rassel, warum spielst du nicht mit?", frage ich grinsend.

„ Death, Mann!", kreischt er direkt los und deutet mit seiner Hand auf eine Flasche Herforder Pils, die verführerisch oben auf der Mauer steht. „Halt bloß den Rand! Sonst ziehe ich dir mit der Pulle da oben einen Scheitel!"

Rassel, der Fußball auf den Tod nicht leiden kann, meint es nicht so, sondern besitzt eine ganz spezielle Form von Humor. Zur Begrüßung klatschen wir hoch miteinander ab.

Rassel kleidet sich gerne wie der große Mann von Welt und trägt auch heute trotz der Spätsommerhitze dunkle Anzugshose, weißes Hemd, graues Jackett, wobei die Kleidung allerdings mindere Qualität besitzt und sicherlich aus dem Hause C&A oder gar dem Textildiscount stammt. Weil er aus einer einkommensschwachen Familie stammt, die in den nahen Hochhäusern wohnt, bleiben ihm beim Klamottenkauf nur wenige Möglichkeiten. Wahrscheinlich gerade deshalb möchte Rassel, daraus macht er keinen Hehl, eines Tages hoch hinaus und meiner Meinung nach befindet er sich dabei auf einem guten Weg. Am kommenden Montag wird er das letzte Jahr auf der Höheren Handelsschule angehen und danach, betont er stets, sei noch lange nicht das Ende der Fahnenstange erreicht.

Ach ja, seinen Spitznamen verdankt Andre Johannes Faust übrigens einem ehemaligen Grundschullehrer, der behauptet haben soll, er sei eben mehr eine Babyrassel als eine Faust.

Ich wende meinen Blick die Mauer hinauf, auf welcher ein molliges Mädchen sitzt, deren Gesicht eine große Sonnenbrille verdeckt und die wirkt, als leide sie unter der Hitze.

„Hey, Tina!", grüße ich.

Tina erwidert meinen Gruß, indem sie einmal kurz den Kopf senkt, die Hand hebt und danach weiter durch die schwarzen Gläser ins Nirgendwo blickt.

Zwei der Jungs auf dem roten Tartan fangen das Jubeln an. Ihr Team hat zuerst zehn Tore erzielt und somit das Spiel gewonnen. Nach kurzer Freude, Enttäuschung und dem Händeschütteln ganz im guten Sportgeiste streben sie der Mauer zu und greifen nach den Gegenständen, die sich auf ihr und um Tina herum verteilen; Zigarettenpackungen, Wasserflaschen, Coladosen, Bier.

Auch ich bekomme, als ich Sven Vogel beim genüsslichen Schlürfen des Gerstensaftes beobachte, Durst auf ein kaltes Herforder. Da mir allerdings keines zu eigen ist und außerdem die halbe Welt um mich herum zu qualmen begonnen hat, stecke ich mir ebenfalls eine Zigarette, blaue Gauloises, an und inhaliere genussvoll. Normalerweise rauche ich als Schüler aus geldtechnischen Gründen halbschwarzen Drehtabak, aber meine werte Großmutter, bei der ich zwei Wochen der Ferien verlebte, da mir nicht der Kopf danach stand, mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Frankreich zu fahren, gab mir ein großzügiges Entgelt mit auf den Heimweg nach Bielefeld.

Sven Vogel, neunzehn Jahre jung, aber schon einen sichtbaren Bierbauch vor sich hertragend, kommt auf mich zu, das Herforder in der einen, die brennende Lucky Strike in der anderen Hand haltend. Er trägt ein schwarzes Metallica-T-Shirt und seine blonden Haare lang, was ihm, ehrlich gesagt, überhaupt nicht steht.

„Ey, Jonas, hast du den Film gesehen, von dem ich dir gestern erzählt habe?", fragt er mich.

„Ja, habe ich. Voll langweilig, Mann!"

Der Film, um den es geht, heißt Heinrich V. und ist die Verfilmung irgendeines Shakespeare-Stücks. Ich habe etwa zehn Minuten versucht, ihn mir anzusehen, bevor meine Geduld am Ende war und ich auf einen anderen Sender umschaltete.

„Du verstehst ihn wohl nicht, schätze ich", lautet Svens Reaktion.

„Will ich auch gar nicht! Shakespeare ist doch schon lange tot und begraben. Ich lebe im Jahr Neunzehnhundertzweiundneunzig und nicht Sechszehnhundertirgendwas. Was kümmert mich also dieser Typ und seine Werke."

Ab dem kommenden Montag bricht für mich mit dem Start meiner Ausbildung am Oberstufen-Kolleg des Landes Nordrhein Westfalens an der Universität Bielefeld eine neue Ära an. Dort werde ich in vier Jahren hoffentlich die erweiterte Hochschulreife erworben haben; Schwerpunkt Biologie und nicht etwa Anglistik oder Geschichte, wo es um tote Hornochsen wie Shakespeare geht.

Was kümmert mich der Kerl also?

„Das ist kulturelles Erbe, Jonas. Du bist ein Kulturbanause und nichts weiter", sagt Vogel leise und vorwurfsvoll.

„Also ich habe ihn mir angeguckt und muss sagen, dass er gar nicht verkehrt war", schaltet sich ein blonder, hübscher Junge in den Dialog ein, der auf den Namen Mark Wenzel hört. „Ich finde schon, dass man, ob man das nun mag oder nicht, sowas mal gesehen oder vielleicht sogar gelesen haben muss."

„Wegen mir bin ich eben ein Kulturbanause. Ist mir vollkommen Latten. Ich sehe nur, dass Shakespeare und Goethe, und wie sie alle heißen mögen, den II. Weltkrieg nicht verhindert haben und den I. Weltkrieg auch nicht und den Golfkrieg und..."

„Halt den Rand!", kreischt Rassel dazwischen. „Rauch deine Kippe auf und mach dich bereit fürs nächste Fußballspiel! Aber hör auf, hier gottverdammt rumzuheulen!"

„ Ich habe heute irgendwie keine Lust zu spielen. Lasst uns lieber zur Tanke und ein paar Bier holen", lautet mein Vorschlag.

„Da kommt der Asi“, ruft Brauni, den Blick in Richtung der Hochhäuser gewandt.

Der Asi kommt einen Fußgängerweg hinab und bewegt sich schnellen Schrittes auf den Schulhof zu. Er ist etwas älter als ich, schon über achtzehn Jahre, trägt einen Fußball unter dem Arm und dass seine Kleidung billig und verschlissen ist, kann selbst ein Halbblinder aus der Distanz erkennen.

Ich grinse breit.

„Ich glaube, wir sollten doch noch ein Spielchen austragen, bevor wir uns ein paar Bierchen zischen“, sage ich und klatsche hoch mit Sven ab.

Wir alle grinsen mit Ausnahme von Tina, die weiter hinter ihren schwarzen Brillengläsern ins große Nichts zu blicken scheint.

Vom Ostzugang her, jener Seite, auf der sich die orangen Hochhäuser erheben, betritt der Asi den Schulhof. Er geht an der Tischtennisplatte vorbei, läuft über grauen Beton, erklimmt die Treppen, erreicht den Tartanplatz. Sein T–Shirt ist weißgrau, seine kurze Jeans verwaschen blau. Das straßenköterblonde Haar wird von einer Fettschicht bedeckt und er kommt geradewegs und dämlich grinsend auf uns zu. Als der Asi den ersten der Unsrigen, Martin, erreicht hat, streckt er seine Hand schräg gehalten aus, den Daumen dabei abgespreizt. Seit jeher besitzt dieser Kerl die nervtötende Angewohnheit, unschuldige Menschen mit diesem nervtötenden Prollhandschlag zu grüßen.

„Hallo Jonas“, sagt er, als ich an der Reihe bin.

„Hallo Sascha“, entgegne ich und merke, dass er etwas stinkt, was ebenfalls häufiger vorkommt.

Sein voller Name lautet Sascha Quermann. Vor einem Jahr hat er die Hauptschule in Brackwede beendet und macht nun eine Ausbildung zum Elektroinstallateur oder, um es genauer zu formulieren, er macht diese Lehre noch. Quermann spielt schon mit dem Gedanken, die Sache abzubrechen und im Herbst einen LKW–Führerschein zu erwerben. Berufskraftfahrer wie sein Onkel zu werden, gehört zu den größten Träumen Sascha Quermanns. Allerdings fragen wir uns allesamt interessiert, woher ein Sascha Quermann das Geld für einen solchen Führerschein auftreiben will, denn ein Sascha Quermann verfügt niemals über Kohle. Das ist ein Naturgesetz.

Quermann reicht Tina die Hand, die angewidert zurückzuckt, worauf dieser nur dämlich grinst. Nun liegt seine Begrüßungsorgie hinter uns.

„Ich war heute bei Motobecane und wollte eine Ersatzbirne für mein Moped holen. Die Alte, die da arbeitet, ist ja wirklich saublöd. Am liebsten hätte ich die drei Meter hinter dem Tresen genagelt“, fängt er an.

Quermann redet gerne über Lastwagen, große Fahrten und sein Moped oder vielmehr das, was er so Moped nennt. Ein Alkoholiker namens Frank Engel, derzeit Saschas bester Freund, hat es ihm geschenkt, wahrscheinlich, um sich die Entsorgungsgebühren zu sparen.

„Die Alte ist so blöd! Wühlt da in ihrer Kiste rum und findet nichts. Ich sage ihr, lass mich mal dahinter. Sie sagt, ne. Sie können da nicht hinter. Das hat der Chef verboten. Also sage ich...“

„Hast du deine dämliche Birne bekommen oder nicht?“, unterbricht Rassel ihn giftig gereizt und diesmal liegt kein spaßiger Unterton in seinen Worten, wie das eben bei mir der Fall war.

„Ja. Hab ich. Nachdem...“

„Dann bau sie ein und halts Maul! Verdammt noch mal“, schreit Rassel und Martin kichert.

Quermann schaut beleidigt drein und für eine Weile wirkt es gar, dass er sich verbal verteidigen wolle, aber endlich bleibt es bei dem beleidigten Blick. Quermann ist es wahrscheinlich gewohnt, von den meisten Menschen wie der letzte Dreck behandelt zu werden. Manchmal, ich gebe es zwar nicht offen zu, doch stimmt es, tut er mir wirklich leid.

Warum ziehe ich dann immer mit, wenn die anderen ihn runterputzen?

Quermann greift in seine Gesäßtasche und zieht eine Packung Karo-Zigaretten hervor, widerliches Stinkkraut, das er irgendwo für ein paar Mark fünfzig stangenweise von einem Ossi aus ehemaligen DDR–Beständen erworben hat. Als sei Sascha der Star eines Kinowerbespots, zündet er sich im Stile des Marlboro-Mannes mit einem Streichholz eine filterlose Zigarette an. Der Qualm riecht bestialisch und erbringt den ultimativen Beweis dafür, dass Passivrauchen gefährlich ist, aber er überdeckt immerhin Quermanns Körpergeruch ein kleines Quantum.

Während Mark, Sven und Brauni über den neuen Ford Escort diskutieren, Martin alleine mit dem Ball an seinen Freistoßkünsten feilt, Tina weiter ins Nirgendwo blickt und Sascha Quermann mit seiner Karo und seinem Körpergeruch rumstinkt, unterhalte ich mich mit Rassel.

„Dieser Quermann geht mir so auf den Piss!“, raunt Andre mir zu. „Dem müsste man es mal so richtig zeigen.“

„Ach was. Der ist doch schon gestraft genug. Guck ihn dir doch an“, sage ich.

„Darum geht `s nicht! Darum geht ` s nicht!“, keift er plötzlich los und zeigt mit dem Finger auf Quermann. „Der Typ ist eine Beleidigung für die Menschheit. Seine Fresse ist zum Kotzen. Mir wird jedes Mal schlecht, wenn ich diesen Arsch mit Ohren sehe. Außerdem verstößt er ständig gegen ungeschriebene Gesetze des Schulhofs.“

Andre Faust weiß, dass Quermann ihn hören kann, denn er bringt seine hasserfüllte Litanei laut genug unters Volk. Doch Sascha steht weiterhin dumm grinsend umher und raucht.

Rassel ledert weiter. Er ist jetzt stinksauer.

„Quermann verstößt dauernd gegen Schulhofgesetze. Immer und immer wieder. Alleine der Gestank! Pfui!“, Rassel rümpft die kleine Nase, verzieht sein gnomenhaftes Gesicht zu einer Fratze und sieht dabei furchtbar hässlich und eigentlich noch viel schlimmer als Sascha Quermann aus. „Und dann dieses Gesülze. Truck hier, Truck dort, Moped hier, Moped dort. Das ist kein Moped. Ein gottverdammter Schrotthaufen ist das! Mehr nicht. Und überhaupt. Warst du schon mal bei dieser Missgeburt zu Hause? Das ist kein Zuhause, sondern der letzte Saustall. Da stinkt `s wie auf ` m Scheißhaus. Eine Müllkippe ist das! Eine gottverdammte Müllkippe!“

Rassel feuert wutentbrannt die Zigarettenkippe durch den grünen Gitterzaun, während Quermann, der einen letzten Zug von seiner Karo nimmt, weiterhin dumm aus der Wäsche grinst und ich mir einen wegkichere.

„Das ist nicht zum Lachen, Jonas“, keift Rassel weiter. Das ist zum Heulen. Guck ihn dir doch an. Zum Heulen ist das. Während du lachst, übertritt der Asi da hundertmal...“

„...die ungeschriebenen Gesetze des Schulhofs“, beende ich den Satz für Andre und biege mich vor Lachen.

Ungeschriebene Gesetze, die Wut in seinen Worten; manchmal habe ich den Eindruck, dass bei Rassel irgendeine Sicherung durchgeknallt ist.

„Hey, was ist?“, ruft Brauni. „Wollen wir langsam mal die nächste Partie in Angriff nehmen?“

„Endlich mal ` ne gute Idee“, johlt Quermann los.

„Ich spiele nicht mit Quermann in einer Mannschaft“, wirft Mark ein. „Sonst habe ich keine Chance.“

Auch darauf geht Sascha nicht ein. Er grinst, raucht nicht mehr und freut sich einfach, dass es gleich  losgeht.

Später, im Verlauf meines Studiums, werde ich oft darüber nachdenken, wie ein einzelner Mensch nur eine solche Menge an Demut ertragen konnte, warum er nicht einfach den Schulhof verließ und nie wiederkam, sich vielleicht Freunde in irgendeiner Trucker-Kneipe suchte oder permanent mit Frank Säufer Engel seine Zeit verbrachte.

Doch heute, anno 1992, verschwende ich an derartige Überlegungen keinen Funken meiner jugendlichen Energie. Nur, wie bereits erwähnt, manchmal tut mir Sascha Quermann irgendwie leid.    

Weil keiner mit ihm in einer Mannschaft spielen möchte, geht es für eine Weile hin und her, aber ihn nicht mitspielen lassen, möchte endlich auch niemand. Es könnte ja rein zufällig passieren, dass er einen Ball in die Visage bekommt oder einen Turnschuh vors Schienbein, was sicherlich einen hohen Unterhaltungs- und Belustigungswert besitzt. Schließlich erklärt Sven sich bereit, sich an Saschas Seite zu stellen.

„Na los, Jonas, dann werden wir es dem Deppen zeigen", raunt Brauni mir zu und gibt mir einen kameradschaftlichen Klaps auf den Rücken.

Quermann und Sven stoßen an. Das Spiel ist eröffnet.

Schnell merke ich, dass meine Kondition in den Sommerferien arg gelitten hat und, was noch viel gravierender erscheint, Sascha Quermann ordentlich spielt, viel besser als der Gelegenheitskicker Brauni. Er verfügt über eine gute Grundschnelligkeit, führt das Leder technisch versiert und gelegentlich sorgt er für elegant anzusehende Abschlüsse. Das eine oder andere Mal lässt Quermann Brauni, der dafür bekannt ist, rigoros in die Zweikämpfe zu gehen, und mich durch raffinierte Finten und Übersteiger recht alt aussehen. Obendrein erzielt er noch drei Tore. Wenn wir ihn am ausgeblichenen T-Shirt ziehen, wegschubsen oder gar von den Beinen zu holen versuchen, reklamiert er nicht herum, sondern kämpft verbissen weiter. Und so kommt es, dass, obgleich ich einen wundervollen Lupfer zum zwischenzeitlichen Ausgleich fabriziert habe, beim Stand von 3:5 für das Duo Quermann, Vogel die Seiten getauscht werden. Unser aller Gesichter leuchten in einem Rot, das den blonden hellhäutigen Sven gar wie eine Leuchtboje aussehen lässt. Schwer gehen unsere Atemzüge während der kurze Zigarettenhalbzeitpause, in der mir Martin gnädigerweise ein paar Schlucke von seinem Mineralwasser spendiert.

Zweiter Durchgang.

Ich überwinde den inneren Schweinehund und komme immer besser klar, spiele mich mit Brauni wahrlich ein, so dass wir uns gelegentlich durch wundervolles Kurzpassspiel über den Gummiplatz kombinieren.

Beim Stand von 8:8 umdribbelt Quermann sowohl mich als auch Brauni und kommt über den Flügel weit in unsere Hälfte hinein.  Sven ist zentral mitgelaufen und steht nun gefährlich frei vor unserem leeren Kasten.

„Spiel in die Mitte! Gib ab!", ruft Vogel keuchend aus.

Quermann ignoriert seinen Mitspieler und zieht aus spitzem Winkel flach aufs Tor. Jämmerlich kullert der Ball zwei Meter vorbei, prallt gegen das grüne Gitter der Seitenbegrenzung und rollt ins Spielfeld zurück. Auch wenn Quermann sicher was drauf hat; Roberto Baggio ist er nicht.

Svens Gesicht scheint nun noch röter zu leuchten und er vollführt eine kurze, wütende Geste mit beiden Armen.

Weiter geht’s.

Fünf Minuten später lautet der Zwischenstand 9:9, was bedeutet, dass das nächste Tor entscheidet. Es kommt zum Thriller–Finale.

Brauni legt den Ball aus der eigenen Hälfte hoch vor, worauf  ich diesen mit einem artistischen Fallrückzieher perfekt erwische. Das Leder rauscht durch die Luft und knallt an die Torlatte.

„Scheiße!“, schreie ich auf dem Boden liegend. „Verdammter Mist!“

Mein Ehrgeiz ist jetzt voll geweckt und ich will nur eines; dieses verdammte Spiel gewinnen.

„Weiter, Jonas! Weiter! Wir haben sie gleich, Mann! Nochmal die letzten Kraftreserven einsetzten!“, feuert Brauni mich an.

Weil wir alle immer erschöpfter werden und die Kugel deswegen langsamer in den eigenen Hälften laufen lassen, vergehen ein paar Minuten, ohne dass etwas Erwähnenswertes geschieht. Dann dreht der technisch starke Sven auf, lässt Brauni in der gegnerischen Hälfte stehen. Wenn er nun noch an mir vorbeikommt, bin ich der Verlierer. Er umspielt mich mit einer lässigen Finte, so dass mir keine andere Wahl bleibt, als ihn mit beiden Händen zu klammern und somit auszubremsen; Siebenmeter, klare Sache!

Hätte ich die Aktion bei Quermann gebracht, wäre das Spiel ganz sicher weitergelaufen, aber bei Sven Vogel, der einer von uns ist, gibt es kein Vertun.

Um meinen Schaden wieder wettzumachen und da Brauni einen wahrlich lausigen Torhüter darstellt, stelle ich mich zwischen die Pfosten.

Die Stirn in Konzentrationsfalten gelegt, als ginge es um den entscheidenden Elfmeter in einem WM-Finale, legt Quermann den Ball auf den Punkt. Er wartet einen Augenblick, läuft an, täuscht mit einer kurzen Verzögerung, schließt mit dem Vollspann ab.

Besser kann man es nicht machen. Hart und präzise schlägt die Kugel von mir aus gesehen links unten neben dem gelben Pfosten ein und mein Abwehrversuch mit dem Bein muss dabei recht hilflos wirken.  

„Scheiße! Fuck!“, schreie ich, gehe langsam vor Erschöpfung und Enttäuschung in die Knie.

Quermann führt einen obszönen Freudentanz auf, bewegt höchst widerwärtig seine Hüften und sein Grinsen ist doppelt breiter als üblich. Er genießt, das kann ein blinder mit Krückstock erkennen, diesen kurzen Moment des Triumphs, was wiederum mein Blut zum Kochen bringt.

Noch nie konnte man mich einen guten Verlierer nennen, doch jetzt diesen Deppen dort wie einen geistig Behinderten tanzen zu sehen, treibt mir die Zornesröte auf das ohnehin schon von der Anstrengung eingefärbte Gesicht.

Ich rappele mich hoch, nehme den Ball auf. Etwa drei Meter vor mir tanzt Sascha Quermann, zappelt sich immer weiter einen ab.

„Was haben wir, Jungs? Wir haben gewonnen, gewonnen, gewonnen!“, jubelt er herum.

Ich ertrage diesen Affen und die Niederlage nicht. Dieser kleine, unterprivilegierte Asoziale, das ist unübersehbar, macht sich über mich lustig. Aber nicht mit mir, nicht mit Jonas Twelker, Sohn eines Zahnarztes und Kieferchirurgen sowie einer promovierten Molekularbiologin!

„Was haben wir, Jungs? Wir haben gewonnen, gewonnen, gewonnen!“

Quermann braucht dringend eine Abreibung! Ja, die braucht er ganz entschieden!

Hoch in die Luft werfe ich den Fußball. Die Lederkugel steigt auf, erreicht ihre Gipfelhöhe und strebt zurück in Richtung Erdmittelpunkt. Mein starkes rechtes Bein saust durch die Augusthitze und es erwischt den Ball perfekt mit dem Vollspann, was ihn zu einem Projektil werden lässt, welches Quermann genau auf die Stirn trifft. Plopp!

Volltreffer!

Augenblicklich erstirbt das Getanze. Quermann torkelt zwei Schritte rückwärts und geht zu Boden.

KO in der erste Runde!

Da liegt er nun gleich eines Käfers auf dem Rücken und stöhnt jämmerlich, wobei seine Augen leicht verdreht sind und hinauf zum wolkenlosen Himmel schielen.

Um mich herum ist eine derartige Heiterkeit ausgebrochen, dass sogar die eher emotionslose Tina geiert.

„Oh, Entschuldigung, Sascha. Das war Absicht“, sage ich, bevor mich ein Lachanfall heimsucht.

Mark sitzt auf der Mauer, schlägt die Hände auf die Schenkel und brüllt vor Lachen.

Hoch klatschen Rassel und ich ab.

„Bingo! Der hat gesessen. Ein Millionentreffer. Du hast die Macht, Jonas“, freut Andre Faust sich.

Sven kommt zu mir, um mir seine Anerkennung für diese Volleyabnahme auszusprechen. Brauni tätschelt mir kameradschaftlich den Rücken und hat von seinem heftigen Freudenausbruch gar feuchte Augen bekommen.

Ich nehme meine Zigaretten von der Mauer und zünde mir eine an.

Der Ball, der Sascha Quermann zu Boden schickte, rollt noch immer über das Spielfeld, bis Mike ihn grinsend mit dem Fuß aufnimmt und hochzuhalten beginnt.

Quermann kommt stöhnend auf die Beine. Seine blauen Augen funkeln wahrlich böse, was man so zuvor noch nicht gesehen hat. Er fährt sich unbewusst durch die fettigen, verschwitzten Haare und fixiert mich mit einem Blick, der, wenn er töten könnte, mir auf der Stelle einen Herzstillstand bescheren täte. Auf seiner Stirn prangt eine kreisrunde rote Stelle.

„Ich hau dir gleich eine rein, dass du Rad schlägst“, fängt er an. „Ich hau dir eine rein, dass du hier dreimal über den Platz gehst.“

Ob es an dem Kopftreffer liegt? Oder daran, dass ich etwa anderthalb Jahre jünger bin?

„Ich box` dich weg, Jonas. Ich mach dir die Eier breit“, faucht er weiter.

Nachdem Quermann ganz nah an mich herangekommen ist, verpasst er mir mit beiden Armen einen anständigen Schubser vor die Brust. Ich stolpere einige Schritt nach hinten und kann froh sein, dass Gleichgewicht dabei halten zu können.

Das geht gar nicht! Das wird er mir büßen! Der Hurensohn!

Ich greife in die Gesäßtasche meiner Diesel-Jeans und hole mein Butterfly–Messer hervor, welches mein volljähriger Cousin mir in diesen Ferien gekauft hat und welches dieser Tage mein stetiger Begleiter ist. Ich habe lange damit trainiert, so dass die Klinge einen sauberen Tanz hinlegt und metallisches Klirren über den Gummiplatz schwebt.

„Pack mich noch einmal an und ich stech` dich ab, Quermann.“

Es ist natürlich nur scherzhaft gemeint, denn niemals, so glaube ich in diesem August des Jahres 1992 jedenfalls, könnte ich tatsächlich auf einen Menschen einstechen, selbst wenn dieser Mensch Sascha Quermann heißt.

Sämtliche Anwesende grinsen und beobachten das Geschehen aus großen Augen heraus, aber es ist und bleibt lediglich eine Show, ein klein wenig Unterhaltung im Sommertheater.

„Wenn du das Ding nicht wegsteckst, wende ich Karate an“, droht Quermann, der immer mal wieder vorgibt, fernöstliche Kampfkünste zu beherrschen.

Er baut sich breitbeinig vor mir auf und blickt dann zu Rassel herüber, der lässig an der Mauer lehnt.

„Faust, sag ihm, dass, wenn er mich mit dem Messer bedroht, ich Karate anwenden darf.“

Rassel zieht an seiner Marlboro und bläst rhythmisch roboterhaft kleine blaue Rauchwölkchen aus.

„Halt die Fresse, Mann! Kannst du nicht einmal dein beklopptes Maul halten?“, fährt er Quermann grob an.

„Komm her! Ich stech ` dich ab, Alter“, rufe ich und kann einen Lachanfall kaum noch unterdrücken.

Das Balisong klirrt.

„Ich warne dich, Jonas. Tust du einen Schritt mit dem Spielzeug auf mich zu, dann mache ich einen Karatetritt. Das ist kein Spaß mehr! Wenn du mich mit einem Messer bedrohst, wende ich Karate an. Das ist Selbstverteidigung. Das darf ich dann.“

Uns trennen etwa anderthalb Meter freier Raum voneinander, in welchen nun Sven Vogel tritt, dessen Gesicht noch immer rot wie eine reife Tomate leuchtet.

„Ey, Quermann! Da oben ist deine Schwester“, sagt Sven und deutet mit dem ausgestreckten Arm in Richtung der Hochhäuser.

Quermann dreht reflexartig den Kopf und just in diesem Moment tritt Sven ihn voller Gewalt mit dem rechten Fuß zischen die Beine. Quermanns Hände fahren an seine Hoden, sein Gesicht wird zu einer extrem hässlichen, kaum näher zu definierenden Grimasse. Er röchelt. Er bricht zusammen.

„Das ist dafür, dass du vorhin im Spiel nicht abgegeben hast, du dummes Schwein“, brüllt Vogel.

Quermann krümmt sich auf dem roten Tartan, rollt sich auf die Seite. Während er weiter röchelt und nach Luft japst, fangen Tränen über seine rechte Wange zu laufen an.

Alle lachen, amüsieren sich königlich und klatschen mit Sven hoch ab, um ihm dadurch Respekt und Anerkennung zu zollen.

Quermann, der nun endlich wieder Luft bekommt, fängt das Schreien an und windet sich dabei weiter auf dem Spielfeld.

„Oh verdammt! Tut das weh! Mann! Ahhhh!“ 

„Ich setze mich unten auf die Bank. Das Gejaule von dem Kerl geht mir tierisch auf den Sack. Kommt wer mit?“, fragt Mark.

„Eine gute Idee. Ich habe eh keine Lust mehr, zu spielen“, sage ich.

„Gerade jetzt sollten wir spielen. Wo er doch so gut hier in der Mitte liegt. Gerade richtig“, erklärt Sven.

„Oh! Das willst du deinen Schuhen wirklich antun?“, gibt Brauni grinsend zu bedenken.

„Ahh. Scheiße! Wie weh das tut!“, brüllt Quermann.

Quermann windet sich in einem fort. Seine heiseren Schmerzensschreie sind eine durchgehende Litanei in der Wärme des beginnenden Abends. Die Sonne scheint auf ihn herab und in ihrem Licht glänzen seine Tränen silbern.

Wir gehen an Quermann vorbei; erst Sven, dann Brauni, Mark, ich, Tina, Martin, der die ganze Zeit schadenfroh vor sich hin grinst. Als Rassel zuletzt vom Feld geht, wirft sein gnomenhafter Körper einen langen Schatten, der unheilvoll über den sich windenden und weinenden Quermann hinwegzieht. Kurz vor der Gittertür bleibt Andre jedoch stehen und beginnt, sich langsam und roboterhaft auf der Stelle zu drehen, bevor sein Weg ihn zu Sascha zurückführt, der noch immer vor Schmerzen brüllend auf der Seite liegt.

„Hör auf zu jaulen, du Missgeburt!“, keift Rassel.

Der Aufforderung leistet Quermann keine Folge.

„Aua!! Ahhh! Das tut so weh! Ahhh!“

„Verdammt noch mal! Ich habe gesagt, du sollst mit dem Gejaule aufhören!“

Bis auf die Protagonisten stehen wir jenseits des Zauns und betrachten durch das Gitter gespannt, was nun geschieht.

„Du sollst dein gottverdammtes Maul halten! So schlimm ist es nicht gewesen. Was sollen unsere Großväter an der Ostfront gesagt haben, als ihnen die Bolschewisten die Glieder abgeschossen haben auf dem Schlachtfeld“, faucht Rassel.

Quermann brüllt und brüllt und brüllt und brüllt immer weiter, wobei seine Tränen unversiegbar erscheinen.

Rassel holt aus und tritt Quermann in den Hintern. Obgleich der Tritt schon recht heftig daherkommt, scheint Sascha ihn kaum wahrzunehmen, da die Schmerzen in seinem Hoden ihm wahrscheinlich noch immer gewaltige Pein bereiten.

Rassel verzieht das gnomenhafte Gesicht, spuckt Quermann in die Visage; volle Breitseite. Der Speichel folgt der Schwerkraft, läuft Quermann über die Wange und vermischt sich dabei mit seinen Tränen.

Rassel ist vollkommen durchgeknallt. Die Szene eben hat es bestätigt.

Plötzlich tut mir Quermann unendlich leid. Etwas in mir schreit auf, Rassel zu sagen, wie abartig es sei, was hier gerade ablaufe, aber ich tue es, warum auch immer, nicht, schwimme mit dem Strom, lache mit meinen Freunden im Chor.

„Du alter Bastard, du! Geh doch heim und fick deine pferdegesichtige Mutter. Dein Arsch steht auf meiner Liste“, faucht Rassel, wendet sich von Quermann ab, verlässt den Gummiplatz.

„Mann, Mann, Mann!“, macht Rassel, nachdem er das Eingangstor krachend hinter sich zugeschmissen hat. „Hab ich einen Durst. Wer kommt mit zur Tanke?“

Tina schüttelt nur den Kopf.

„Ich nicht. Ich gehe jetzt duschen und wollte nachher noch kurz mit Thomas ins Pendel“, antwortet Sven.

Das Pendel nennt sich unsere Stammkneipe an der Hauptstraße im Herzen von Brackwede. Thomas macht eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und hat daher meist sehr spät Feierabend.

„Ich muss morgen früh raus und mit dem Gesellen weiter an dem Sierra rumschrauben. Außerdem habe ich Terminator II auf Video und den wollte sich mir heute Abend noch reinfeiern“, erklärt Brauni.

„Ich muss rauf“, sagt Martin. „Vielleicht komme ich später nochmal runter.“

Martin, fast vierzehn Jahre alt, wohnt in einem der Hochhäuser, die dem Schulhof direkt gegenüberliegen. Er will seiner Mutter zuvorkommen, bevor diese das Küchenfenster im vierten Stock öffnet und herausruft: „Martin! Komm nach oben! Essen ist fertig.“

Das tut sie nämlich oft und Martin sind diese Aktionen dabei stets ziemlich peinlich. Seine Mutter, tief in der Sekte der Zeugen Jehovas steckend, ist ihm im Großen und Ganzen peinlich, weil er, obgleich aus seinem Mund niemals ein negatives Wort über diese Religionsgemeinschaft kommt, insgeheim die Zeugen Jehovas hasst. In ein paar Jahren, wenn er alt genug ist, um seinen freien Willen ausleben zu können, wird Martin aus dieser Sekte austreten, was dann unweigerlich zur Trennung zwischen Mutter und Sohn führt.

„Also, ich bin dabei“, ruft Mark begeistert.

Genau wie Rassel und ich befindet sich Mark auf der Zielgerade der Ferien. In ein paar Tagen startet die Sekundarstufe II ebenfalls für ihn. Sein Vater, ein schwer konservativer Oberstudienrat, plant dessen Zukunft akribisch und hat für den Sohnemann eine Laufbahn im höheren Finanzwesen vorgesehen. Die Sache zwischen  Mark und seinem Erzeuger besitzt gar seltsame Züge. Auf der einen Seite vergöttert er seinen Alten, hat aber komischerweise,  jedenfalls kommt es mir so vor, auch Angst vor ihm.

„Ich komme auch mit. Ein paar Bier sind immer gut“, sage ich grinsend.

Wir verabschieden uns vom Rest und verlassen den Schulhof. Hinter uns liegt Quermann noch immer auf dem Tartanfeld und weint vor Schmerz und Demut. Sein Schluchzen verfolgt uns über die Grenzen des Schulhofes hinaus.

Die Tankstelle trägt das gelb-blaue Westfalen–Logo und liegt stadtauswärts an einer stark befahrenen Straße , die mittig vom Schienenstrang der Straßenbahnlinie 1 zweigeteilt wird.

In der relativ kleinen Station säuselt die Klimaanlage und es ist im Vergleich zu draussen schier eisig kalt.

Patrick Steinmann, ein junger, schwerer Mann aus der Umgebung, steht hinter dem Verkaufstresen. Über ihn geht das Gerücht um, er könne drei Bratwürste auf einmal verdrücken. Persönlich gesehen hat das freilich noch niemand. Wir dürfen ihn bei seinem Spitznamen Pätti nennen, aber man sollte dringend drauf achten, dass einem nicht aus einem Versehen heraus das Wort Fetti über die Lippen kommt. Denn dieses kleine Wort löst bei Steinmann schwere cholerische Anfälle aus, die noch viel schwerer als er selber sind, was ich mit dreizehn Jahren mal habe erleben müssen.

Kurze Begrüßung.

„Hey, Pätti!“

„Ihr schon wieder! Gut, dass ich gerade Bier nachgefüllt habe.“

Einen Großteil des Shops nehmen Kälteschränke mit gläsernen Türen ein. Links vom Kunden aus gesehen stehen die Softdrinks, die uns keines kurzen Blickes würdig sind, so dass wir uns entschlossen nach rechts orientieren, wo verführerisch schön die gekühlten Contis lagern. Contis lautet der umgangssprachliche Begriff für Trägerpackungen eines lokalen Bieres; zehn Flaschen herrliches Herforder, in meinen Augen eines der besten Biere der Welt, wenn nicht gar das beste überhaupt.

Rassel öffnet die Schiebetür. Ich klemme mir einen Container unter den Arm.

„Was! Ein Conti für drei Leute. Wir brauchen zwei, verdammte Hacke“, tönt Rassel und es gibt weder von Marks noch von meiner Seite Einspruch.

Zurück auf dem Schulhof setzen wir uns auf eine Bank unterhalb des Tartanfeldes. Die Kinder aus dem Sandkasten sind samt ihrer hübschen Mütter verschwunden, Quermann ebenfalls und auf dem Gummiplatz spielen nun technisch gute, türkische Jungs, gegen die wir schon so manche Schlacht auf dem Fußballfeld ausgefochten haben.

„Wie sieht es aus? Ein kleines Spiel vier gegen vier. Ich spiele dann bei euch mit", ruft Adnan zu uns herab.

„Wir haben schon gezockt. Jetzt wollen wir etwas saufen zur Belohnung. War echt heiß heute. Sorry", lautet meine Antwort.

"Okay. Lasst mir aber eine Pulle über für später", fordert Adnan grinsend und erntet von uns drei nach oben gereckte Daumen.

Ich frage mich, wo Sascha Quermann wohl stecken mag. Wahrscheinlich wird er zu seinem Kumpel Frank Säufer Engel gelaufen sein, der keine dreihundert Meter von hier entfernt in einem Haus voller schäbiger Einzimmerappartements haust; jenen Absteigen, die dem Bewohner einen jeden Tag aufs Neue in Erinnerung bringen, dass man fast ganz unten angelangt ist.

Rassel reißt den ersten Container auf. Er öffnet drei Flaschen und verteilt das Bier. Wir stoßen an.

„Wisst ihr, was ich morgen mache?“, wirft Rassel ein.

„Quermann treten und in die Fresse spucken?“, fragt Mark grinsend gegen.   

„Verdammte Hacke!“, nöhlt Rassel. „Könnt ihr nicht einmal diesen gottverdammten Hurensohn aus dem Spiel lassen. Das Thema ist für mich durch heute. Nein. Ich werde mir einen PC kaufen.“

„Einen richtigen PC? Nicht einen Amiga 2000 oder so?“, frage ich.

„Was soll ich denn damit? Ich will nicht spielen, sondern mit dem Teil arbeiten. Nein, einen richtigen PC. Mit Tower, Drucker, Monitor und allem, was dazu gehört.“

Weil wir alle noch auf Commodore Amiga - ich persönlich habe gar noch den guten, alten Brotkasten C64 neben dem Amiga stehen – oder gar wie Thomas und Sven auf Schneider Amstrad herumreiten, wäre Rassel nach einem solchen Kauf ein wahrer Pionier.

„Die Teile kosten richtig Asche“, wirft Mark ein.

„Dafür habe ich auch fast die ganzen Ferien gekeult. Die letzten Wochen sogar Nachtschicht. Bei Thyssen Bleche auf die verfluchte Stanze legen. Ist eine Heidenschinderei. Geht mächtig auf die Knochen. Aber die Kohle stimmt. Von dem restlichen Geld mache ich dann noch den Führerschein. Jedenfalls einen Teil davon.“

„Und was willst du eigentlich nach der Höheren Handelsschule machen? An die FH gehen und BWL studieren oder doch erst eine kaufmännische Ausbildung?“, wechselt Mark durch eine Frage das Thema.

„Ich will eine Ausbildung zum Bankkaufmann machen. Das steht jetzt mehr oder minder fest.“

„Da bewerben sich ziemlich viele. Da herrscht eine dicke Konkurrenz um die Ausbildungsstellen, wie mir so eine Berufsberaterin vom Arbeitsamt gesagt hat, die im Februar bei uns in der Penne gewesen ist“, gebe ich zu bedenken.

„Du musst nur gut genug sein. Und skrupellos. Besser und skrupelloser als die anderen. Das ist die Kunst. Der Bessere gewinnt, der Schwächere geht unter. Es ist wie beim guten, alten Charles Darwin.“

„Und bist du besser als all die anderen?“, will ich wissen.

„Wenn ich nächstes Jahr mit der Schule fertig bin, habe ich ein wirtschaftliches Fachabitur. Und meine Noten sind gut, stellenweise sehr gut. Das sind schon mal keine schlechte Voraussetzungen, einen solchen Ausbildungsplatz zu bekommen.“
Rassel trinkt sein Pils mit einem gigantischen Schluck leer und rülpst nach dem Absetzen kräftig, worauf gar die türkischen Jungs oben auf dem Gummiplatz grinsend Applaus spenden. Obwohl direkt neben der Bank ein Mülleimer an einen Baum gekettet ist, schleudert Rassel die leere Flasche achtlos ins Gebüsch, wo sie dumpf aufschlägt, ohne zu zerbrechen. Wenn Schulhausmeister Werner Mahnken, der uns allesamt  schwerlich ausstehen kann, sie findet, bekommt er wieder einen seiner berühmten Tobsuchtsanfälle.

Erst zündet Rassel sich eine Zigarette an, dann greift er in den Container und nimmt sich eine weitere Flasche Bier.

Plopp; gekonnt mit dem Feuerzeug geöffnet.

Die Dämmerung bricht über Ostwestfalen herein und taucht den Schulhof in ein beinahe magisch wirkendes Licht. Unser lockeres Gequatsche setzt sich fort, worüber Jungs eben so reden; Mädels, Autos, Filme, wobei Mark eindeutig den ruhigsten Part verkörpert. Er wirkt bei ihm immer so, als überlege er lieber doppelt, bevor er den Mund zum Sprechen öffnet. Er ist damit der Gegenpol zu Andre Faust, der häufig in seinen Redeschwallen kaum zu bremsen ist, und auch optisch liegen Lichtjahre zwischen meinen beiden Freunden. Im Unterschied zu dem kleinen, gnomenhaften Andre ist der junge Herr Wenzel groß gewachsen, schlank und hat ein makelloses, engelhaftes Gesicht. Um seine gute Haut beneide ich ihn wahrlich, wo ich doch ständig mit Clearasil gegen Pickel ankämpfen muss. Mark hat blonde, leicht gelockte Haare und stahlblaue Augen, was ausgezeichnet zu dem zauberhaften letzten Schein dieses Augusttages passt und ihn in diesem Licht wie die Gestalt aus einer nordischen Heldensage aussehen lässt.

Langsam weicht der Abend der Nacht, folgt Dunkelheit auf Dämmerung. Die türkischen Jungs beenden ihren Abendkick und selbstverständlich erhält Adnan sein Bier.

Der zweite Container kommt an die Reihe.

Wieder feuert Rassel, nachdem er den Inhalt recht schnell gekippt hat, eine leere Bierflasche ins Gebüsch.

Klirr! Glas zerspringt. Da muss die Pulle wohl auf einem Stein gelandet sein.

„Krach!“, sage ich grinsend. „Da wird Old Mahnken sich aber freuen. Ich sehe ihn schon fluchend mit einem Kehrblech durchs Gebüsch kriechen."

„Scheiß auf ihn“, faucht Rassel und ich lache. „Scheiß auf dieses gottverdammte Arschloch. Soll er sich doch an den Scherben die Pulsadern aufschneiden.“

„Wo wir schon bei Mahnken sind, muss ich euch noch eine Geschichte erzählen. Also einmal, das war letztes Jahr im Frühjahr, saßen Toni und ich unter dem Schuleingang auf dem Boden, weil es geregnet hat. Jedenfalls saßen wird da und Toni hat mir von so einem Mädel erzählt, das er im Zelturlaub kennengelernt hat“, fängt Mark an.

Der Alkohol hat seine Zunge nun deutlich gelockert und in diesem Zustand wirkt er sehr entspannt und zufrieden, mit sich und dieser Welt vollkommen im Reinen.

„Toni erzählt dauernd irgendwelche Weibergeschichten. Das meiste davon ist nur Rumgekrücke. Hundertprozentig“, füge ich an.

Toni sieht ein wenig aus wie Jürgen Klinsmann und spielt als Stürmer auch einen ähnlichen Fußballstil. Er macht eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei Thyssen hier in Brackwede und lebt mit seinen fünf Onkels in den Hochhäusern.

„Ich weiß, dass er viel Mumpitz redet, wenn es sich um die Mädels dreht. Aber darum geht es bei dieser Geschichte auch nur am Rande. Es geht da mehr um Mahnken. Also Toni und ich sitzen da und Toni fängt an, zu erzählen, wie er mit der Tussi im Zelt rummacht. Wie er mit ihr knutscht, ihr die Titten leckt, sie fingert, sie ihm einen bläst und er ihr schließlich seinen Prügel in die Möse rammt. Über eine halbe Stunde erzählt Toni so rum. Bis ins kleinste Detail.“

„Das hat er bestimmt in einem Porno gesehen. Hundertpro“, gebe ich zu bedenken.

„Mahnken“, wettert Rassel. „Du sagtest, Mahnken spielt in deiner Geschichte die Hauptrolle. Also wo bleibt er?“

„Ja, ja. Ich komme schon noch drauf. Jedenfalls erzählt Toni, was er so alles mit dem Mädel gemacht hat. Irgendwann stehe ich auf, weil ich eine rauchen will und mein Feuerzeug aus der Tasche holen möchte. Und da sehe ich ihn, Mahnken! Er steht direkt hinter der Schultür an der Scheibe und holt sich einen runter.  ` ist sich voll einen am Abwichsen. Die Hose hängt ihn an den Knöcheln und die Rübe ist rot wie eine Tomate. Der kloppt sich einen auf Tonis Fickgeschichte.“

„Laber!“, rufe ich aus. „Das hast du geträumt. Das kaufe ich dir nicht ab.“

„Doch, doch, Jonas“, versichert Mark eifrig. „Ich schwöre! Wenn ` s nicht wahr ist, will ich Quermann heißen. Frag Toni, wenn du es mir nicht glaubst.“

Mark trinkt einen Schluck Herforder.

Ich will was sagen, stelle mir allerdings die geschilderte Situation vor und da meine Fantasie von jeher recht lebhaft ist, bekomme ich einen Lachanfall.

„Ich glaube es dir, verdammte Hacke“, krächzt Andre. „Dieser Mahnken ist so einer. Der steht auf solche Geschichten. Das ist ein richtiger Spanner. Ein gottverdammter Spannerarsch.“

Mark, der gerade einen weiteren Schluck Bier getrunken hat, prustet los, so dass das Herforder fontänenartig aus seinem Mund spritzt.

Wir lachen, bis wir Bauchschmerzen haben.

 

Kapitel 3

(Bonn im Sommer 2008)...ticktack, ticktack, ticktack, ticktack.

Die Realität bricht wieder über mich herein und mit ihr kehren zu sofort die seelischen und körperlichen Schmerzen zurück. Langsam setze ich mich in meinem Stuhl kerzengerade auf und weiß im Moment nur, dass dringend mit Bielefeld telefoniert werden muss. Einen Moment ruht mein Blick auf dem Diensttelefon, doch dann sagt mir meine innere Stimme aus welchen Gründen auch immer, dass es besser ist, den Festnetzanschluss daheim zu benutzen. Außerdem habe ich die Nummer beim besten Willen nicht im Kopf.

Dann sticht ein bestialischer Gestank, eine Mischung aus schalem Bier und saurer Magenflüssigkeit meine Nase.

Richtig! Meine schleimige Kotze liegt im Mülleimer.

Natürlich habe ich keine Plastiktüte in den Eimer gesteckt, was die Sache der Reinigung äußerst verkompliziert, aber der Mülleimer bedarf dringend einer Säuberung, denn sonst stinkt am Montag das gesamte Zoologische Institut.

Vielleicht kann es dir aber auch vollkommen Latten sein, was nach diesem Wochenende sein wird! Vielleicht sitzt du am Montag schon hinter Schloss und Riegel, Freund Twelker!

Ängstlich schleiche ich in das nahe WC und reinige den Mülleimer grob und vollkommen gedankenverloren mit lauwarmem Wasser und der Seife aus dem Spender.

Danach geht es auf dem schnellsten Weg nach Hause zurück, wobei genau wie auf der Hinfahrt wenig von der mich umgebenen Welt wahrgenommen wird.

Kaputt von der Radelei in der Hitze, dem gestrigen Gelage und dem seelischen Stress führt mein erster Weg in die Wohnung und zum Kühlschrank.

Bier oder Wasser? Wasser oder Bier? Diesmal fällt die Entscheidung leicht, mein Freund!

Mit einer geöffneten Flasche Bitburger in der Hand begebe ich mich an meinen Arbeitsplatz, wo der feste Teil unserer ISDN-Telefonanlage wartet. Die Nummer finde ich rasch unter dem Menü eingehende Anrufe. Zweimaliges Tuten dringt in mein Ohr, bevor Andre Faust in der Leitung ist.

„Und?“, fragt Rassel.

„Ja. Ich habe was bekommen. In mein Postfach an der Uni“, meine Worte klingen extrem verzweifelt. „Verdammter Mist! Scheiße!“

„Das kann man wohl sagen“, antwortet Rassel kurz.

„Hat...“, ich stocke. „...hat Mark auch so ein Päckchen bekommen?“

„Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nicht erreichen können.“

„Und...und...was machen wir jetzt?“, lautet meine hilflose Frage.

„Ich denke, wir sollten zunächst auf Mark warten. Wenn ich mit ihm gesprochen habe, rufe ich dich zurück“, schlägt Andre Faust vor.

„Okay. Das ist wahrscheinlich erstmal das Beste. In jedem Fall gebe ich dir meine Handynummer. Dann kannst du mich immer und überall erreichen.“

Nach dem Gespräch bleibe ich sitzen und starre Löcher in die Umgebung.  An der Zimmerdecke fällt mir ein kleiner Feuchtigkeitsfleck auf, den ich heute zum ersten Mal wahrnehme. Bevor er sich vergrößert, sollte man den Vermieter informieren, aber vielleicht ist es auch vollkommen überflüssig, sich mit einer solchen Nichtigkeit zu beschäftigen, wenn einem das Gefängnis oder die Anstalt für geistig gestörte Straftäter droht. 

Glühendes Metall köchelt in meinem Magen, die Schlucke werden größer und die Erinnerungen an eine Nacht im Sommer 1996 klarer; der finstere Wald, die Gruppe junger Männer in dunkler Armeekleidung.

Erinnere dich besser nicht weiter, Freund Twelker! Denn das geht auf die Pumpe!

Krampfhaft versuche ich, meine gesamte Konzentration in eine andere Richtung zu lenken.

Bei diesen Anstrengungen streift mein Blick das gerahmte Foto auf dem Schreibtisch, welches Dilek und mich in einem der Straßencafés von Montmartre zeigt. Die Aufnahme besitzt eine hohe Qualität und wurde von einem japanischen Touristen geschossen, den wir im letzten Sommer einfach Dileks Spiegelreflexkamera in die Hand drückten. Normalerweise halte ich mich nicht für besonders fotogen, aber auf diesem Bild sehe ich fantastisch aus, und Dilek, die mit Lichtbildaufnahmen wesentlich weniger Probleme hat, übertrifft mich in ihrer orientalischen Schönheit sogar noch. Aus unseren Gesichtern strahlt das reine Glück und glücklich sind wir auch noch heute. Oder sollte man besser sagen, bis heute sind wir glücklich, wer weiß, was morgen geschieht?

Auf einmal fange ich zu weinen an, vergrabe mein Gesicht in den Händen und heule wie ein Hund, der einsam und allein in einem verfallenen Schloss haust.

 

 

Kapitel 4

(Bonn im Sommer 2008) Vor einer Viertelstunde rief meine Mutter an und vor gut einer Stunde Dilek.

Bei meiner Mutter konnte ich mich noch so gut verkaufen, dass sie nun den Glauben hat, bei ihrem Sohnemann sei alles in Ordnung. Dilek hingegen roch Lunte und fragte mich immer wieder, ob alles okay sei, denn meine Stimme höre sich arg bedrückt an. Meine Ausrede lautete, es herrsche momentan ein leichter Stress zwischen Professor Ruländer und mir.

Etwas Stress mit dem guten, alten Heribert, wenn es nur mal das wäre.

Jetzt sitze ich auf meinem Sofa, starre auf Festnetz- und Mobiltelefon gleichzeitig und warte auf Andres Anruf. Es ist wirklich wunderlich, dass trotz des gewaltigen Stresses, der momentan auf mir lastet, eine bleierne Müdigkeit ihre Arme über mich ausgebreitet hat.

Während der Fernseher sinnfreies samstägliches Vorabendprogramm zeigt, fallen mir die Augen zu und ich döse weg.

 

Dilek erscheint am violetten Strand eines smaragdgrünen Ozeans, über dessen Wogen ein blauer, beringter Gasplanet im finsteren Firmament hängt. Mein Schatz trägt enge Jeans und ein schwarzes Oberteil, wie sie es auch auf Erden bevorzugt, und lächelt mir auf ihrem Spaziergang durch den Sand zu. Dann verschwindet sie mitsamt der Szenerie von der Bildfläche und ein altes Abbruchhaus, welches an den Eisenbahnschienen in Brackwede steht, taucht aus dem Nirgendwo auf. Wer durch sein Inneres läuft, stösst auf allerlei Gerümpel - Tische, Stühle, Aktenschränke, zerbrochenes Glas, Ordner, loses Papier, zerschlagene Waschbecken - und sieht, dass viele der Wände aufgestemmt sind. Vermutlich ging es den gesichtslosen Vandalen dabei um das Kupfer der Rohre, das man für ein paar Mark auf dem Schrottplatz verkaufen kann. Sven Reinkober, ein blonder Junge, und ich spielen in dem Gemäuer. Wir sind zehn Jahre alt und besuchen die vierte Klasse der Grundschule zusammen. Heute lernen wir jedoch nicht, sondern jagen imaginäre Aliens durch die Räume und Etagen der ehemaligen Kleinmanufaktur und sind für diesen Kampf um das Überleben des Planeten Erde schwer bewaffnet; M-16 Sturmgewehre und Browning Automatikpistolen aus Plastik, Made in China. Immer, wenn man bei der M-16 den Abzug durchzieht, macht es brrrrrrr, brrrrrrr, wohingegen die Pistolen Platzmunition benötigen und richtig knallen. Wir toben so lange durch das Gebäude, bis wir auf einen in einem Schlafsack eingemümmelten Obdachlosen treffen, der uns trunken angrölt: „Ey, was ist das denn? Kann man denn nirgendwo mehr in Ruhe pennen? Verdammte Tat, Mann!“

Der Typ kann uns ganz sicher umbringen! Da hilft die schwere Bewaffnung auch nichts. Wir rennen davon, die abgenutzten Treppen herunter, raus aus dem alten Haus. Vor dem Gemäuer stürze ich, scheuere mir die Jeans am rechten Knie auf, erhebe mich schnell und renne weiter...

 

...dip dip dip....dip dip dip...

...mein Telefon klingelt...

Ich muss eingeschlafen sein.

Sofort, als habe mir ein Geist seine eiskalte Hand auf die Stirn gelegt, bin ich wieder hellwach.

Markus Heim leuchtet auf dem Display des mobilen Festnetztelefons auf.

„Hallo.“

„Ei, der Kollege“, quakt Markus in den Hörer. „Habe ich dich aus dem Bett geholt?“

„Ne, das nicht. Bin auf dem Sofa eingeschlafen.“

„Du hörst dich aber nicht besonders fit an“, stellt Markus Herbig vollkommen richtig fest. „Immer noch fertig von gestern?“

„Du sagst es. Ganz schön fertig. ` habe eigentlich den ganzen Tag nur im Bett gelegen“, lüge ich die dritte Person innerhalb weniger Stunden an. „Wie geht ´ s dir denn so?“

„Och geht. Langsam werde ich fit. ` habe allerdings auch bis drei Uhr im Bett gelegen. Nachdem ich die SMS geschrieben habe, bin ich direkt wieder eingepennt. Es war schon ein bisschen hart gestern, muss ich sagen.“

„Ja. Die letzten Biere müssen schlecht gewesen sein“, erzähle ich, weil mir sonst nichts besseres einfällt.

Gute zehn Minuten reden wir über den gestrigen Abend, wobei ich gedanklich ganz woanders bin und zu allem nur Ja und Amen sage.

„Was hältst du davon, wenn du auf ein, zwei Katerbier zu mir rüberkommst? Nach Weggehen ist mir heute auch nicht zu Mute. Wir können uns den Boxkampf ansehen“, schlägt Markus Herbig vor.

„Heute besser nicht. ` bin zu kaputt.“

Markus, der immer etwas um die Ohren braucht, weil er so schlecht allein sein kann, lässt nicht locker.

 „Ich kann auch rüber kommen. Ist kein Thema.“

„Ne, lass mal. Ein anderes Mal gerne, aber heute bin ich einfach zu fertig. Werde den Abend auf dem Sofa verbringen und möglich zeitig ins Bett gehen.“

„Na gut“, gibt Markus Herbig schließlich nach. „Dann verschieben wir das. Deine Dilek ist ja noch eine Woche weg. Was hältst du von Mittwoch? Da ist unter der Woche während der Semesterferien eigentlich immer was gebacken irgendwo.“

„Hört sich nicht schlecht an“, antworte ich automatisch. „Lass uns deswegen noch mal telefonieren.“

„Okay, machen wir. Dann erhole dich mal gut, Kollege.“

Ich lege das Telefon auf den Couchtisch zurück.

Irgendwie entsteht in mir gerade die völlig wahnwitzige Vorstellung, dass Andre Faust nicht anruft, dass nie wieder etwas von dieser verfluchten Sache an meine Ohren dringt. Schließlich liegt das doch alles bereits weit, sehr weit zurück; über zwölf Jahre. Drei Fußballeuropameisterschaften und drei -weltmeisterschaften wurden seitdem ausgespielt, Arminia Bielefeld stieg ein paar Mal auf und wieder ab, Helmut Kohl, der damals an der Macht war, gibt es nur noch als Politrentner, ebenso seinen Nachfolger Gerhard Schröder und irgendwer hat mit Flugzeugen das World Trade Center eingerissen. Ja, viel, viel Wasser ist während dieser Jahre den Rhein heruntergeflossen. Da sollte diese Sache doch aus und begraben sein; begraben wie Opa Rainhard.

Ich greife nach meiner Flasche Bitburger, das inzwischen Zimmertemperatur erreicht hat, und muss nach einem Schluck von dieser Brühe Brechreiz unterdrücken. Weil man in meiner Situation nicht genügend Bier auf Halde haben kann, stelle ich beim Blick in den Kühlschrank entsetzt fest, dass dieser rein gar nichts Alkoholisches mehr hergibt.

Die Küchenuhr über der Tür verrät; kurz nach neun. Gleich hier um die Ecke gibt es einen Supermarkt, der seine Pforten bis 22:00 Uhr geöffnet hält.

Schnell ohne Socken in Turnschuhe geschlüpft und das Handy in die Hosentasche gesteckt.

Draußen ist es noch hell und die Temperatur im Vergleich zum Mittag wesentlich angenehmer.

Ich gehe durch die Straßen meines Viertels und blicke zu Boden, als könne ein jeder Passant mir am Gesicht ansehen, was ich einst tat.

Im Supermarkt, im welchem trotz der späten Stunde reger Betrieb herrscht, verfrachte ich sechs halbe Liter Bitburger in den Einkaufswagen. Zum ersten Mal bekomme ich richtige Paras und für mich wirkt es unter heftigen Magenkrämpfen,  dass jede bekloppte Sau in diesem verdammten Geschäft mich anglotzt.

Sie wissen, was du getan hast, Freund Jonas Twelker! Sie wissen, was du getan hast! Sie wissen, was du getan hast!

Ein schwachsinniger Gedanke. Selbstverständlich kann niemand hier wissen, was wir damals getan haben und dennoch komme ich mir ständig beobachtet vor. Zwei Jungs, sechzehn höchstens siebzehn, die zwei Sechserträger Mixery aus dem Regal nehmen, scheinen dies besonders intensiv zu tun.

Die wissen, was du getan hast! Die wissen, was du getan hast! Die wissen, was du getan hast!

Einen feuchten Dreck können die wissen! Als sich die Sache mit Opa Rainhard ereignete, waren die zwei Knilche noch im Kindergarten und außerdem 250 Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt.

Trotzdem halte ich es hier nicht mehr aus und muss dringend raus aus diesem verdammten Supermarkt und zurück in die Einsamkeit der eigenen vier Wände. Da mein Magen zugeschnürt und keinerlei Hungergefühl vorhanden ist, gibt es mit einer Mahlzeit heute ganz sicher nichts mehr.

Ich schiebe den Wagen zu den Kassen und muss ein wenig in der Schlange warten. Alle Menschen hier kaufen Alkohol und betrachten mich intensiv; das ältere Pärchen mit dem Wein, die mollige Frau Anfang zwanzig mit der Sektpulle, der Halbstarke mit seinem billigen Hausmarkenwodka und der Energy-Pisse aus der Büchse. Sie alle haben Jonas Twelker im Visier, an dessen Gesicht ein Jeder  ablesen kann, was er einst Grausiges tat.

Schweiß schießt aus meinen Poren und die Luft erscheint plötzlich dick wie ein Gemisch aus Watte und Honig zu sein. Unerträglich!

Fährt dort draußen jenseits der gläsernen Eingangstür ein Streifenwagen auf und ab? Kann das alles hier nicht ein wenig schneller gehen? Gleich draußen packen sie dich, die Bullen! Kann das alles hier nicht ein wenig schneller gehen?

Endlich befinde ich mich mit einer Plastiktüte in der Hand auf dem Rückweg. Kein Polizeiwagen fährt hier draußen auf und ab, keine Beamten drücken mich auf dessen Hinterbank. Dafür gehen die Ausbrüche kalten Schweißes ununterbrochen weiter, so dass mein weißes Baumwollshirt mir förmlich auf der Haut klebt und noch immer komme ich mir ständig beobachtet vor; von dem Opa mit seinem Hund und der Tussi in der Leggings, die viel zu eng für ihren fetten Arsch ist, meinen Blick aber seltsamerweise anzieht. Ein String zeichnet sich unter dem schwarzen Stoff ab. Für eine kurzen Moment packt mich gar ein heftiger Anflug von Erregung, aber finstere Gedanken vertreiben diese rasch wieder dorthin zurück, woher sie auch immer gekommen sein mag.

Nachdem ich daheim mit einem Seufzer der Erleichterung die Tür hinter mir zugemacht und mehrfach verschlossen habe, wird das Bier in den Kühlschrank und zwei Flaschen davon ins Eisfach geräumt.

Dieser ekelhafte Schweiß, der, jedenfalls kommt es mir so vor, zudem widerwärtig stinkt, muss vom Körper runter.

Ich lasse Wasser in die Wanne, positioniere sämtliche Telefone in Reichweite und steige in das angenehm temperierte Nass.

Eine Weile, als ich mich ausstrecke, steht sogar zu vermuten, dass Entspannung im Bereich des Möglichen liegt, was sich allerdings schnell als ein Trugschluss entpuppt. Böse Bilder rasen durch meinen Kopf und an dem inneren Auge vorbei; der Brief und der unbeschriftete CD–Rohling, ein verlassener Doktor der Naturwissenschaften, Jonas Twelker, sitzt in einer Gummizelle und seine süße Exfreundin Dilek stürzt sich in die Arme eines anderen Mannes. So wie es aussieht, trägt dieser junge Mann den Namen Markus Herbig, ebenfalls ein Doktor der Naturwissenschaften.

„Verdammt noch mal!“, schreie ich es plötzlich heraus und klatsche mit beiden Handflächen ins Wasser, dass der Schaum nur so spritzt. „Reiß dich zusammen, Jonas Twelker! Sonst schnappst du in den nächsten vierundzwanzig Stunden noch über oder rennst auf das nächste Bullenpräsidium und legst ein Geständnis ab.“

Nach nur fünfzehn Minuten Badezeit verlasse ich das Wasser wieder und ziehe mir Boxershorts und T-Shirt an.

Mittlerweile hat das Bier im Eisfach eine richtig angenehme Trinktemperatur bekommen, ein nicht unattraktiver Boxkampf steht in dieser Nacht bevor und die bessere Hälfte, die das Trinkverhalten kontrolliert, weilt außer Haus. Beinahe könnte der Mann sich freuen, wenn, ja wenn da diese doch recht unappetitliche Sache nur nicht wäre.

Mit dem Bier in der Hand nehme ich im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz.

Mein Blick streift die Schachtel Benson & Hedges auf dem Couchtisch und ich komme ans Überlegen, ob es Sinn machen täte, sich eine davon anzustecken, um den Boxabend dadurch feierlich einzuläuten.

Besser nicht! Dein Magen hat auch schon ohne Nikotin genug!

Im TV laufen bereits die Vorberichte zum Hauptkampf. Ich lasse den Sender eingeschaltet und konsumiere das Bier in kleinen Schlucken, aber immer noch recht zügig. Nachdem es leer getrunken wurde, macht sich wieder eine brutale Müdigkeit in mir breit, die so schwer daherkommt, dass sie beinahe die Seelenqualen übertüncht.

Ich strecke mich auf dem Sofa unter einer dünnen Tagesdecke aus, nicke weg und erwache, als die zweite Runde des Kampfes läuft. Der Gong beendet diese und genau in dem Moment klingelt das Haustelefon.

„Jonas, ich habe Mark erreicht. Eben gerade.“

„Und?“, frage ich gedehnt.

„Er hat ebenfalls so ein kleines Päckchen im Briefkasten gehabt. Er war den Tag über mit den Kindern bei Sophias Eltern und hat deshalb die Überraschung gerade eben erst in Empfang nehmen können. Der arme Mark ist hörbar schlecht dran. Wahrscheinlich noch schlimmer als wir beide.“

„Hat Sophia etwas von dem Brief mitbekommen?“, erkundige ich mich ängstlich.

„Das habe ich ihn nicht gefragt. Er war kurz angebunden und logischerweise verdammt mies dran. Hat nur gesagt, dass er Sophia helfen müsse, die Kinder ins Bett zu bringen.“

„Meinst du, Sophia könnte am Nebenanschluss oder so mitgehört haben?“

„Himmel, Jonas! Woher soll ich das wissen? Möglich ist alles. Auch, dass du 65 Millionen Euro im Lotto gewinnst. Hör auf, dich verrückt zu machen. Das hilft keinem, aber auch wirklich keinem weiter“, Rassel klingt nun mächtig gereizt.

Eine kurze Zeit herrscht Schweigen in der Leitung.

„Was machen wir jetzt?“, frage ich schließlich und habe das Gefühl, dabei hilflos zu klingen.

„Also, es steht wohl außer Frage, dass wir so schnell es geht persönlich unter sechs Augen miteinander sprechen müssen. Ich habe darüber mit Mark geredet. Kannst du dich diesen Mittwoch an der Uni flüssig machen?“

„Ja, natürlich. Es sind Semesterferien und außerdem kann ich noch Überstunden von einer Exkursion abfeiern.“
„Das klingt doch schon mal ganz anständig. Ich würde vorschlagen, wir treffen uns bei mir. Kommst du mit dem Auto?“

„Gott bewahre. In meinem Zustand würde ich das Ding vor die Leitplanke setzen und außerdem bin ich ein ziemlich mieser Fahrer. Ich komme mit dem Zug.“

„Gut. Dann teil mir einfach mit, wann der Zug in Bielefeld ankommt und ich hole dich am Hauptbahnhof ab.“

„Okay. Werde ich tun.“
„Sehr gut. Dann sehen wir uns alle am Mittwochabend bei mir. Das ist doch schon mal ein Anfang“, sagt Andre Faust sanft. „Tu uns allen bitte einen Gefallen und versuch, bis dahin möglichst so normal wie möglich zu bleiben. Meinst du, du kriegst das auf die Kette?“

Ich verspreche es und wir beenden das Gespräch.

Der Boxkampf ist inzwischen gelaufen. Der texanische Herausforderer hat ihn verloren durch einen technischen KO.

Geistesabwesend schalte ich die Sender rauf und wieder runter und bleibe nach einer unbestimmbaren Zeit schließlich in einem der Shoppingsender hängen, wo ein drahtiger Verkäufer allerhand Schmutz bestehend aus Zigarettenkippen, Rotwein und Kaffee auf einen Quadratmeter weißen Teppichs kippt, um diesen dann mit dem großen Wunderstaubsauger gänzlich zu reinigen. Eine mollige Hausfrau sieht ihm dabei mit großen Augen zu und als die Wundermaschine ihre Arbeit perfekt erledigt hat, jubelt das anwesende Studiopublikum inbrünstig.

Ich trinke mein Bier aus und gehe kurz ins Schlafzimmer, um eine anständige Decke und das Kopfkissen zum Sofa zu transportieren und genehmige mir anschließend ein weiteres Bitburger.

In der Glotze wird nun für einen Schlagbohrer geworben, der samt Zubehör 79,99 Euro kostet und wenn man gleich bestellt, legt der schnauzbärtige Verkäufer noch einen Satz Dübel drauf.

Ich trinke einen Schluck Bier und vergrabe mich ganz, ganz tief unter meiner Decke. Zu hören ist, wie der Verkäufer scheinbar mühelos in einen Betonblock bohrt und das Publikum begeistert applaudiert.

Schnell erlangt die Müdigkeit gewaltige Macht und traumloser Schlaf folgt ihr auf dem Fuße.

 

Kapitel 5

(Luxemburg Innenstadt im Sommer 2008) Der Mann schloss die Tür auf und trat in seine geräumige Penthousewohnung in einem der vornehmsten Stadtteile Luxemburgs.

Eine große Reisetasche plumpste auf den Parkettboden und der Mann begab sich schnurstracks ins Badezimmer. Es war ein Tick von ihm, dass er immer, wenn er von einer seiner zahlreichen Geschäftsreisen nach Hause kam, sich zuerst die Hände wusch. Anschließend betrachtete er sein Gesicht im Spiegel; ein gepflegtes Allerweltsgesicht, was in jedem europäischen Land zu Hause hätte sein können. Dieser Mann war weder hübsch noch hässlich, weder groß noch klein, weder alt noch jung, sondern schlicht und einfach der pure Durchschnitt.

 Er zog sein leichtes Sommerjackett aus und ging schnurstracks in sein tadellos aufgeräumtes Wohnzimmer.

Der Unscheinbare schätzte Ordnung und Sauberkeit. Deshalb lebte er in Luxemburg. Es war eine saubere und aufgeräumte Stadt, die Steuern lagen niedrig und die Banken gaben sich diskret. Er ließ sich in den antiken Stuhl vor dem antiken Sekretär fallen.

Noch während der High End-PC hochfuhr, hielt der Mann den Telefonhörer in der Hand und wählte die Nummer eines örtlichen Kreditinstituts, für dessen Serviceline Wochentag und Uhrzeit keine Rolle spielten. Für ihre guten Kunden gab es bei diesem privaten Bankhaus stets einen telefonischen oder auf Verlangen gar einen persönlichen Ansprechpartner, der einen, falls man es denn wollte, Samstagnacht um drei Uhr in den eigenen vier Wänden aufsuchte.

„Phillip Wagner hier. Einen schönen guten Morgen“ meldete der Mann einen Namen, der nicht sein richtiger war, aber unter dem das Konto lief. „Meine Kontonummer lautet 100673474, die Codenummer lautet 455102371, das dazugehörige Passwort ist City of New Orleans.“

Er ließ beim Sprechen sich Zeit, so dass die junge Frau am anderen Ende der Leitung in Ruhe die Daten in ihren PC tippen konnte.

„Willkommen, Herr Wagner“, sagte sie beinahe zu sinnlich. „Was kann ich für Sie tun?“

„Es müsste eine Überweisung eingegangen sein. Aus den Vereinigten Staaten. Können Sie diese bereits bestätigen?“

„Moment bitte“, Finger flogen über eine Tastatur. Er konnte die Anschläge hören. „Ja, Herr Wagner, die ist am Freitag eingegangen. 55000 US–Dollar. Ihr neuer Kontostand in Euro gerechnet beträgt 478740, 75 Euro. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“

„Nein Danke. Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend, wenn es denn soweit ist.“

„Vielen Dank, Herr Wagner. Auf Wiederhören.“

Der Mann legte auf und grinste entspannt, während er flüchtig sein Vermögen im Kopf addierte. Knapp 480.000 Euro auf diesem Konto, um die 300.000 Euro auf einem in der Schweiz und in Liechtenstein existierte eines mit etwas über 370.000 Euro Guthaben. Hinzu kamen diese Eigentumswohnung sowie ein Haus in einem gepflegten Vorort von Ludwigshafen, welches er momentan an einen Manager der BASF vermietet hatte.

Der Beruf, in dem er seit fünf Jahren arbeitete, machte sich bezahlt, so dass der unscheinbare Mann sich mittlerweile Euromillionär nennen durfte. Offiziell, wenn irgendwer sich bei ihm danach erkundigte, nannte er als Beruf Geschäftsmann und gab bei tiefergehenden Fragen freundlich lächelnd an, mit Wertpapieren an den Börsen dieser Welt zu handeln.

Der Millionen zum Totz war der Ehrgeiz des Mannes noch lange nicht befriedigt. Ein Vermögen konnte niemals hoch genug sein. 

Er stammte aus einfachen Verhältnissen, aufgezogen von der Mutter allein, weil der Vater mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Seine Mutter schuftete in einer Wäscherei und stets war das Geld knapp. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr verdiente er freiwillig dazu, trug beinahe täglich Zeitungen in den Arbeitervororten von Ludwigshafen aus und schaffte es tatsächlich noch, auf dem Gymnasium gute Noten zustande zu bringen.

„Mein Goldjunge“, hatte Mama immer gesagt. „Mein fleißiger Goldjunge. Ich bin stolz auf dich. Mit deinem Fleiß und deinem klugen Kopf bringst du es sicherlich zum Bankdirektor.“

„Ach was, Mama“, hatte der Vierzehnjährige geantwortet. „Bankdirektoren haben immer irgendwelche Manager vor der Nase, die sie nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Ich will mein Leben selbst in die Hand nehmen und nicht bei so einer blöden, langweiligen Bank verstauben. Ich will selbstständig sein und das richtige Geld verdienen.“

Und die Mutter hatte ihn in den Arm genommen, auf die Stirn geküsst und gesprochen: „Mein ehrgeiziger Schatz, du wirst mal eine Millionen Mark auf deinem Konto haben.“

„Mama. Nicht eine Millionen. Ich will zehn davon verdienen.“

Da war der Mutter ein Lächeln über das Gesicht gehuscht und sie hatte ihn noch fester in den Arm genommen und das Ganze für übertriebene Fantasien eines Teenagers gehalten. Doch der pickelige Zeitungsausträger hatte weder gescherzt noch fantasiert, die ganze Sache war ihm vollkommen ernst gewesen.

Dann, er war neunzehn Jahre alt und mitten im Abitur, hatte der Tod seine Mutter geholt, ganz plötzlich und ohne große Vorwarnung. Die Ärzte hatten den Krebs zu spät entdeckt. Ihm brach das Herz und er wurde zu dem kalten Erwachsenen, den er heute verkörperte.

„Zehnmillionen Mark, Sechsmillionen Euro, Mama“, sprach der unscheinbare Mann, der manchmal zu seiner Mutter redete, so als wäre sie noch am Leben. „Ich bin auf einem guten Weg dorthin. Ich werde es schaffen. Das bin ich dir schuldig. Und dann höre ich auf mit dem Job.“

Er wandte sich dem inzwischen hochgefahrenen PC zu, ging ins Internet und rief sein E-Mailpostfach auf.

Es gab Nachrichten von Pentagramm und Post von Pentagramm versprach zumeist ein gutes Geschäft.

Er rief die Mail auf, die sich so harmlos las wie Millionen anderer.

 

Hallo Geschäftsfreund,

 

ich bin von einem Kunden kontaktiert worden, für den ich mich verbürgen kann. Er sucht eine einfache, sichere Investition auf dem Wertpapiermarkt und benötigt die Hilfe eines Experten und erklärt sich bei Erfolg bereit, Dir eine hohe Provision zu zahlen.

Melde Dich bei mir, wenn du Interesse hast und dann können wir alles weitere bei einem Treffen regeln.

 

Viele Grüße

Leo

 

Selbstverständlich zeigte der unscheinbare Mann Interesse und tippte eine kurze Antwort in Form einer Zusage für das vorgeschlagene Treffen.

Zufrieden mit sich und der Welt ging er ins Badezimmer, um eine warme Dusche zu nehmen.

 

 

 

Kapitel 6

(Bonn im Sommer 2008) Gerne hätte ich noch länger geschlafen, aber die innere Unruhe, die seit zirka vierundzwanzig Stunden gnadenlos in mir wütet, lässt einen solchen Luxus leider nicht mehr zu. Wenigstens, immerhin etwas, bin ich nicht verkatert wie gestern. 

Obwohl die schwere Belastung sofort wieder über mich kommt, nagt Hunger in meinen Eingeweiden, was in Anbetracht der Tatsache, dass die letzte feste Nahrung vor knapp achtundvierzig Stunden konsumiert wurde, nur logisch erscheint.

Der Kühlschrank gibt außer etwas Käse und einem Schokopudding mit Sahnehaube nichts her.

Ich ziehe mich an und spaziere in die Innenstadt, um im Café Blau ein preiswertes, aber reichhaltiges Frühstück zu mir zu nehmen.

Das Café Blau, das Studentenlokal in Bonn, ist wie immer gut gefüllt.

Viele Spätaufsteher und vielleicht auch solche, die noch gar nicht geschlafen haben, unternehmen an diesem Sonntagvormittag etwas gegen den ersten, letzten Anflug von Nahrungsaufnahme des Tages.

Ich verziehe mich in einen hinteren Winkel und mache mich über Speck, Rühreier, Käsebrötchen und Schwarztee her. Nachdem der erste Hunger gestillt ist und noch zwei Brötchenhälften zu essen sind, wandert mein Blick durch das langgestreckte Café und während ich so schaue, wird das Bewusstsein um meine Situation wieder übermächtig. Brechreiz erfüllt meinen Magen und einen Moment steht zu befürchten, dass ich das ganze Frühstück in einem hohem Bogen über den Holztisch kotze. Zum Glück entpuppt es sich als falscher Alarm.    

Nun wesentlich nervöser wandert mein Blick erneut durch das Lokal und vor lauter Stress sehnt sich etwas in mir nach einem wundervollen Hefeweizen aus dem dazu passenden Glas, welches man gleich hier bei der hübschen Kellnerin ordern kann. Ich beherrsche mich, bleibe beim Tee und schaue weiter auf und ab und ab und auf.  Zwei Tische weiter sitzen zwei Frauen von Anfang zwanzig, von denen mich eine an die mollige Tina aus meiner alten Heimat erinnert. Okay, heute soll Tina den Aussagen meiner Mutter nach bereits seit zehn Jahren verheiratet sein, durch exzessives Fitnesstraining eine sehr schlanke Figur und zwei Kinder haben. Früher war sie aber eindeutig pummelig.

Erinnerungen brechen über mich herein.

 

 

 

Kapitel 7

(Bielefeld im Frühling 1994) Es ist ein schöner Tag, der erste richtig angenehme des Jahres, und wir befinden uns mitten in den  Osterferien.

Früher gingen die Ferien stets viel zu schnell vorüber und der letzte Sonntag war ein Tag der Trauer. Seit meinem Schulwechsel auf das Oberstufen–Kolleg sieht die Welt dahingehend gänzlich anders aus. Der Unterricht am OS, so die Abkürzung für Oberstufen–Kolleg, verläuft vollkommen divers zu dem an einer Regelschule und wie mir mein Tutor mitteile, sei es nach erfolgreicher Beendigung der vier Jahre an einigen deutschen Universitäten prinzipiell möglich, das Vordiplom in Biologie angerechnet zu bekommen und damit die Hälfte der Studienzeit einzusparen. Sogar ein paar neue Freunde habe ich bereits seit längerer Zeit auf dieser Schule gefunden, aber die besten kommen mittlerweile aus meiner unmittelbaren Nachbarschaft; Andre Faust und Mark Wenzel.

An diesem Freitag steht die Saisoneröffnung auf dem Schulhof an, was man nur eine Wohltat nach der langen Winterpause nennen kann. Endlich herrscht in Bielefeld die Wärme vor, die die Grundlage dafür bildet, damit sich ein Mensch längere Zeit im Freien aufhalten und dabei ein Herforder konsumieren kann.

Auf einer der Bänke sitzend und dabei eine Zigarette rauchend wartet Mark auf mich. Ihm macht die Schulzeit in der Sekundarstufe II nicht annähernd soviel Spaß wie mir, aber er wird seinen Weg zum Abitur und danach auf das Finanzamt schon machen. Im Hintergrund treibt Oberstudienrat Wenzel ihn voran, zieht die Fäden und verfügt zudem natürlich über reichlich Kontakte, so dass es später schon hinhauen tut mit der Beamtenlaufbahn des Sohnemanns.

Als Mark mich, der ich einen Container unter dem Arm trage, nahen sieht, lächelt er freudig.

Begrüßung, auf die Bank gesetzt, Bier auf, Kippe an und die ersten Augenblicke der neuen Freiluftsaison genießen.

Das Herforder ist herrlich kühl und das Leben schön und in meinem Alter von bald neunzehn Jahren fehlt eigentlich lediglich noch die passende Dame, um das Glück perfekt zu machen. Das haben Mark, Rassel und ich seltsamerweise gemein; wir sind Singles, was aber nicht bedeutet, dass in dieser Hinsicht gar nichts läuft.

Mark hatte für eine kurze Zeit im Winter eine Beziehung mit einer Auszubildenden aus Senne. Sie passte wunderbar zu ihm, war ein nettes, aufgewecktes Mädchen und die beiden verstanden sich blendend, was für uns alle sichtbar war. Eines Tages erklärte Mark uns jedoch, er hätte die Beziehung beenden müssen, da sie zu sehr geklammert habe, um danach dieses Thema niemals wieder zur Sprache zu bringen. Rassel und ich zweifeln an der offiziellen Version und nehmen an, dass Oberstudienrat Wenzel die Beziehung missfiel, da eine Auszubildende im Friseurhandwerk weit unter der Würde seines Sohnes liegt und Mark ihr deswegen unfreiwillig den Laufpass geben musste.

Ich hatte eine kurze Affäre mit einer zweiundzwanzigjährigen Mitschülerin.

Weil das Oberstufen–Kolleg auch eine Schule des zweiten Bildungsweges ist, sind Menschen in den frühen Zwanzigern dort keine Seltenheit. Sie hieß Ilona, war eine ausgebildete Physiotherapeutin und kam von Stuttgart her extra nach Bielefeld, damit sie hier das OS besuchen durfte. Ilona lebte im Studentenwohnheim direkt gegenüber der Kollegschule. Es war etwas mehr als eine reine Sexbeziehung und ich konnte spüren, dass es ihr nicht nur gefiel, mir ein paar Dinge in der Kiste beizubringen, sondern auch mit mir zu quatschen und durch das Bielefelder Nachtleben zu ziehen. Leider entschloss sie sich drei Monate nach meinem achtzehnten Geburtstag kurz vor Weihnachten 1993, die Ausbildung am OS abzubrechen.

Sie könne sich einfach nicht an die zwölf Quadratmeter ihres Wohnheimzimmers gewöhnen, käme mit dem wenigen Geld kaum klar und lege außerdem mit ihren Wahlfächern vollkommen daneben.

Am siebzehnten Dezember kehrte sie nach Stuttgart zurück. Schade eigentlich, denn Ilona war wirklich süß, dazu frei von irgendwelchem Emanzenscheiß und äußerst geistreich. Nach ihrer Heimkehr telefonierten wir noch zweimal miteinander und sendeten drei Briefe hin und her, bevor im Februar diesen Jahres der Kontakt endgültig abriss und es wird wohl so sein, dass keiner von uns ihn jemals wieder herstellt. Aus unerfindlichen Gründen spielt das Leben manchmal so.

Bei Rassel läuft die Sache mit der Liebe, wie könnte es anders sein, etwas eigen ab.

Er hat die Höhere Handelsschule als Jahrgangsbester abgeschlossen und tatsächlich einen Ausbildungsplatz bei der Deutschen Bank bekommen. Die Ausbildung dort ist im Vergleich zu anderen Lehrstellen fürstlich bezahlt und der karriereorientierte Rassel wirkt durchaus anziehend auf einen bestimmten Schlag von Frau, auch wenn er nicht gerade bei Geburt mit den Segnungen der Schönheit bedacht wurde.

Er hatte eine Verkäuferin aus Stieghorst und eine Studentin der Soziologie; allerdings beide zusammen, wobei die eine von der anderen natürlich nichts ahnte, bis die Studentin eine Zeit lang hinter Rassel her spionierte und herausbekam, was tatsächlich lief. Sie spazierte direkt in das Modegeschäft und unterrichtete ihre Rivalin. Es gab einen Riesenkrach und am Ende wusste keiner, wer nun wen in die Wüste geschickt hatte. Andre nahm das alles ganz locker, wesentlich lockeren als die beiden Damen der Schöpfung hin. Auf Platz Eins steht bei ihm so oder so sein Job bei der Deutschen Bank und seine Karriere.

Ach übrigens, ein Automobil besitzt Andre Faust mittlerweile auch; einen alten, kastanienbraunen  BMW der Dreierserie, eine wirklich brüllend hässliche Kiste, aber voll funktionsfähig. Wir drei fahren oft zusammen durch die Gegend, bevorzugt zur nächtlichen Stunde. Manchmal sitzt Mark, der seinen Führerschein direkt an seinem achtzehnten Geburtstag ausgehändigt bekommen hat, hinter dem Steuer. Ich habe es damit nicht sonderlich eilig und die Fahrschule erst diesen Januar begonnen.

„Hast du Rassel angerufen?“, fragt Mark.

„Ja. Habe ich. Vor fünfzehn Minuten. Er ist gerade erst nach Hause gekommen und Mami macht ihm noch eben was zu essen.“

Trotz der guten Bezahlung im ersten Lehrjahr reicht Rassels Geld noch nicht für eine eigene Wohnung, so dass er genau wie Mark und ich weiterhin bei den Eltern lebt.

„Was machen wir heute Abend?“, frage ich.

„Mal sehen. Ich habe gestern noch Sven getroffen, als er seine Gute-Nacht-Zigarette vor dem Haus geraucht hat. Also, er, Thomas und Brauni wollen heute gegen acht Uhr ins Pendel. Dieser Freund von Brauni, Helge, soll auch mitkommen. Du weißt doch. Der, der letzten Sommer ein paar Mal mit seinem Moped auf dem Schulhof war.“

Helge ist mir vage ein Begriff. Er kommt irgendwo aus Isselhorst, war früher mit Brauni zusammen auf der Schule, und macht aktuell eine Ausbildung zum Industrieschlosser, meine ich. Er verkörpert mit Sicherheit keinen schlechten Kerl, nur wir beide scheinen irgendwie keinen Draht zueinander zu finden. Es gibt eben Menschen, wo das nicht funktioniert.

„Auf Pendel habe ich heute nicht wirklich Lust“, antworte ich. „Außerdem sind Kneipenbesuche auf Dauer zu teuer.“
Von meinen Eltern bekomme ich monatlich mein Kindergeld und etwas Taschengeld ausgezahlt, was unter dem Strich vierhundertachtzig Deutschmark sind. Ab und an verdiene ich durch Gelegenheitsjobs, beispielsweise Inventuren am Wochenende, etwas dazu, aber das geschieht meiner Abneigung wegen, unterprivilegierte Tätigkeiten zu verrichten, nur in äußerst finanziellen Schieflagen. Zum Ende eines Monats und manchmal, wenn hart gefeiert wurde, auch schon kurz nach dem Fünfzehnten, bin ich meistens pleite und dann müssen wieder Mama und Papa herhalten, beziehungsweise die Geldbörsen öffnen.

„Wem erzählst du das“, gibt mir Mark Recht.

Weil der Vater sagt, sein einziges Kind solle sich voll und ganz auf die Schule konzentrieren, darf Mark, selbst wenn er es wollte, keinerlei Nebenjobs ausüben. Der Wille des Vaters ist im Hause Wenzel ein nicht anzutastendes Gesetz und Punkt.

Rassel trudelt ein.

Andre kleidet sich weiterhin auch in jeder Minute seiner Freizeit wie der Prototyp eines Bankangestellten; schwarze Anzugshose, weißes Hemd, schwarzes Sakko. Die Krawatte allerdings lässt er außerhalb der Filiale weg und die Klamotten kommen nun nicht mehr von C&A, sondern sind die Hausmarken von Peek und Cloppenburg; ein in meinen Augen recht ansehnlicher Aufstieg innerhalb von nur zwei Jahren, die irgendwie rasch vergangen sind. Äußerst selbstzufrieden und mit einem Grinsen über die gesamte Breite seines Gesichts stapft Andre Faust durch diesen Frühlingstag, wobei seine polierten Halbschuhe dabei auf dem groben Asphalt des Schulhofs klappern. Sein dunkelblondes Haar, an dem leicht der Wind zupft, ist streng nach hinten gekämmt und sorgfältig aufgeföhnt. Rassel kopiert den Yuppie von der Wall Street, der er nur zu gerne wäre und vielleicht eines Tages sein wird.

„Na ihr Nichtstuer, wie geht` s?“, erkundigt er sich grinsend.

„Gut. Wie soll es einem Nichtstuer bei einem solchen Wetter auch anders gehen“, sage ich nicht minder grinsend. „Und bei dir alles fit im Schritt?“

„Immer gut, wenn das Wochenende gerade begonnen hat. Ich habe zwei Nachrichten für euch. Eine gute und eine schlechte. Zuerst natürlich die gute. Ich habe gerade Quermanns behinderte Schwester getroffen. Also: Quermann zieht weg“, genießt Rassel seinen Auftritt.

„Yeah!“, rufe ich.

„Strike!“, jubelt Mark.

Wir klatschen hoch ab.

„So habe ich mich auch im ersten Moment gefühlt, bis die behinderte Olle mir die Story zu Ende erzählt hat. Quermann zieht leider nicht sehr weit weg. Genauer: Er zieht in das Apartment neben seinem Busenfreund Frank Engel.“

„Scheiße!“, machen Mark und ich gleichzeitig.

„Wie ist er denn in diese Bruchbude gekommen? Die Zimmer dort sind doch alle total unter aller Sau“, will ich wissen.

„Die rauschgiftsüchtige Hure neben Engel zieht aus. Frank hat Quermann die Bude klargemacht“, belehrt Rassel uns weiter.

„Gleich und gleich gesellt sich eben gerne. Hoffentlich sehen wir ihn dann noch weniger als jetzt“, spricht Mark seine Hoffnungen aus.

In der Tat hat Quermann sich nach Svens Tritt- und Rassels Rotzaktion im Sommer 1992 ziemlich rar gemacht. Dennoch tauchte er in der seit damals verstrichenen Zeit immer mal wieder auf dem Schulhof auf und befand sich dabei zumeist in Begleitung von Frank Säufer Engel. Seine Lehre hat er mittlerweile geschmissen und arbeitet als Hilfsarbeiter in einer Druckerei. Er spare, so sagt Sascha, auf einen LKW–Führerschein, aber daheim müsse er seiner pferdegesichtigen Mutter viel Kohle für sein altes Kinderzimmer abdrücken, was wiederum seine Schwester behauptet. Außerdem haue er seine Kohlen für lauter Scheiße raus; Truckmodelle, deutsche Country Musik, an der Frittenbude und sogar in der Spielothek am Pokerautomaten.

„Vielleicht brennt das Haus ja ab. Dann sind wir beide los. Das wär ` s doch“, sage ich.

Mark und Rassel lachen.

„Was machen wir heute Abend?“, fragt Rassel.

„Die meisten der Jungs gehen ins Pendel. Willst du dort auch hingehen?“, gegenfragt Mark.

„Ich habe eigentlich dran gedacht, ein wenig durch die Gegend zu fahren. Wir nehmen ein paar Bier mit und fahren mal raus in Richtung Halle. Ich habe da an der Bundesstraße im Wald einen Steinbruch entdeckt. Ist ein echt abgefahrener Platz. Da geht es so megasteil runter. Ist nachts bestimmt irre dort.“

„Ein Steinbruch bei Halle. Wirklich aufregend“, sagt Mark etwas schnippisch.

„Ich finde die Idee gar nicht...“, kann ich nicht ausreden.

„Du willst immer nur hier oder bei Jonas blöd rumhängen und saufen“, faucht Rassel in Richtung Mark. „Oder dumm durch die Stadt und zum McDrive fahren oder...“

„Schon gut! Schon gut!“, ruft Mark. „Ich bin ja dabei. Nur die Ruhe Rassel. Nicht aufregen.“

Die Sache ist also beschlossen.

Heute Abend fahren wir in einen Steinbruch; etwas gänzlich Neues.

Wir treffen uns um 20:00 Uhr vor dem Hochhaus, in dem Rassel zusammen mit seinen Eltern lebt. Der kastanienbraune BMW parkt direkt vor dem Eingang und im letzten Licht des Tages schimmert der stets sorgsam polierte Lack hässlich vor sich hin und ich denke gemeinerweise, dass ein so hässliches Auto zu so einem hässlichen kleinen Gnom passt.

Pfui! Schäm dich für deine Gedanken, Jonas Twelker!

Mark sitzt heute im Fond und mir wird die Ehre zuteil, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, während Rassel kerzengerade und mit der brennenden Marlboro im Mundwinkel hinter dem Lenkrad hockt.

Der Motor startet und sofort plärrt das Radio los.

„I want it all. I want it all. I want it all. And i want it now.“

Rassel hat einen großen Faible für Queen, was meinem rockigen Musikgeschmack recht nahe kommt. Mark hingegen, der mehr auf House- und Discomusik steht, gefällt das wohl nicht ganz so toll, aber er verzichtet darauf, irgendeine Form des Protestes zu erheben. In Rassels Auto gilt die eisenharte Regel, dass der Besitzer und Halter des PKWs bestimmt, was musikalisch gespielt wird, Widerstand zwecklos.

Als erstes geht es zur Westfalen Tankstelle.

Während Mark und ich selbstverständlich zum Container greifen, nimmt Rassel mit einer Dose Cola vorlieb. Wenn der smarte Andre Faust, der sich jede Mark dieses Führerscheins durch schwere Nachtmaloche hart erarbeiten musste, fährt, dann trinkt er nicht.

Wir fahren am Walzwerk von Thyssen vorbei, am Brackweder Freibad und durch den Vorort Quelle, bevor die Bundesstraße in Richtung Halle/Westfalen breit und gut ausgeleuchtet vor uns liegt. Sie verführt eindeutig zum Rasen, weshalb es hier häufig zu schweren Verkehrsunfällen mit stellenweise tödlichem Ausgang kommt. Rassel hingegen verkörpert den umsichtigen Fahrer und bewegt seinen BMW nur knapp oberhalb des erlaubten Tempolimits. Die Außenbeleuchtung und die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge lassen lebhafte Schatten über unsere Gesichter tanzen. Das Autoradio spielt weiter Queen, auf dessen Display hüpfen digitale, bunte Balken im Rhythmus der Musik auf und ab, wozu Rassel leicht mit den Fingern auf das Lenkrad trommelt.

Der Steinbruch befindet sich noch vor der Ortschaft Halle, aber bereits im Kreis Gütersloh.

Es geht rechts von der Bundesstraße ab und über eine asphaltierte Straße in den Teutoburger Wald hinein.

Weil der Aufschluss noch betrieben wird, kann man ihn problemlos mit einem Fahrzeug erreichen und Rassel stoppt den BMW erst, als eine Schranke eine Weiterfahrt unmöglich macht.

 Draußen zwischen den Bäumen herrschen Finsternis, Totenstille und Kälte vor, so dass ich sofort meine dunkelblaue Fliegerjacke schließe. Rassel tut selbiges mit seinem beigen Trenchcoat von P&C, der in der Dunkelheit matt schimmert und Mark ist in seiner dunklen gefütterten Jacke nur ein angedeuteter Schatten.

 Fluchend wühlt Rassel im Kofferraum, sagt „aha“ und schlägt den Deckel zu. Kurz darauf erstrahlt eine Maglite mit langem Griff und Rassel leuchtet mir mit dem Lichtkegel direkt ins Gesicht.

„Gestehen Sie, Sascha Quermanns Schwester vergewaltigt und ermordet zu haben“, sagt er vergnügt.

„Nimm das Ding runter!“, fordere ich, während ich mir die flache Hand vors Gesicht halte. „Gestehe du lieber, dass du dir von Saschas Mutter einen hast blasen lassen.“

Wir lachen all drei vergnügt.

Rassel richtet den Lichtkegel von mir fort und auf die Erde hinab, worauf bunte Punkte vor meinen Augen zu tanzen beginnen.

Nun leuchtet Rassel mit der Taschenlampe über die Schranke hinweg in den eigentlichen Aufschluss hinein. Der Lichtkegel wandert über einen gewaltigen Bagger, eine schlichte Hütte, eine gigantische Waage und endlich eine weiße Wand aus Kreidekalkstein hinauf, die endlos in die Höhe zu ragen scheint, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit dir Kante erreicht. Dort thront majestätisch wieder der Teutoburger Wald.

„Da oben ist es richtig nett gemütlich“, verspricht Rassel. „Man hat einen megagigantischen Ausblick.“

„Ich hoffe, du findest hin“, sagt Mark.

„Vertrau mir. Ich weiß, was ich tue“, zitiert Rassel den Kultpolizisten Sledgehammer. „Man nennt mich auch die lebende Landkarte.“

„Der lebende Quermann–Lover wäre passender“, kichere ich.

Rassel droht mit dem langen Griff der Maglite.

„Ich ziehe dir gleich das Ding hier über die Omme, Jonas!“

Neben dem Namen Quermann selbst stellt Quermann–Lover in unseren Kreisen eine der schlimmsten Beleidigungen überhaupt dar.

„Wollen wir jetzt endlich mal los?“, wirft Mark ein, der den Container Herforder Pils am langen Arm trägt.

Wir marschieren durch den Wald, der den Steinbruch umgibt. Permanent geht es über Trampelpfade bergauf. Rassel stapft vorweg, die Maglite dabei wie ein Sturmgewehr haltend, als sei er ein GI in den Tiefen des vietnamesischen Dschungels. Mark stolpert über eine Wurzel, die Bierflaschen klirren und er liegt auf allen vieren.

„Verdammte Scheiße!“, flucht er.

„Das Bier! Mein Gott! Das Bier!“, rufe ich.

„Du bist wirklich ein Quermann–Lover, Jonas! Ich liege hier im Dreck und du machst dir einen Kopf um das Bier“, schimpft Mark, kann dabei das Lachen aber kaum zurückhalten.

„Na und. Das Bier ist ja auch wichtiger als deine Knochen, verdammte Hacke“, faucht Rassel los. „Hör also auf zu nölen, sonst...“

„Sonst ziehst du mir die Maglite über die Omme. Ich weiß, ich weiß“, beendet Mark den Satz für Andre.

Wir alle lachen.

„Komm hoch, Alter!“, sage ich und helfe Mark auf die Beine.

Während der sich den Dreck von den Klamotten klopft, führe ich im Schein der Taschenlampe eine Bierinventur durch und stelle voller Erleichterung fest, dass alle Flaschen das Malheur ohne Schaden überstanden haben.

Wir gehen weiter und erreichen nach einem anständigen Fußmarsch den Zielort.

Rassel hat nicht übertrieben. Von der Oberkante des Aufschlusses ist die Aussicht wahrlich atemberaubend. Man blickt über die in der Dunkelheit funkelnden Dörfer weit ins Münsterländer Kreidebecken.

„Wow! Nicht schlecht“, sagt Mark und zündet sich eine Zigarette an.

Wir setzen uns auf einen mit Moos bewachsenen Baumstamm, von dem sich keine fünf Meter entfernt der Abgrund auftut.

Bierflaschen werden geöffnet, Rassel reißt seine Dose Cola auf.

Eine Weile schweigen wir, trinken und genießen dabei ein Jeder für sich den gigantischen Ausblick. Mit blinkenden Positionslichtern fliegt ein Flugzeug hoch über unsere Köpfe hinweg, dem Rassel lange nachblickt, bevor er sagt: „Wisst ihr, wo ich gerne mal hinfliegen würde?“

„Mit Werner Mahnken nach Thailand, Transen ficken“, sage ich und Mark kichert.

„Kannst du nicht einmal ernst bleiben, Jonas?“, sagt Rassel leise und ich merke, dass ihm die Sache wichtig ist.

„Tut mir leid“, entschuldige ich mich aufrichtig. „Erzähl weiter.“

„Ich würde gerne mal nach Australien fliegen. Für sechs oder acht Wochen und mir dort alles angucken; Sydney, Melbourne, Alice Springs mitten in der Wüste. Australien muss traumhaft sein. Irgendwann werde ich so viel Kohle haben, dass ich mir diese Reise einfach so leisten kann. Vielleicht, wenn ich genug verdient habe, werde ich mir dort ein Ferienhaus kaufen. In Surfers Paradies. Dann verbringe ich den Winter dort“, träumt Rassel. „Die Winter hier in Deutschland sind zum Kotzen. Diese ewige Dunkelheit. Die macht mich immer ganz depressiv. Furchtbar.“

„Du kannst ja BWL nach deiner Ausbildung studieren und an die Börse gehen. Als Bankkaufmann hast du ja dann dafür die besten Voraussetzungen“, erkläre ich.

Einen Augenblick lang überlegt Rassel.

„Vielleicht studiere ich nach der Ausbildung, wenn das ganze Gepauke für den Job sich erledigt hat, Informatik in Fernkursen. Es ist besser, im Beruf zu bleiben und abends daheim zu studieren. Alleine schon wegen der Kohle. Dann braucht man seinen Lebensstil nicht zurückzuschrauben. Wenn man erstmal Geld verdient hat, ist es sehr schwer, wieder mit weniger auszukommen. Ja, vielleicht mache ich mich mit Computern selbstständig. Für eine Selbstständigkeit gibt einem die Lehre in einer Bank die allerbesten Voraussetzungen. Und Computern und alles, was damit zusammenhängt, gehört die Zukunft. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Das wird immer mehr und mehr kommen und für eine Zeit liegt in diesem Bereich das Geld auf der Straße. Der fleißige Mensch braucht es nur noch aufzusammeln.“

Er nippt an seiner Cola und schaut verträumt über die funkelnden Dörfer am Horizont, dann lächelt er und fügt hinzu: „Wenn ich das alles einmal erreicht haben sollte, Australienreise, Firma und Selbstständigkeit, dann treffen wir uns hier genau an diesem Punkt wieder und ich spendiere euch eine Kiste Champagner. Versprochen!“

Mark leert sein Herforder und steht langsam vom Baumstamm auf.

„Ich werde dich beim Wort nehmen, Andre Faust. Aber vor dem Fernstudium, dem Job als ausgebildeter Bankkaufmann und der Selbstständigkeit hat der Liebe Gott noch die gute, alte Bundeswehr gesetzt. Jawohl, Herr Feldwebel! Bereit zum Granatenwurf! Drei, zwei, eins, und Feuer!“

Mark salutiert geziert und wirft die leere Bierflasche in hohem Bogen über die Steinbruchkante.

„Volle Deckung!“

Es dauert lange, bis die Flasche irgendwo dort unten in der Finsternis zerschellt.

Klirrr!!!

„Wow“, spricht Mark ehrfürchtig. „Ganz schön tief, Jungs.“

„Die Bundeswehr kriegt mich nicht. Dieser Scheißladen hält einen nur auf.“

„Was willst du denn sonst machen? Zivildienst? Alten Omas den Arsch abwischen? Das hält dich genauso auf und es dauert sogar noch Monate länger“, gebe ich zu bedenken.

„Als erstes werde ich natürlich versuchen, mich irgendwie kaputtschreiben zu lassen. Ausmusterung wäre am besten. Ich werde zu jedem Arzt rennen und mir eine Flut von Attesten besorgen.“

„Das hat der Sohn von einer Familie, die mit meiner Familie befreundet ist, auch versucht. Der Vater hat sogar einen Anwalt eingeschaltet. Trotzdem hat es nicht hingehauen. Es ist ganz schön schwer, damit durchzukommen, Rassel“, wirft Mark ein und öffnet ein neues Herforder Pils mit seinem Feuerzeug.

„Auch eine solche Tatsache habe ich eingeplant. Wenn die mich nicht rauslassen, lautet das Zauberwort Katastrophenschutz“, antwortet Rassel wie aus der Pistole geschossen. „Da trifft man sich einmal im Monat an einem Wochenende und das war `s dann.“

„Aber diesen Mist musst du über Jahre machen“, erkläre ich, der über diese Option niemals nachgedacht hat, weil der tapfere Jonas Twelker selbstverständlich nach erfolgreichem Schulabschluss den Dienst am Vaterland ableistet.

„Ist doch egal. Ich habe mich eingehend mit dem Thema Katastrophenschutz beschäftigt. Das einzige, was die an diesen Wochenenden tun, ist ihren Durst zu löschen.“

Wir alle lachen klar und herzlich in die Nacht hinein.

„So. Und jetzt lasst uns mal den Abflug machen“, fährt Rassel fort.

„Wollst  ` schon los?“, fragt Mark.

„Ja. Zum einem ist es kalt und zum anderen haben wir Freitagabend. Ich möchte auch noch gerne ein Bierchen zwitschern.“

„Wo willst du das Bier trinken?“, erkundigt Mark sich.

„Ich dachte, dass ich noch eine Stunde ins Pendel gehe. Kommt ihr mit?“

„Eher nicht. Ich wollte noch die Tage ein Mädel aus meiner Stufe ins Kino einladen. Da wird das Geld schon knapp“, sagt Mark.

„Mit der Kohle ist das so eine Sache. Ich würde ja gerne mitkommen, aber...“

„Papperlapapp!“, unterbricht Rassel mich. „Ein bis zwei Bierchen zahle ich euch schon. Was ist jetzt?“

„Na wenn das so ist“, sprechen Mark und ich in wunderbarer Eintracht.

Wir verlassen den Steinbruch und fahren bei lockerer Musik von Genesis nach Brackwede zurück, wo Rassel seinen Wagen vor den Hochhäusern abstellt. Den Rest des Weges zur Stammkneipe erledigen wir zu Fuß.

Beim Pendel handelt es sich, obgleich seit vielen Jahren eine kultige Institution in unserem Heimatstadtteil, eigentlich nur um eine verrauchte Kellerkneipe ohne Fenster.

Im Eingangsbereich gibt es die obligatorische Theke, wo die ältere Stammkundschaft über die guten, alten Tage philosophiert. Den Rest des Lokals bilden Tischgruppen und ein Zockerraum, der mit Kicker, Billard, Videospielautomaten und Flipper aufwartet.

Pächter Pogo, der uns als Stammkunden ausmacht, grüßt beim Betreten des Lokals von der Theke her.

Wir suchen unsere Bekannten und finden sie an einem großen Tisch neben dem Zugang zum Spieleraum. Dort sitzen von blauem Dunst umhüllt und vor Biergläsern auf der Tischplatte Thomas, Sven, Helge, Brauni und Tina mit einer uns unbekannten Freundin, die ziemlich, ich muss es zugeben, gut aussieht. Sie hat lange schwarze Haare, die sie offen trägt, und ein feines Gesicht, welches ohne großes Make Up auskommt. Automatisch kommen unsere Blicke auf ihr zur Ruhe.

„Das ist Sophia. Sie ist bei mir auf der Schule und wir besuchen den Deutsch–LK zusammen“, stellt Tina ihre Freundin vor.

Nachdem die Vorstellung mit Sophia abgeschlossen wurde, erweitern wir die Runde und bestellen Bier.

Thomas, Helge und Brauni scheinen heute einmal mehr auf ihrem Auto- und Tuningtrip zu sein, auf dem sie sich eigentlich immer befinden, wenn sie zusammenkommen. Ihr Leben, mir wird das mit verstreichender Zeit immer klarer, verläuft in engen Bahnen und Grenzen; tieferlegen hier, Sportfelgen da, ein Auspuff, der den richtigen Sound gibt, Breitreifen, getönte Heckscheiben, dunkle Blinker, am Wochenende ein paar Bier stemmen und am Montag dann ab auf die Maloche und eine Woche folgt der anderen, wobei sich nichts verändern tut. Mittlerweile beginne ich, für diese Menschen beinahe ein Art Mitleid zu empfinden.

Weil Mark, Andre und mir diese Thematik auf Dauer zu flach ist, tasten wir gemeinsam lieber die hübsche Sophia ab, wobei sich schnell herausstellt, dass sie zwar eine gehörige Portion Klugheit besitzt, sie aber auch recht eigenartige Züge aufweist. Tinas Freundin hat, man merkt es direkt, eine unerträglich bestimmende Ader an sich und ist vollkommen von ihren Standpunkten überzeugt. Hier, liebe Leserinnen und Leser, einige Zitate des Abends:

„(...)Also mein Freund dürfte nicht so einfach jedes Wochenende mit seinen Freunden feiern gehen. Ich meine, wenn ich einen Freund habe, dann will ich doch besonders an den Wochenenden etwas von ihm haben(...)Es gibt da für mich keine Debatte. McDonalds kommt nicht in die Tüte! Dieser Frass ist total ungesund und außerdem vollkommen überteuert(...)Rauchen? Nie im Leben. Bei uns zu Hause wird nicht geraucht. Da kannst du vor die Tür zum Qualmen gehen. Wenn du regelmäßig Fast Food in dich reinschaufelst und dabei noch zwanzig Zigaretten am Tag rauchst, wirst du nicht alt und bist außerdem, sollten einmal Kinder ins Haus stehen, ein äußerst schlechtes Vorbild.“

Sie will dir permanent ihren Willen und ihre Meinung aufdrängen und fährt sich im Verlauf ihrer Argumentationsgänge stets mit der Hand durchs offene Haar und lächelt siegesgewiss, so als stünde Gott auf ihrer Seite. Irgendwann langt es mir, ich krame in meinem bereits leicht beschwipsten Verstand nach Gegenargumenten und finde sie in einer Studie, die ich im Rahmen einer Projektphase am OS gelesen habe.

„Aber wenn du Kinder hast und du hältst ihnen McDonald oder Fast Food im Allgemeinen vor, laufen sie später erst recht Gefahr, fett zu werden. Denn dann geben sie ihr Taschengeld heimlich dafür aus. Kocht man regelmäßig daheim und geht nur gelegentlich zu McDonalds, entscheiden sich die Kinder ganz von alleine für das heimische Essen. Es gibt Studien, die das beweisen“, argumentiere ich, während der Kellner uns eine neue Runde Bier und eine große Cola für Helge bringt, dessen aufgemotzte Proletenkiste draußen vor der Kneipe parkt.

„Dafür werde ich schon sorgen, dass mein Kind nicht heimlich sein Taschengeld bei McDonalds raushaut. Es dürfte nicht unmöglich sein, solche Dinge, die du gerade geschildert hast, zu verhindern. Übrigens, wo hast du von diesen Studien gehört oder gelesen? Nenn mir mal bitte die Quelle, damit ich mir das auch mal anschauen kann“, kontert sie  direkt aggressiv.    

Ich muss gestehen, dass mir Einzelheiten dazu entfallen sind, aber ich habe es irgendwo gelesen; schwarz auf weiß.

„Kann ich dir aus dem Stehgreif nicht sagen.  ` ist schon etwas her. Ich werde über dieses Thema am Montag nach den Ferien in der Uni–Bibliothek mit dem Computer recherchieren, es nachschlagen und dich beim nächsten Mal drüber informieren.“

Die Bibliothek der Universität musste einfach erwähnt werden. Schließlich bin ich auf dem OS.

„Na, dann schlag mal schön nach“, entgegnet sie überheblich und fährt sich wieder siegessicher lächelnd mit der flachen Hand durch die schwarzen Haare.

Sie wendet sich an Tina und steigt in deren Unterhaltung mit Rassel ein, die sich um die Anlage von Festgeld dreht. Auch Mark diskutiert plötzlich angeregt mit ihnen.

Sophia interessiert sich keinen Deut mehr für mich, was eigentlich vollkommen Latten ist. Arg jedoch wiegt die Tatsache, dass sie nicht mal ansatzweise meine Andeutung, welche die Universitätsbibliothek betraf, aufgegriffen hat.

Innerlich wütend wende ich mich an Sven und wir reden über die Endphase der Saison in der Oberliga Westfalen und dass Arminia zu unserem Leidwesen die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga wohl deutlich verfehlen wird.  

Eines steht für dich schon fest, Freund Twelker, diese Sophia ist eine hinterhältige, leider kluge Schlange. Darüber kann auch ihr engelhaftes Gesicht nicht hinwegtäuschen. Überhaupt keine Chance, Mädel! Bei Jonas Twelker bist du unten durch!

Während ich mich noch immer stumm über die junge Dame echauffiere, scheinen Rassel und Mark mit dieser Person weit weniger Probleme zu haben. Voller Elan hetzen sie mit ihr gerade über einen Typen, der Tinas und Sophias Schule besucht und wohl so eine Art Sascha Quermann auf Gymnasiumniveau verkörpert. Obgleich Andre und Mark ihn nicht kennen, ihn nie gesehen haben, lachen, lästern und reden sie begeistert mit.

Die Zeit verstreicht recht schnell, was nach zwei, drei Bier in dieser Lokalität häufiger vorkommt.

Offiziell schließt das Pendel um 1:00 Uhr seine Pforten, aber heute überziehen wir wieder einmal den Zapfenstreich und die Uhr zeigt halb zwei, ehe Pogo uns, die letzten Gäste, >>rausschmeißt<<.

Vor der Kneipe verabschieden wir uns von Helge und Sophia. Da Sophia in Quelle wohnt und Helge auf seinem Weg nach Isselhorst dort vorbeikommt, hat er angeboten, sie nach Hause zu fahren.

Ich habe diese Frau genau im Auge, als sie etwas angewidert in den tiefergelegten dunkelroten Golf II steigt.

Wohl nicht ganz nach deinem Geschmack, aber immer noch billiger als ein Taxi, was Tussi!

Wie Sophia da in dem Sportsitz kauert, wirkt sie vollkommen fehl am Platze in ihrer schicken, Lammfell gefütterten Jacke und mit ihrer Oilily–Umhängetasche.

Einen Augenblick später sind die Türen zu und Helge startet den Motor, worauf der Sportauspuff peinlich laut durch die Nacht röhrt. Helge wirft das Audiosystem an, Heavy Metal-Musik von Sodom ertönt, bevor er den ersten Gang einlegt und krachend davonfährt. Noch lange, nachdem der Volkswagen aus dem Sichtfeld verschwand, können wir ihn hören, bis sich sein Klang endlich in den Weiten dieser Frühjahresnacht verliert.

Der Oberprolet in seiner peinlichen Kiste und Madame Allwissend auf dem Beifahrersitz. Was für eine tolle Kombination. Hoffentlich fährt die Olle, Freund Twelker, aus den Augen und aus dem Sinn, denn deine zwei Freunde scheinen ja angetan von ihr.

Im Verlauf dieser Gedankengänge huscht ein Lächeln über mein Gesicht, nur um beim zweiten Teil direkt wieder zu verschwinden.

Der Rest von uns macht sich zu Fuß über die Brackweder Hauptstraße auf nach Hause.

In den späten Abendstunden ist hier niemals etwas gebacken, gleich ob im Hochsommer oder in der Kälte einer Nacht im Frühling, gegen die wir nun unsere Kragen hochschlagen.

Mark, Rassel und ich beschließen, das restliche Bier, das wir an der Tankstelle gekauft haben, und welches nun im Kofferraum von Andres BMW liegt, bei mir daheim zu trinken.

Meine Schwester Thea und ich wohnen unter dem Dach im Haus meiner Eltern in einer Spielstraße, die einen der Endteile einer weitaus größeren Straße bildet; ein eigener abgeschlossener Wohnbereich, eine junge Welt für sich.

Thea befindet sich nicht in ihrem Zimmer und feiert wahrscheinlich mit ihren Freundinnen im Club Elfenbein in der Bielefelder Innenstadt.

Mark und ich setzen uns auf die breit ausgebaute Fensterbank, von der aus man einen ausgezeichneten Blick auf die Spielstraße hat, während Rassel Musik, Dire Straits, auflegt.

Wir öffnen Bier, das nach all den Stunden im kalten Auto herrlich kühl mundet.

„Diese Sophia ist echt klasse“, erklärt Mark, als sein Vornamensvetter Romeo und Juliette zu spielen beginnt. „Wirklich nicht übel. Das muss man zugeben. Diese Frau ist echt mal was ganz anderes. Sie sieht nicht nur fast perfekt aus, sondern hat dazu auch wirklich was in der Birne. Die Kombination kommt bei Frauen so nicht oft vor.“

Mark dreht die Bierflasche in seiner Hand und starrt verträumt auf sie hinunter und es ist glasklar, wo seine Gedanken jetzt weilen.

„Die hat eine so super Figur und das Gesicht, wow! Voll mein Beuteschema“, fährt Mark fort.

Sieh an, sieh an, einen deiner besten Freunde scheint es echt erwischt zu haben. Vielleicht hat es den zweiten auch erwischt, so wie der vorhin im Pendel mit der Alten rumgegeiert und ihr über Geldanlagen berichtet hat. Dann hast du noch am Ende einen männlichen Zickenkrieg zwischen deinen zwei besten Freunden zu schlichten, Freund Twelker. ` wäre doch echt beschissen, was!

„Komm mal runter, Junge! So toll ist diese Sophia doch auch nicht. Okay, wenn man sie sieht, findet man sie zunächst sehr hübsch, aber macht sie erst den Mund auf, herrje! Ich bitte dich! Sie ist vor allem besserwisserisch, bestimmend und dazu noch eine Hardcoreemanze. Kein Mann kann das doch toll finden, Mark", greife ich leicht gereizt ein.

Mark winkt lächelnd ab, bevor er den Rest seines Herforders mit einem Schluck leert.

„Ach, du hast doch keine Ahnung. Sie ist eben eine richtige Frau und so sind die modernen Frauen heute; klug, selbstbewusst, die Karriere im Auge. Mit so einer Frau könntest du dir ein Industrieimperium aufbauen.  Aber davon scheinst du nichts zu verstehen, Jonas, weil du wahrscheinlich immer noch meinst, Frauen gehören an den Herd“, kontert Mark, ohne dabei böswillig zu klingen.

„Ja, und dann lässt sie sich scheiden und reißt sich das Imperium unter den Nagel, zieht dich mit ihrer Emanzenanwältin bis aufs Unterhemd aus", kontere ich leicht erregt. "Rassel, sag, du mal was dazu und steh mir bitte bei!"

Mein Blick wandert zu Rassel, der neben der Stereoanlage auf dem Boden sitzt und sein Herforder in der Hand hält. Für einen Moment scheint ein finsterer Schatten gleich einer dunklen, schwarzen Wolke über Andres Gesicht zu wandern und dann geschieht etwas sehr Merkwürdiges, Beängstigendes, Gruseliges. In Rassels braunen Augen lodern kleine scharlachrote Flammen, züngeln nach oben, brennen vor Felsen finsteren Gesteins.

Ich zucke zusammen, Kälteschauer jagen über meinen Rücken. Schnell schließe ich die Augen, öffne sie nach zwei, drei Sekunden wieder und sehe, dass Rassel zustimmend grinsend zu mir auf der breiten Fensterbank hinaufblickt. Er zieht aus der Jacke seines Blazers die Schachtel Marlboro und sieht dabei aus wie eh und je, wenn er ein paar Bierchen intus und gute Laune hat; keine Spur eines schwarzen Schattens auf seinem Gesicht, keine Spur von Flammen und finsteren Felsen in seinen Augen.

Was war das denn? Nun, Freund Twelker, du hast doch vorhin, bevor ihr in den Steinbruch gefahren seid, zwei Voltaren genommen, weil dich immer noch Schmerzen im Arm heimsuchen, die daher rühren, als du vor zwei Tagen beim Fußball in der OS-Sporthalle bei dem Versuch eines Seitfallziehers kläglich auf eben diesen Arm gefallen bist. Das Diclofenac, der Alkohol und das Schummerlicht in deiner Bude erklären das, was du eben gesehen hast und was dir eine solche Angst eingejagt hat. Alles nur eine optische Täuschung. Sieh hin, Twelker, alles ist normal und wissenschaftlich erklärbar!

Ich blicke Rassel erneut fokussiert an und stelle fest, dass dem so ist.

Eine optische Täuschung. Daran hättest du auch gleich denken können, du Nase!

„Ja, dann werde ich mal das Wort zum Sonntag, beziehungsweise zum Samstag halten", fängt Rassel an zu erzählen, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hat. „Sophia sieht fantastisch aus, ist intelligent und sicherlich kann ein Mann sich mit ihr was aufbauen. Sie ist zweifelsohne eine tolle, junge Dame und mit Sicherheit der Prototyp dessen, wie viele Frauen sich heute das Frausein vorstellen. Nur ein Andre Faust, der lässt sich von niemandem, nicht einmal vom Lieben Gott persönlich in seine Angelegenheiten reinreden. Wenn ich in einer Beziehung etwas sage, dann ist das Gesetz und eine Frau hat nicht dran herum zu diskutieren. Von daher stehe ich auf deiner Seite, Jonas. In der ersten Stunde war ich ganz hin und weg von Sophia, aber je mehr die geredet hat, je mehr ging das zurück."

„Yeah! Mein Glaubensbruder! Yeah!", jubele ich oben auf der Fensterbank und spende Applaus, in dem ich immer wieder mit der flachen Hand auf mein Knie klopfe.

„Na, wenn ihr zwei das sagt", spricht Mark schnippisch. „Vielleicht gibt euch irgendeiner von diesen hohlen Privatsendern ja eine eigene Fernsehshow. Die könnte dann etwa Zwei Karrieretypen suchen Hausmütterchen am Herd heißen oder so. Ich jedenfalls orientiere mich lieber an Frauen wie Sophia."

„Okay, aber leider, wie es aussieht, hat Sophia bereits einen Freund. Sie hat heute oft genug zu verstehen gegeben, wie sehr sie diesen in der Beziehung mit ihrem Emanzenzeug knechtet", sagt Rassel ruhig und gelassen.

Eine Reaktion lässt nicht lange auf sich warten.

„Das ist ein Grund, aber kein Hindernis“, sagt Mark entschlossen und plötzlich lachen wir alle drei.


Kapitel 8

(Bonn im Sommer 2008) „Lisa! Hör auf, so eine Sauerei zu machen! Das ist ja ekelhaft“, weist die Frau am Tisch nebenan zurecht.

Ich erwache aus meinen Erinnerungen und blicke herüber.

Das Kind mag vielleicht drei Jahre alt sein und matscht mit einem Löffel die Honigmelone auf ihrem Teller. Der Vater scheint auch dabei; ein Polizist in Uniform, der sein Kind wohl sauen lassen würde, wenn die Mutter abwesend wäre. Wahrscheinlich hat er gerade Dienstschluss oder muss seine Schicht am Nachmittag beginnen.

Obwohl ich ihm vollkommen gleichgültig bin, er keine Notiz von mir nimmt, überkommt mich eine heftige Panik, so dass der Schweiß aus meinen Poren schießt und in kleinen Bächen über mein Gesicht läuft.

Er wird sehen, dass du was zu verbergen hast, weil es sein Job ist, sowas zu sehen, Freund Twelker! Er wird sehen, dass dir seine Anwesenheit Furcht einjagt und wird  dich aufs Revier schleppen und befragen lassen. Du wirst einknicken und alles erzählen, was sich 1996 ereignet hat. Und dann verschwindet Jonas Twelker im Bau und Dilek zu Markus Herbig oder so!

Ich stehe auf, lasse den Rest des Frühstücks zurück und verlasse das Café Blau, gehe zügigen Schrittes fort und wage es nicht einmal, mich umzuschauen. Erst als ich wieder zu Hause sitze und die Wohnungstür mehrfach hinter mir verschlossen habe, stellt sich das Gefühl einer kleinen Sicherheit ein.

 

Kapitel 9

(Bonn im Sommer 2008) Heute konnte ich mich wesentlich besser bei Dilek am Telefon verkaufen, was allerdings nur daran lag, dass einige von ihren Tabletten konsumiert wurden, die in der Nachttischschublade ruhen; Tavor, dieses Bedarfspsychopharmaka, das beruhigt und der Angst den Boden entzieht, wirkt wahre Wunder. Dilek bekam es einst verschrieben, als ihre Angstattacken einmal mehr unerträglich geworden waren. Meine arme Dilek leidet massiv unter Angstzuständen und muss seit Jahren Medikamente dagegen einnehmen. Doch selbst diese starken Arzneien versagen gelegentlich im Kampfe gegen die aus dem Nichts auftauchenden Anfälle. Eines nachts überkam es sie derartig schlimm, dass sie vor lauter Panik kaum atmen konnte, und ich sie zur Nervenklinik auf dem Venusberg hinauffahren musste, wobei mir vor lauter Hilflosigkeit die Tränen über das Gesicht liefen.

Seit jener Nacht habe ich immer wieder versucht, mir auszumalen, wie sich eine solche Angstattacke wohl anfühlen mag und meine jetzt ziemlich sicher, eine Antwort auf diese Frage zu kennen.

Ich sitze auf dem Sofa und habe einen Zettel auf dem Schoss liegen, darauf die Bahnverbindungen vom kommenden Mittwoch zwischen Bonn und Bielefeld. In meiner Hand und an meinem Ohr befindet sich das schnurlose Telefon. Am anderen Ende der Verbindung lauscht Andre Faust, mit welchem Zug ich anzureisen gedenke.

„Du wärst dann also gegen kurz nach halb sieben am Abend in Bielefeld“, wiederholt Rassel. „Das trifft sich sehr gut. Mark wollte gegen 21:00 Uhr bei mir auflaufen. Dann haben wir ja genug Raum. Ich hole dich ab. Über alles Weitere reden wir dann am Mittwoch. Ich werde das Gästezimmer gebührend für dich herrichten.“

Das Gespräch ist nicht von langer Dauer.

Ohne das Tavor würde ich sicherlich in meiner Wohnung auf und ablatschen oder wieder ein Bier nach dem anderen zwitschern, um zur Ruhe zu kommen. Doch so wird, beruhigt von der Arznei, die Glotze eingeschaltet.

In einem der dritten Programme läuft ein US-Western aus den 50er Jahren in wundervollen Technicolor–Bildern. Flach und weitgestreckt liegt der große Südwesten vor mir und John Wayne, der stets den weißen Hut des Guten trägt, reitet mittendrin. Ich schaue den Film und beschließe, noch eine Schlaftablette zu schlucken, weil Schlaf dringend erforderlich ist. Denn es gibt für mich beruflich noch reichlich zu tun, zumal die Reise nach Bielefeld ansteht und ich diese Woche für mindestens zwei Tage nichts für das kommende Semester vorbereiten kann.

Einen Moment geht es mir durch den Kopf, meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass ihr Sohn am Mittwoch zu einem außerordentlichen Besuch in seiner alten Heimat erscheint.

Eine blöde Idee! Unter diesen Umständen bei deinen Eltern weilen, nein! Besser nicht! Die würden dann ja sofort merken, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt. Doch andererseits, wer weiß, ob du nochmal Gelegenheit bekommen wirst, deine Lieben in deinem alten Heimathaus zu besuchen. Der Knast, Mann! Der Knast!

Ich konsumiere sicherheitshalber eine weitere Tavor zusätzlich zu der verschreibungspflichtigen Schlaftablette und strecke mich auf dem Sofa unter der dünnen Tagesdecke aus. Noch etwa eine halbe Stunde verfolge ich John Wayne bei seinem Kampf gegen das Böse, bevor ich vor dem laufenden Fernseher wegschlummere.

 

Kapitel 10

(Bonn im Sommer 2008) Eigentlich wollte ich schon gegen neun Uhr morgens an diesem Montag in meinem Büro sein, aber die Kombination aus Tavor und Schlaftablette hat mich dermaßen weggehauen, dass ich erst um zwölf aus dem Bett gekommen bin und auch das nur unter größeren Mühen.

Schlaftrunken sitze ich im Institut hinter meinem Schreibtisch, schaue auf den Flachbildschirm und quäle Sätze in das für die Erstsemester bestimmte Skript. Bisher ist gerade mal eine halbe Seite zusammengekommen und die Angst sitzt mir wieder im Nacken. Sie frisst sich wie eine hungrige Ratte durch meine Eingeweide.

Wie es wohl sein mag, wenn die Bullen dich im Büro verhaften und vor all den Kollegen und Studenten nach draußen, an Händen und Füßen gefesselt, in den Streifenwagen schleppen? Ob das peinlich ist oder kümmert es einem in diesem Moment einen feuchten Scheißdreck, Freund Twelker?

Enger und enger kommt mir das Büro von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde vor und ein kalter seifiger Schweißfilm bedeckt meine Stirn, der nicht verschwindet, sooft ich mir diesen auch mit Papiertaschentüchern fortwische. Mein ganzer Körper gleicht einem einzig großen Schmerz. Das Radio hinter mir im Bücherregal spielt einen Klassiker aus den 80er Jahren, Animotion, I Engineer, wobei für mich die Klänge leicht gedämpft wirken, als kämen sie aus einer angrenzenden Dimension.

Normalerweise gefällt mir dieses Lied äußerst gut. Erklingt es beispielsweise auf einer der Retro-Partys im Pantheon und habe ich dazu noch ein paar Bierchen intus, springe ich auf die Tanzfläche und gebe alles. Weil es durchaus seien könnte, dass ich diesen Song nie wieder auf einer 80er Jahre-Fete werde hören können, da es demnächst für mich ab in den Bau oder in die forensische Psychiatrie geht, kratzt mir der Song heute einfach nur tierisch an den Nerven.

Mein Büro ist mir auf einmal viel, viel zu eng, enger als eine Gefängniszelle, enger als der abgeriegelte Raum in einer Psychiatrie für geistig kranke Straftäter.

Du musst hier raus! Du musst hier raus! Du musst hier raus!

Schnell das Skript abgespeichert und den PC heruntergefahren.

Auf dem Weg aus dem Gebäude begegnet mir Steffen, ein Doktorrand mit langen rötlichen Dreadlocks, der im Sommer stets in Muskelshirts umherzulaufen pflegt und seinen Drehtabak dosenweise mit sich herumträgt.

„Hallo, Jonas. Alles klar?“

„Sicher das“, antworte ich und quäle mir ein Lächeln über die Lippen.

„Machst Du schon Feierabend?“

„Noch nicht richtig. Ich muss noch in die Stadt, Pflichtlektüre für das kommende Semester besorgen“, lüge ich.

„Du siehst ziemlich übernächtigt aus. Hast du schlecht geschlafen?“, fragt er weiter.

„Und wie, Steffen. Verdammt schlecht. Ein Kumpel von mir hat gestern Geburtstag gehabt. Haben ein Glas zu viel getrunken.“

„Na dann, gute Erholung, Jonas. Ich muss weiter. Habe noch jede Menge Arbeit im Labor zu erledigen.“

Schnell verlasse ich das Institut, hebe hier und da grinsend die Hand, wenn mir jemand über den Weg läuft, und stehe endlich an meinem Fahrrad.

Beim Radeln in die nahe Innenstadt gehen mir zum ersten Mal Gedanken durch den Kopf, was der anonyme Absender des Päckchens wohl erreichen möchte.

Was glaubst du wohl? Er will Geld. Davon habt ihr drei ja mehr als der Durchschnitt, wobei Rassel im internen Vergleich selbstverständlich in einer ganz anderen Liga spielt und du, Freund Twelker, knapp hinter Mark wohl auf Platz drei rangierst. Du hättest Mark mit der Ernennung zum Professor und der Erklimmung des Lehrstuhls überholen können, aber, wenn du mich fragst, wird das leider nicht mehr passieren. Denn der Erpresser wird fordern, fordern, fordern und habt ihr alle Forderung beglichen, werden weitere kommen und weitere und weitere und immer weiter und wenn ihr kurz vor dem Bankrott steht, kreuzen endlich doch noch die Bullen auf und werfen euch in den Knast und dann macht sich Dilek mit Markus Herbig zusammen vom Acker. Dann, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. In der Bibel steht, die Wahrheit wird ans Licht kommen. Es steht geschrieben, Freund Twelker!

Kurz vor dem Brunnen am Busbahnhof wird mir speiübel, so dass ich absteigen muss. Während meine Hände sich fest an den Lenker krallen, stehe ich neben dem Rad und fange das Würgen an. Ganz ungeniert drehen sich die Passanten nach mir um. Zum Glück geht der Brech- und Würgereiz vorüber, so dass mein spärliches Mittagessen im Magen bleibt.

Der Weg geht weiter. Ziellos, planlos, meine Umwelt lediglich rudimentär wahrnehmend, schiebe ich mein Mountainbike kreuz und quer durch die Innenstadt. Dabei entwickeln Erinnerungen und Gedanken immer mehr eine Art der Eigendynamik.

Die ersten gemeinsamen Freunde und Bekannte fangen zu fragen an, wann Dilek und ich denn zu heiraten gedenken. Wir antworten dann stets, dass man das doch alles in Ruhe angehen müsse, uns eile da nichts. Dilek hingegen, da bin ich mir ziemlich sicher, denkt im Verborgenen oftmals an Trauung und eine kleine Familie und natürlich braucht ein erfolgreicher Akademiker eine Familie zum Vorzeigen.

Nur wenn Jonas Twelker in den Bau wandert, wird es wohl in den nächsten Jahren und wahrscheinlich auch danach nichts mit dem Bund der Ehe. Denn kommst du eines Tages, falls das überhaupt geschieht, wieder raus mit grauem Bart und grauen Haaren, wird Dilek schon lange die Gattin eines anderen sein und ihm Kinder geschenkt haben. Und die Unikarriere hat sich dann auch erledigt. Aus, aus, aus!

Direkt vor dem Universitätshauptgebäude gleitet mir das Rad, welches ich noch immer gedankenverloren neben mir herschiebe, aus den Händen und stürzt krachend zu Boden. Ich schlage meine Hände vors Gesicht und fange zu weinen an. Wie ein Kleinkind am Heiligen Abend, das sein Wunschgeschenk nicht bekommen hat, stehe ich dort und schluchze vor mich hin. Die Passanten, Männer und Frauen, Alt und Jung, gehen entweder mit gesenktem Blick vorbei oder halten kurz inne, blicken ganz offen herüber, bevor sie ihren Weg fortsetzen.

Dilek wird dich auf Nimmerwiedersehen verlassen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Nichts Heirat, nichts Kinder! Nichts Karriere, nichts mit Herr Professor! Bau oder Klapsmühle lautet deine Zukunft, Jonas Twelker!

Ich habe plötzlich das massive Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.

„Hey, was ist mit dir? Brauchst du Hilfe?“

In meiner von Tränen verschwommenen Welt steht eine junge, vielleicht zwanzigjährige Blondine, die im Sonnenlicht des Nachmittages sehr zart wirkt in ihrer bunten Sommerkleidung.    

„Danke“, presse ich hervor. „Danke, aber es geht schon.“

Tja, jetzt lügst du gar schon wildfremde Menschen an. Denn nichts mehr als Hilfe ist dir dringend nötig. Am besten die Hilfe Gottes, mein Bester! Oder, besser noch, du hast die Hilfe Satans nötig.

„Ganz sicher?“, hakt sie nach. „Willst du dich nicht besser etwas hinsetzen und was trinken? In einem Cafe oder auf einer Bank im Hofgarten? Ich kann dich hinbringen.“

„Nein...danke...das ist sehr lieb...aber ich glaube, es geht.“

„Du glaubst es lediglich. Wenn du willst, leiste ich dir besser noch ein wenig Gesellschaft, bevor du wieder zum Tagesgeschäft übergehst. Oder du rufst einen Freund an und er leistet dir Gesellschaft. Denn du siehst wirklich ziemlich angeschlagen und erledigt aus. Sorry, wenn ich da so offen bin.“
Wenn du wüsstest Mädchen, was der alles auf dem Kerbholz hat, würdest du schreiend davonlaufen! Zumindest bis zum nächsten Polizeirevier!

Plötzlich überkommt mich das extrem intensive Bedürfnis, ihr alles zu erzählen, dieser mir vollkommen unbekannten jungen Dame reinen Wein einzuschenken, alles einfach loslassen und reden, reden und nochmals reden, damit es mir ein klein wenig besser geht.

„Danke dir wirklich. Ich glaube, langsam wird es tatsächlich besser“, erkläre ich ihr und hebe mein Rad auf. „Danke für deine Mühe und deine Hilfsbereitschaft. Das ist in der heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich. Aber ich denke, jetzt komme ich wieder klar.“

Die schlanke Blondine lächelt mich an; ein warmes, herzliches Lächeln.

„Und du bist sicher, dass du mit deinem Rad heil durch die Stadt kommst und nicht irgendwo vorfährst?“, fragt sie.

„Ich denke schon.“

Das Lächeln der jungen Frau wird breiter und ihre tiefblauen Augen strahlen vor Gutmütigkeit und Freude am Leben.

Sie ist größer, als es durch die Tränen wirkte, höchstens einen halben Kopf kleiner als ich. Wie ihr ganzer Körper sind auch die Gesichtszüge unheimlich zart und sie hat ein paar Sommersprossen um die wohlgeformte Nase herum. Im Großen und Ganzen, das muss ein vernünftig denkender Mann direkt einräumen, sieht sie schon verdammt nett aus.

„Du denkst schon, aber...“, sagt sie keck.

Aber eigentlich würde ich gerne mit dir einen Kaffee trinken, spinne ich den Satz für sie stumm zu Ende.

Sie würde sicherlich eine Kleinigkeit mit dir trinken gehen, Freund Twelker. Sie wartet nur auf einen solchen Vorschlag. Greif zu!

Ich bekomme über diesen Gedanken ein leicht schlechtes Gewissen wegen Dilek, aber warum überhaupt? Im Gegensatz zu all den anderen Menschen, die an diesem Ort durch diesen Sommertag laufen, war sie die einzige, die sich um einen Mann gekümmert hat, der alleine vor der Uni stand und weinte. Es geht hier nicht ums Fremdgehen oder darum, sich eine Affäre klarzumachen, sondern einfach nur darum, mich mit einem Kaffee oder einem Drink für die Hilfsbereitschaft dieser jungen Frau zu bedanken. Außerdem lenkt mich zwangloses, harmloses Plaudern sicherlich ein wenig von meiner misslichen Lage ab, denn kehre ich in diesem Zustand alleine in meine Wohnung zurück, muss wieder die Pharmaindustrie die quälenden Gedanken aus dem Weg räumen. Es ist kein Date oder ein Ficktreffen, sondern nur eine nette Unterhaltung mit einem netten Menschen, der es wagt, zu helfen, wenn andere wegsehen. Und dass ich ihr etwas zu trinken spendiere, gehört sich alleine schon aus Gründen der Höflichkeit. Dilek würde genauso handeln, ganz sicher.

„Aber vielleicht wäre ein wenig Gesellschaft doch nicht so verkehrt. Ich würde dich gerne auf einen Kaffee oder so einladen, um mich auch bei dir zu bedanken. All die anderen Chaoten sind ja wortlos an mir vorbeigelaufen“, antworte ich und versuche, so gut es eben geht zu lächeln.

Ihr Lächeln hingegen wird daraufhin breiter.

„Gerne. Ich halte das für einen guten Plan. Hast du schon eine Idee, wo wir hingehen könnten?“, fragt sie mich.

„Kennst du das Pawlow? Ich finde das recht nett und zwanglos. Außerdem kann man da prima draußen sitzen und das Leben in der Altstadt beobachten.“      

„Klar kenne ich das Pawlow. Ist eine gute Idee. Ich bin übrigens Franziska. Schrecklicher Name, was?“

„Och. Da gibt es viel, viel schlimmere Namen. Jonas.“

„Danke für die Blumen, Jonas. Ich gebe dir zurück, auch dein Name hört sich in meinen Ohren erträglich an.“

Wir lachen, bewegen uns in Richtung Altstadt.


Kapitel 11

(Bonn im Sommer 2008) Eigentlich hätte es ja nur ein Bier im Pawlow werden sollen, aber es wurden ein paar mehr und je länger wir uns unterhielten, je besser verstand ich mich mit Franziska. Schließlich fanden wir uns um kurz nach neun im nahen Rewe–Supermarkt wieder, kauften noch mehr Bier und gingen anschließend in ihre kleine Altstadtwohnung in der Wolfstraße nur wenige hundert Meter vom Pawlow entfernt.

Jetzt sitzen wir bei Franziska auf der Couch, hören Massive Attack und quatschen noch immer, als gäbe es kein Morgen mehr. Die unseligen Erinnerungen an jenen Sommer im Jahre 1996 liegen augenblicklich in weiter Ferne, sind nur angedeutete Schatten in größerer Distanz.

Franziska arbeitet übrigens als Krankenschwester im Malteser Krankenhaus und so jung, wie sie aussieht, ist sie auch wieder nicht. Vor zwei Wochen wurde sie fünfundzwanzig.

Kurz nach unserer Ankunft in ihrer behaglichen Wohnung fragte sie mich höflich, ob ich etwas dagegen habe, wenn sie sich einen Joint drehe. Ich könne auch gerne mitrauchen, weil sie eine anständige Gastgeberin sei.
Während meiner Zeit am OS habe ich zwei- oder dreimal mit Alina, die als Künstlerin auf sowas abfuhr, Marihuana geraucht und musste feststellen, dass es mich schön müde machte und mich vor dem Einschlafen über eine dreihundert Gramm Tafel Milka-Alpenmilchschokolade herfallen ließ, mehr aber auch nicht; kein Kreativkick, kein Lachanfall, kein Blick auf die blauen Fenster hinter den Sternen. Natürlich habe ich weder Mark noch Rassel jemals davon berichtet, da das bei meinen zwei Freunden sicherlich auf Unverständnis gestoßen wäre.

Oberstudienrat Wenzel hatte seinem einzigen Sohn über Jahre eingeredet, dass Gras ein Produkt des Satans, genauso schlimm wie Heroin sei und Mark verinnerlichte die Worte seines Vaters stets. Rassel hingegen brachte mit Kiffern arbeitsfaule Linke in Verbindung, die durch die Straßen zogen und dabei „Deutschland muss sterben, damit wir leben können!" skandierten, etwas welches ihm, der ganz fest daran glaubte, dass es ein jeder Mensch in diesem Land durch die eigene Stärke von ganz unten zu Reichtum und Macht bringen kann, komplett gegen den Strich ging und sicherlich auch heute noch geht.

Der Höflichkeit wegen ziehe ich ein paar Mal leicht an der Tüte und muss gestehen, dass mich die Wirkung des Grases heute gar ein wenig angenehm bedröhnt, die Zeit ein klein wenig dehnt, mich redseliger macht. 

„Ein Freund von mir damals in Bielefeld hat eine leicht gestörte, leicht in Anführungsstrichen, Mutter gehabt. Die ist mal in den Urlaub gefahren, da war der um die achtzehn, und hat sämtliche Räume in der Wohnung bis auf sein Zimmer und die Gästetoilette abgeschlossen. Der arme Kerl hat die ersten Tage nur kalte Ravioli aus der Dose gefressen. Und dann hat er nach drei Tagen angefangen, Ravioli und auch Dosensuppen mit einer Kaffeemaschine, er hatte eine Kaffeemaschine in seinem Zimmer, warmzumachen. Er hat das Essen in die Kanne gekippt und auf der Warmhalteplatte erhitzt. Es hat Stunden gedauert, aber immerhin hat er ein warmes Essen bekommen.“

Franziska lacht sich weg. Beide sind wir von Alkohol und Marihuana tüchtig angeheitert.

„Herrje“, gackert Franziska. „Die Geschichte ist so traurig, dass sie schon wieder zum Lachen ist. Weißt du...“, sie prustet, „....weißt du, was ich mal erlebt habe?“

„Nein. Weiß ich leider noch nicht“, antworte ich breit grinsend.

„Also. Es gab mal einen Bekannten in meinem früheren Freundeskreis, der hieß...“, wieder Lachen und Prusten, „...der hieß Alexander und der war strohdumm. Jedenfalls haben wir zusammengesessen und das Radio lief und dann kamen die Nachrichten und eine Schlagzeile lautete: Illegale Tierversuche in Verden. Du weißt doch, was Verden ist, nicht?“

„Eine Stadt“, antworte ich. „Eine Stadt in Niedersachsen.“  

„Ja, genau. Soweit, so gut. Gehört zur Allgemeinbildung, auch wenn man von den meisten Menschen nicht erwarten darf, dass sie wie du wissen, dass diese Stadt in Niedersachsen liegt. Weißt du, was dieser Alexander geantwortet hat?“, sie gibt mir keine Zeit, zu antworten. „Er hat gesagt: >>Wie? Die quälen die Tiere in Tieren! Wie soll das denn gehen?<< Pferde, du weißt, was ich meine.“

Die Geschichte kommt mindestens genauso schräg daher wie die mit den Ravioli in der Kaffeemaschine. Wir lachen beide für eine gute Weile.

Nachdem wir ausgelacht haben, verzieht sich Franziska auf die Toilette und ich nehme mir die Zeit, einen Blick auf ihr übervolles Bücherregal zu werfen.

Sie scheint einen Faible für Mankell und Grange zu haben, aber es finden sich auch typische Frauenbücher und Sachliteratur, sowie zahlreiche Bildbände, bei denen der Fokus auf Skandinavien liegt. Ich entdecke Fänger im Roggen von Salinger und eine Biografie über den Mann, der John Lennon erschoss. Ordentlich stehen diese beiden Bücher nebeneinander.

„Ist was dabei, was dir gefällt?“, fragt Franziska.

Ich drehe mich um.

Sie kommt geschmeidig durch die Tür, setzt sich aufs Sofa und dreht sich eine van Nele Zigarette.

Ich möchte sie fragen, ob das Buch von Jack Jones über den Mörder eines der größten Musikers der jüngeren Geschichte lesenswert sei und spüre statt zu fragen einen gewaltiger Stich in der Magengegend.

Kann du ernsthaft in deiner jetzigen Situation Franziska über die Biografie eines geisteskranken Mörders befragen? Du lässt schon nach, Freund Twelker!

„Viele von den Grange Büchern habe ich selbst gelesen. Du scheinst Skandinavien sehr zu mögen. Mir wäre es da zu kalt und dunkel“, sage ich schließlich.

Auch ich nehme wieder in der Sofaecke Platz.

„Ja. Es stimmt. Die Winter können sich dort endlos hinstrecken. Ich war schon oft in Skandinavien, vor allem in Schweden. Eine meiner besten Freundinnen studiert Nordische Sprachen in Stockholm. Ich habe sie mal über Weihnachten besucht. Das ist schon eine krasse Hausnummer. Da hast du wenige Sonnenstunden am Tag. Aber wenn du mit einem Menschen zusammen bist, den du magst und wenn dein Herz von innen leuchtet, kann dir auch im skandinavischen Winter nichts passieren.“

Während Massive Attacks geheimnisvolle, depressive Musik durch den Raum schwebt, breitet sich mehr und mehr eine seltsame Spannung aus; eine spezielle Art von Elektromagnetismus. Wir blicken einander nun anders an, als wir das zuvor getan haben. Das Gefühl, welches ich dabei empfinde, war in einer solchen Intensität lange nicht mehr zu spüren. Es erinnert mich stark an den Moment vor meinem ersten richtigen Kuss im Alter von dreizehn Jahren. Franziskas blaue Augen sind tief wie das Nordmeer und von ihnen ausgehend, legt sich eine Art Zauber auf mich nieder. Ich möchte diese Frau unbedingt berühren, koste es, was es wolle.

Ihre schlanken Hände mit den top gepflegten Fingernägeln ruhen auf ihren Knien. Langsam, ganz langsam, lege ich meine Handflächen auf ihre Handrücken, worauf Franziska ihre Hände dreht, damit sie einander halten können. Wie zu einem Kunstwerk aus Bronze erstarrt, sitzen wir eine unbestimmbare Zeit einfach nur auf dem Sofa, halten Händchen, lauschen der Musik und sehen einander tief in die Augen.

Ich möchte sie näher bei mir spüren und so löse ich meine Hände und schlinge langsam die Arme um ihre Schultern, worauf sie keinen Widerstand leistet und ihrerseits die Hände knapp oberhalb meines Pos platziert. Automatisch rücken wir noch näher zueinander. Franziska schließt ihre Lider, was auf mich wie ein zauberhaftes Zeichen wirkt. Ich lege meine Lippen auf die ihrigen und wir fangen an, uns langsam zu küssen.

 

Kapitel 12

(Bonn im Sommer 2008) Neben mir unter der Decke schläft Franziska und ich lausche ihren ruhigen und gleichmäßig gehenden Atemzügen, wobei mein Blick hinauf zur Decke in der Finsternis des Schlafzimmers gerichtet ist.

Nach einem wirren Traum, in dem ich mit ein paar Freunden aus früheren Tagen gegen den FC Bayern München Fußball im alten Olympiastadion spielen musste (kurios: ein Spieler des FC Bayern war ein Hund), wachte ich auf und dachte zunächst, dass Dilek neben mir lege, bis mir bewusst wurde, was geschah und wo ich mich befand.

Langsam, um Franziska nicht zu wecken, krieche ich unter der Decke hervor und verlasse das Bett. In meinem Kopf herrscht das totale Chaos, ein heilloses Durcheinander wegen Dilek, Franziska  und dieser verfluchten Sache, die nun auf einmal wieder voll zurückkommt.

Ist es möglich, dass du in den letzten Stunden mit dieser süßen jungen Frau gar nicht mehr an das Päckchen und dessen gnadenlosen Inhalt gedacht hast, Freund Twelker!

Weil Franziskas Wohnung direkt unter dem Dach liegt, herrschen selbst zur nächtlichen Stunde noch entsprechend hohe Temperaturen in den Räumlichkeiten vor.

Nackt gehe ich vom Schlaf- ins Wohnzimmer, wo unsere Klamotten ein wildes Durcheinander vor dem Sofa bilden. Ich schlüpfe in meine Boxershorts.

Du könntest dich einfach anziehen und abhauen. Sie weiß weder deinen Nachnamen noch hast du ihr deine Adresse oder Telefonnummer gegeben.

Nichts dergleichen gedenke ich zu tun. Es verhält sich einfach so, dass Franziska mir ein unglaubliches Gefühl an Sicherheit gibt und irgendwie meine Gedanken zu befreien scheint. Als wir miteinander schliefen, mal sanft, mal wild und in der Hitze der Nacht in unserem Schweiß gebadet, gab es keinerlei Gedanken, keine Sorgen und Ängste, sondern da war einfach nur dieses Gefühl, vollkommen losgelöst von allem und jedem zu sein. Es existierten nur wir beide, abgetrennt von Raum und Zeit.     

Auf dem Sofatisch liegt Franziskas Tabak, Drehpapier und die dünnen Filter, bei deren Anblick mich die Lust überkommt, mir eine Zigarette zu drehen. Früher, als ich noch zur Schule ging, drehte ich allein aus finanziellen Gründen die meiste Zeit des Monats außer bei Kneipen- und Partybesuchen, so dass es nun Erinnerung an alte, längst vergangene Zeiten heraufbeschwört, Papier, Filter und Tabak zu vereinen.  Ich zünde mir die nach all den Jahren doch recht gut gewordene Zigarette an, lehne mich in der Couch zurück und inhaliere genussvoll.

Und während ich da sitze und rauche, kehren meine Gedanken in die Vergangenheit zurück.

 

Kapitel 13

(Bielefeld im Sommer 1995) Wir schreiben einen Sommer, wie ich ihn zuvor selten erlebt habe; einen gnadenlos heißen Sommer und der erste Sommer, in dem sich Mark nicht mehr Schüler zu nennen braucht.

Auf dem Rats Gymnasium bestand er sein Abitur mit dem passablen Durchschnitt von 2,1, wofür er gebüffelt, förmlich Blut und Wasser geschwitzt hat. In den Nächten vor den Klausuren schlief er zwei Stunden und kotzte sechs.

Nun muss er seit dem 1. Juli Zivildienst schieben, was in seinem Fall bedeutet, an fünf Werktagen geistig Behinderte von ihren Wohnorten zu den für sie bestimmten Werkstätten zu fahren. 

Rassel geht in sein letztes Ausbildungsjahr zum Beruf des Bankkaufmanns.

Inzwischen hat er abends nach der Arbeit Volkshochschulkurse zu PC- Themen absolviert und liest in seiner Freizeit ganze Wälzer über Informatik. Zum Wintersemester 95 gedenkt er gar, sich an einer Fernuniversität einzuschreiben, an der er zwar kein richtiger Informatiker, dafür fehlt ihm die Allgemeine Hochschulreife, aber so eine Art Informatiker (FH) werden kann. Er plant noch immer Großes und weicht dabei keinen Zentimeter von seinem Wege ab.

Mir geht es prima.

Noch ein Jahr und dann wird das Oberstufen-Kolleg und damit auch meine Schulzeit Geschichte sein. Die von mir in Form von Referaten, Klausuren und Hausarbeiten erbrachten Leistungen sind gut bis sehr gut und bislang kann auf der imaginären Straße zum erweiterten Abitur kein Hindernis ausgemacht werden, welches ich nicht locker umfahren könnte.

Ach ja, einen Führerschein habe ich mittlerweile auch und mein Vater wollte mir meiner guten Entwickelung wegen sogar einen neuen Kleinwagen zulegen, was von mir abgelehnt wurde mit der Begründung, er solle das Geld doch lieber auf ein Sparkonto überweisen. Ich werde eine gewisse Menge an Geld für das Studium benötigen, denn an die Universität Bielefeld führt mich mein weiterer Weg definitiv nicht. Zum einem basiert meine Entscheidung darauf, dass, was immer zu dummen Gerede zwischen den Kommilitonen führt, meine Mutter an der hiesigen biologischen Fakultät lehrt, zum anderen, dass ein Ortswechsel nach all den Jahren in meiner Geburtsstadt sicherlich der weiteren humanen Evolution gut bekommt. Mich verlangt es mit jedem neuen Tag stärker, den Horizont zu erweitern und ich denke, dass dieses den ganz normalen Werdegang eines gebildeten Menschen darstellt. Das einzige, was bislang noch nicht feststeht, ist der zukünftige Studienort.

Meine Musterung liegt ebenfalls hinter mir und der Bundeswehrarzt erklärte mir im Anschluss an die geistigen und körperlichen Untersuchungen, dass eine Tauglichkeit lediglich für Pioniere, Falschschirmspringer und Gebirgsjäger nicht gegeben sei.  Verweigern, wie Mark das in buchstäblich letzter Minute tat, kommt für mich in einer Millionen Jahre nicht in Frage, denn sowas tun doch nur Vaterlandsverräter, nicht wahr?

Gut neun Monate zwischen Juni 1994 bis März 1995 ging ich mit einer Mitschülerin namens Alina, deren Wahlfachschwerpunkt auf Kunst und Philosophie liegt. Sie schaut wahrhaft niedlich aus mit ihren schwarzen, lockigen Haaren, den paar Pfund zu viel auf der Hüfte und besitzt einen aufgeweckten, netten Charakter, aber die Frau fürs Leben war sie am Ende auch wieder nicht. In gütiger Eintracht trennten wir uns und gehen heute noch gelegentlich in der Uni während der Pausen oder Freiblöcke freundschaftlich zusammen etwas trinken. 

Bei Mark lief in frauentechnischer Hinsicht nicht viel bis gar nichts zusammen.

Es ist wirklich äußerst seltsam, dass der nicht nur meiner Meinung nach mit Abstand hübscheste von uns drei jungen Kerlen keine Dame abbekommt. Wahrscheinlich liegt oder lag das weniger am Aussehen und Charakter als an der Tatsache, dass die Schule und die Erfolgserwartungen seines Vaters ihn gerade im letzten Jahr massiv unter Druck setzten und er somit den Kopf gar nicht frei für eine Freundin bekam. Jetzt sieht die Sache entschieden anders aus und Mark lauert nur darauf, sich auf die Damenwelt zu stürzen. Für die nächsten zwölf Monate braucht er sich um nichts zu scheren, außer den Kleinbus mit den Behinderten aus Bethel von A nach B zu fahren, da wird ja wohl genügend Zeit und Konzentration für die hübschen Töchter der Stadt übrigbleiben. Leider habe ich die Befürchtung, dass er noch immer in Sophia verschossen ist und sich ernsthafte Hoffnungen macht, in die Fußstapfen ihres Exfreundes zu treten, welchen sie, wenn wir Tinas Aussagen Glauben schenken, bereits vor zwei Monaten in die Wüste geschickt habe. Sophia selbst schweigt dazu beharrlich, redet allerdings mit keinem Wort mehr über ihn und lässt sich wesentlich häufiger als zuvor im Pendel blicken.

Rassel hat temporär ebenfalls eine bessere Hälfte gehabt, eine Betriebswirtin, die für Doktor Oetker arbeitet.

Irgendwann flogen, typisch Andre Faust, dermaßen stark die Fetzen und alles war so schnell vorbei, wie es einst als große Liebe begonnen hatte. Bei Rassel glaube ich manchmal, dass er tatsächlich keine höhere Intelligenz als die seinige neben sich duldet und er an jenem Abend, als wir bei mir daheim über Sophias Wesenszüge diskutierten, keinesfalls spaßte.

Sascha Quermann lebt übrigens auch noch in seiner Bude direkt neben Frank Säufer Engel und schafft nach einigen Arbeitsplatzwechseln nun angeblich für eine Firma im Süden von Brackwede.

Er könne dort auf die Schnelle wesentlich mehr Geld zusammenbekommen, denn Kohle benötige er dringend für den LKW–Führerschein.

Wir sehen allerdings, dass Hilfsarbeiter Quermann seine Freizeit weniger in irgendwelchen Fahrschulen verbringt, sondern zunehmend in den Brackweder Spielhallen. Guter Freund Pokerautomat, hört man immer wieder hinter vorgehaltener Hand von Menschen, die ihn besser kennen. Außerdem, was kein Witz ist, da ich ihn persönlich damit gesehen habe, hat er sich ein Fernglas gekauft und rennt häufiger in den Wald, um Vögel und andere Tiere zu beobachten.

Heute ist Samstag und auf dem Grillplatz hoch über unserem Heimatstadtteil steigt eine durch uns organisierte Party.

Der Aufstieg hinauf zu dieser Wiese auf einem Kreideberg ist mühsam, weil extrem steil, vor allem wenn man den kürzesten Weg wählt und zusätzlich jede Menge Bier und Grillzeug in der Sommerhitze schleppt. Gelangt man allerdings erstmal an sein Ziel, entschädigt die majestätische Aussicht für all die erlittenen Strapazen. Der Blick geht über Brackwede mit seinen Siedlungen und Manufakturen, den Ostwestfalendamm voller dahin brausenden Kraftfahrzeuge und streift endlich das Münsterländer Kreidebecken mit all seinen Dörfern und Kleinstädten, bis er sich schließlich am Horizont verliert.

Als ich oben auf dem Grillplatz stehe, mir den Schweiß von der Stirn wische und voller Ehrfurcht den Ausblick genieße, weiß ich gar nicht, seit wie vielen Tagen es nicht mehr geregnet hat. Sieht man von ein paar weißen Fetzen am königsblauen Firmament ab, sind Wolken augenblicklich nur noch eine flüchtige Erinnerung. Mir kommt es sogar schon vor, als gebe es den berühmt berüchtigten Bielefelder Regen nicht, ebenso wie kalte, kurze Wintertage und andere Oberbekleidung als T-Shirts und nach Sonnenuntergang vielleicht eine dünne Jeansjacke.

So erlebt man einen Sommer nur, wenn man jung und frei jedweder Sorgen ist.

Für diese Sause haben sich alle angesagt und sogar vom Oberstufen Kollegen gibt es die Zusagen meiner Mitschüler Ralph Beermann und Karsten Passfall. Ralph besucht mit mir zusammen die Biologieveranstaltungen, während Karsten als Schwerpunkt Physik gewählt oder vielmehr sich verwählt hat. Nach den Ferien geht er in sein drittes Jahr am Oberstufen Kolleg und wahrscheinlich wird dort Endstation für ihn sein, weil er schlicht und einfach zu dämlich ist, die Anforderungen zu erfüllen, was am OS alle außer Passfall selbst wissen. Zu dieser Party habe ich ihn eingeladen, weil er stets flache Sprüche bringt und man sich im Suffkopf gar herrlich über ihn amüsieren kann.

Sicherlich haben auch Quermann und Säufer Engel von der Party Wind bekommen und bei Engel verhält es sich so, dass er stets dort auftaucht, wo ein wenig Alkohol abgestaubt werden könnte, und wo ein Engel ist, ist ein Sascha Quermann meist nicht all zu weit. Sollen sie doch kommen, damit wir nur noch mehr zum Lachen haben.

Gnadenlos brennt die Sonne vom Himmel.

Auch Mark, Sven Vogel und Rassel sind schweißnass vom Aufstieg, haben wir zusammen in der flimmernden Hitze doch zwei Kästen Bier und außerdem reichlich Grillzeug den Berg hinaufgeschleppt.

Wir sind also die ersten Partygäste, öffnen Bier, setzen uns neben die Kästen ins Gras und warten auf die anderen.

Motorenlärm gemischt mit hämmernden Bässen dringt aus dem Wald und von der Straße herüber, die serpentinenhaft zum Grillplatz führt. Eigentlich ist die Zufahrt unten am Fuße des Berges mit einem Metallpfosten gesichert, so dass außer dem Forstbetrieb keinerlei Fahrzeuge in den Wald gelangen, denn damit die Sperre entfernt werden kann, benötigen die Förster und Waldarbeiter einen speziellen Dreikantschlüssel.

Braunis silbergrauer Ford Escort XR3I rollt auf den Grillplatz, wobei der Sportauspuff röhrt und aus den geöffneten Fenstern die Techno-Beats dröhnen. Brauni sitzt bemüht lässig am Steuer, Thomas nicht minder cool daneben. Beide tragen dieselben schwarzen Sonnenbrillen im nicht mehr ganz aktuellen Miami–Vice-Look, die heute, wir wollen ehrlich sein, nur noch peinlich sind. Brauni kurvt den Ford direkt neben unsere Kästen und die Grilllade. Der Wagen kommt zum Stehen, bevor der Motor samt Sportauspuff erstirbt, die gruselige Musik allerdings weiterplärrt. Ganz der Hitze dieses Tages angepasst, steigen die beiden langsam aus dem Wagen. Im genauen Gegensatz dazu springt Sven auf.

„Ihr Säcke“, flucht er. „Hättet ihr nicht Bescheid sagen können? Dann hätten wir hier nicht den ganzen Scheiß den verfickten Berg hochtragen müssen.“

Thomas, der ein schwarzes Slayer T–Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln trägt, so dass ein jeder seine Tätowierungen - eine Schlange und ein in einem Felsen steckendes Schwert - bewundern kann, zuckt die Schultern. Obgleich er den Aufstieg an anderer Stelle fahrend verbracht hat, glitzern auch auf seiner Stirn dicke Schweißperlen.

„Hätte ich auch, aber den hier habe ich erst vor wenigen Minuten bei uns im Keller gefunden“. antwortet er.

Während Thomas zur Untermauerung seiner Worte beinahe triumphierend einen silbernen Dreikantschlüssel hochhält, ist Brauni bereits um seinen Wagen herum und wühlt aus dem Kofferraum drei Kisten Bier, ein Gebinde Sprudelwasser -weiß Gott, wer das trinken soll-, einen Grill und vier Dosen Red Bull.

Red Bull ist im Moment der letzte Schrei, wirkt recht aufputschend und ist noch nicht lange auf dem deutschen Markt erhältlich. Persönlich bin ich darauf aufmerksam geworden, weil Heinz-Harald Frentzens Sauber–Ford dafür Werbung fährt. Es schmeckt wesentlich besser als Kaffee und hält in den ersten Schulstunden nach einer durchfeierten Nacht auch tatsächlich wach. Nur müssen die beim Marktkauf allen Ernstes 3,99 Deutsch Mark für eine 0,2 Liter Dose nehmen? Brauni jedenfalls fährt vollkommen auf das Chemozeug ab und da er später noch in eine seiner prolligen Diskotheken fahren möchte, wird er sich diese Nacht wohl allein mit diesem alkoholfreien Getränk begnügen müssen.

Wir stapeln den Krempel aus dem Kofferraum neben dem bereits vorhandenen Zeug und warten weiter auf den Rest der Truppe und weil Warten nun einmal furchtbar langweilig ist, öffnen wir weiteres Bier zum Zeitvertreib. Lediglich Brauni lehnt lässig an seinem Ford und schlürft das schon erwähnte Red Bull.

Sven kommt auf die glorreiche Idee, Holz für ein späteres Feuer zu suchen, wobei einer, in diesem Fall Brauni, zurückbleibt, um unser Zeug zu bewachen.

Nach und nach wird altes Holz herbeigeschleppt, welches Thomas mit seinem ultrascharfen Kampfbeil zu verwendbaren Stückchen zerkleinert.

Inzwischen hat eine Gruppe Rock a Billys etwa dreißig Meter von uns entfernt Position bezogen. Eines ihrer Mädels sieht wirklich gut aus - lange Haare, dicke Brüste, hübscher Po -, während die Typen allesamt, was selbst der berühmte Blinde mit dem Krückstock sieht, Schwachmaten sind, die ihre Haare zu Schmalztollen frisiert haben. Einige von diesen Herren der Schöpfung tragen schwarze Lederjacken, was einem normalen Menschen bei Temperaturen jenseits der dreißig Gradmarke einfach surreal oder geisteskrank vorkommen muss. Sie haben einen gewaltigen Ghettoblaster aufgestellt, aus dessen Lautsprechern nun er, der King persönlich, Elvis Presley tönt.

Von uns treffen weitere Leute ein. Es wird achtzehn Uhr und kein Grad kühler.

Um halb sieben kommen Helge, seine Freundin Tabea und Toni, der ein wenig wie Jürgen Klinsmann aussieht. Natürlich bringen auch sie reichlich Bier mit. Ralph, mein Kumpel vom Oberstufen Kolleg trudelt zusammen mit Karsten Passfall ein. Trotz der Wärme trägt Karsten Cowboystiefel unter den Beinröhren seiner Jeans und ein Nietenlederarmband, was mich irgendwie an die Rock a Billys denken lässt und die Frage aufwirft, ob er bei denen nicht besser aufgehoben wäre.

Der Grill brennt. Würstchen und mariniertes Fleisch wandern auf das Rost.

Ich habe gerade den dritten halben Liter Bier geöffnet und eigentlich gar keinen Hunger.

Sascha Quermann und Frank Engel erscheinen. Von ihren Klamotten her stehen beide nur knapp über Stadtstreichern und uns und gar den Lederjacken tragenden Rock a Billys fallen synchron die Kinnladen herunter, da wir erkennen, dass Frank Engel einen verblichenen Skianzug trägt. Er ist bereits, was man schon aus der Distanz riechen und an seinem Gang erkennen kann, restlos voll und hält einen abgenutzten Fußball aus Leder unter dem Arm. In den Taschen seines ausgedienten Skianzugs stecken zwei Flachmänner Doppelkorn, die obszön wirkende Dellen in dem Stoff erzeugen. Mit schwankendem Schritt kommt Engel auf uns zu und neben ihm trägt sein Busenfreund Quermann ein wieder mal dämliches Grinsen auf dem Gesicht.

„Was ist denn das für ein müder Haufen? Lass uns ne Runde vor die Murmel bolzen“, lallt Engel hörbar. „Gib mal ein Bier!“

Er will sich gerade unaufgefordert eine Flasche aus einem der Kästen angeln, da schlägt Sven seinen Arm grob zur Seite.

„Ist nicht!“, zischt er Engel an. „Zwei Mark die Pulle.“

Engel will zunächst kontern, sieht, dass er alleine auf weiter Flur steht und greift, nachdem er mit der anderen Hand den Weizenkorn herausgezogen hat, in eine Tasche seines Skianzugs. Er fängt an, was ebenfalls obszön aussieht, in ihr Taschenbilliard zu spielen, um schließlich zwischen den Fetzen von Papiertaschentüchern mehrere Silbermünzen in der Hand zu halten.

„Hier. Nimm dir, was du brauchst“, sagt er unfreundlich zu Sven.

Angewidert blickt Sven auf das Gemisch aus Metall und Papierresten, das Frank Engel ihm entgegenstreckt. In der Abendsonne blitzen die Münzen.

„Gib ` s mir lieber selber.“
Engel zieht die Stirn in Falten, bevor er den Flachmann ins Gras fallen lässt und eine Mark und zwei Fünfzigpfennigstücke heraussucht.

„Oh, er kann ja tatsächlich zählen“, sagt Thomas deutlich hörbar.

Murat und Adnan tauchen auf und bringen eine Flasche Asbach Uralt, Jack Daniels und Coca Cola mit, die sie in eine große, rote Plastikschüssel voller Eiswürfel gesteckt haben.

Die meisten der bereits Anwesenden essen jetzt.

Bevor ich vom Biertrinken gar keinen Hunger mehr spüre, genehmige ich mir ein Nackensteak. Es schmeckt tadellos, weckt in mir ein zartes Appetitgefühl, so dass am Ende noch eine Bratwurst in mich hinein passt.

„Los! Lasst uns kicken, ihr Eimer! Wir sind doch schon genug, Mann“, drängt Engel.

Für Engel scheint es bereits zu spät, um noch etwas zu essen, denn der Alkohol hat jede Form eines Hungergefühls für heute besiegt und so kauft er unserem Schatzmeister Sven vorsichtshalber noch ein Bier ab. Dass außer Sascha Quermann und ihm sonst keine Seele etwas für das Herforder bezahlen muss, fällt ihm gar nicht auf.

„Na los, lass uns spielen. Das wird bestimmt lustig in seinem Zustand“, sagt Murat lächelnd zu Sven und mir.

Bereits einige Male haben wir mit einem Engel im Suff Fußball gespielt. Weil er sich dabei kontinuierlich aufs Maul legt, können wir ihn herrlich umspielen, abschießen und demütigen, ohne dass das dumme alkoholkranke Schwein etwas davon mitbekommt.

„Na los, ihr faulen Säcke“, grölt Engel. „Lasst uns anfangen. Sonst wird es bald dunkel.“

„Ich spiel gleich mit deiner Rübe Fußball, wenn du nicht endlich den Kopf zumachst“, ruft Brauni und bis auf Quermann und Engel lachen alle über diesen Spruch.

Es wird 20:15 Uhr.

Ich leere mein viertes Bier, als Sophia und Tina auf der Bildfläche erscheinen, was gemeine Nervosität bei Mark erzeugt, welcher sich sofort zu den beiden Mädels rüber setzt, aber eigentlich nur zu Sophia möchte. Es geht ihm nur um sie, davon bin ich hundertprozentig überzeugt. Rassel folgt Mark und setzt sich zu der kleinen Gruppe ins Gras, wobei es ihm einen Dreck schert, dass er heute eine hellgraue Anzugshose trägt.

Fast alle der Jungs sind nun bereit, Fußball zu spielen. Lediglich Rassel, Ralph, Passfall und Mark sind nicht mit von der Partie. Weil sie Fußball in allen seinen Facetten schlicht und einfach hassen, kann ich bei den drei Erstgenannten den Verzicht verstehen, während mir bei Mark hingegen, der dieses Spiel liebt, jedes Verständnis dafür fehlt. Dass er nun im Grase hocken bleibt, kann nur im Zusammenhang mit Sophia stehen.

Und ich diese Frau mag ich noch immer nicht! Punkt!

Rasch werden faire Mannschaften gebildet und das Spiel beginnt.

Ich erziele ein wunderschönes Fallrückziehertor, aber die meisten Tore macht wieder einmal Toni, dem der Torinstinkt wohl in die Wiege gelegt wurde und der somit tatsächlich einen Hauch von Jürgen Klinsmann hat. Ebenfalls wird das Demütigen des Suffkopfes ein voller Erfolg. Frank Engel wird gnadenlos umdribbelt, fällt bei jedem Versuch, einen Zweikampf anzunehmen, auf die Fresse und man umspielt ihn dann am Boden liegend erneut, was einen besonderen Spaßfaktor erzeugt, als er für eine Weile im Tor steht. Sage und schreibe fünfmal umkurve ich den gefallenen Engel, der liegend wie wild nach der Kugel schnappt und tritt, bevor ich den Ball langsam und genussvoll zwischen die zwei Rucksäcke, die das Tor bilden, und über die imaginäre Linie schiebe. Keiner seiner Teamkollegen, nicht einmal Sascha Quermann, kommt ihm zur Hilfe. Geschlossen stehen alle Spieler nebeneinander und verfolgen lachend die Show, die ich mit ihm abziehe. Schließlich wechselt Engel ins Feld zurück und seine Mitspieler passen ihm oft zu, da es ein Hochgenuss ist, zu verfolgen, dass er sich bei vielen seiner Versuche, selbst einen Gegner auszuspielen, kontinuierlich aufs Maul legt. Trotzdem genehmigt er sich während des Spiels in schöner Regelmäßigkeit großzügige Mengen an Schnaps und Bier. 

Mehr und mehr bricht die Dämmerung über das Land herein.

Wie es steht, weiß zu diesem Zeitpunkt längst keiner mehr. Also entschließen wir uns einstimmig, dass das nächste Tor entscheidet.

Zur perfekten Abrundung dieses wundervollen Fußballspiels wird, dass ausgerechnet Frank Engel es durch ein prächtiges Eigentor entscheidet. Der Saufaus spielt den Ball mit einem kräftigen Vollspannschuss zurück zum eigenen Torhüter und Murat, der gerade zwischen den Pfostenrucksäcken steht, kann oder will den Ball nicht festhalten. Wahrscheinlich hat Frank Säufer Engel schlicht und einfach vergessen, auf welches Tor seine Mannschaft zu spielen hat.

„Du Trop, du“, schreit Andreas ihn an und Sven, der mit mir gegen ihn kickte, erklärt: „Du Vollpfosten. Warum bist du eigentlich Wenk? Weil er nichts kann, Mann!“

Franks Reaktion besteht aus einem lallenden: „Hey, Torwart, Kollega, Idiot.“

„Mach den Kopf zu, du Detlef!“, erwidert Murat mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

Wir gehen zurück zu den anderen.

Frank Engels Skianzug ist vollkommen verdreckt von Gras- und Erdflecken, die sich bis in sein Gesicht hinaufziehen. In seinen fettigen dunkelblonden Haaren haften unzählige Grashalme und er stinkt penetrant gegen den nicht vorhandenen Wind nach Schweiß, Bier und Fusel; eine solch intensive Geruchsmischung, dass sie wahrscheinlich noch von den Einwohnern der Stadt Peking gegen den Smog gerochen werden kann. Dieser Mann ist ohne einen Hauch des Zweifels das widerwärtigste, abstoßendste, ekelerregendste Geschöpf, welches auf Erden wandelt; zum Kotzen.

Inzwischen lodert unser Feuer und zwei neue Gäste sind eingetroffen; Annkathrin und Madeleine. Madeleine ist vor fünf Jahren kurz nach der Wende mit ihren Eltern von Leipzig her nach Bielefeld gezogen und trifft voll meinen Geschmack. Sie ist groß, schlank, hat schwarze Haare, tolle Beine, nette Brüste und einen knackigen Hintern. Leider sieht man sie viel zu selten auf dem Schulhof oder im Pendel und zu meinem Leidwesen muss ich offen sagen, dass diese süße Achtzehnjährige sich permanent Scheißtypen an den Hals wirft. Im Moment geht sie mit einem prolligen Autoschrauber und Hobbyfußballer aus Schildesche, mit dem zusammen ich sie vor ein paar Monaten in der Innenstadt von Bielefeld getroffen habe; ein Kerl mit weißblonden Haaren, etwas kleiner als sie, in Lederjacke und Cowboystiefeln, fast ein blondes brüderliches Abbild des dämlichen Karsten Passfalls. Bei der kurzen Begegnung hat der Kerl tatsächlich vor lauter Dummheit kein Wort herausgebracht und es stand ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben, dass er den Prototypen einer Hohlhupe in Reinkultur verkörperte. Dabei verfügt Madeleine durchaus über jede Menge Grips, was es für mich noch schwieriger macht, ihre Männerauswahl zu begreifen. Sie besucht die zwölfte Klasse eines katholischen Gymnasiums, arrangiert sich für Amnesty International und steht auf klassische Literatur.

Was findet sie bloß an solchen Schwachmaten?

Ich nehme mir ein Bier und setze mich zu Sven und überlege dabei leise, ob ich ich es heute schaffe, mich ein wenig mit Madeleine zu unterhalten. Im Moment redet sie mit Tina und Annkathrin, schaut aber gelegentlich, jedenfalls wirkt es so, zu mir herüber.

Brauni hat Türen und Fenster seines Fords geöffnet und beschallt den ganzen Grillplatz und wahrscheinlich ganz Brackwede, nein, ganz Ostwestfalen mit plärrender Technomusik, die leider, leider so gar nicht meinen Geschmack trifft. Ich baue darauf, dass er gleich in seine Proletendisko abzieht und diese Mucke für Unterprivilegierte mit sich nimmt.

Engel hat noch zwei Mark zusammenbekommen und investiert diese umgehend in Bier, wovon er in Abwechslung mit dem Doppelkorn trinkt und dabei so intensiv, wie das sein trunkener Zustand noch zulässt, das hübsche Mädel von den Rock a Billys beobachtet, die inzwischen ebenfalls ordentlich Party machen. Ihr Ghettoblaster fordert durch ordentliche Lautstärkenleistung Braunis Audioanlage heraus, aber das Autosoundsystem siegt, weil es ein wahres Monster an Watt ist.

Madeleine haut früh ab.

Schade! Du konntest dich nicht mit ihr unterhalten, mein Bester. Wahrscheinlich entschwindet sie jetzt zu ihrem dämlichen Macker nach Schildesche.

Mittlerweile ist es gänzlich dunkel.

Die Rock a Billys haben ein recht ansehnliches Feuer entzündet, dessen Funken orangeglühend hoch in die Luft schwirren, da einer von ihrer Truppe einen alten Weihnachtsbaum, Gott weiß, wo er den aufgetrieben hat, in die tanzenden Flammen geworfen hat.

Frank Engel sitzt breitbeinig auf einem leeren Bierkasten und glotzt noch immer trunken gierig nach dem Rock a Billy–Mädel, die im Flammenschein wirklich zauberhaft aussieht.

„Die Alte macht mich an“, lallt er. „Die macht mich schweinegeil. Die kleine Hure, die!“

Sabber läuft ihm aus der Fresse. Man kann deutlich sehen, dass er unter dem Stoff seines verdreckten Skianzugs einen Ständer hat.

Schwankend steht er auf, wobei die Doppelkornpulle, die auf seinem Schoß liegt, ins Gras plumpst und torkelt langsam in Richtung der Rock a Billys.

„Wo willst du hin, Engel?“, fragt Thomas ihn.

„Ich gehe ein Rohr verlegen. Ficken, Mann“, lallt er.

„Das würde ich nicht tun“, ruft Brauni ihm nach. „Das könnte gehörig nach hinten losgehen.“

Engel dreht sich auf der Stelle und blickt zu uns herüber.

„Häh, was?“

„Nach hinten losgehen. Deine Anmache könnte wahrscheinlich fehlschlagen“, erklärt Brauni ihm.

„Was heißt hier könnte. Sie wird unter Garantie ein Eigentor in Form von zwei blauen Augen“, äußerst Sven sich dazu.

„Und ein paar ausgeschlagene Zähne kommen noch obendrauf“, wirft Adnan ein.

Engel begreift endlich, was wir ihm sagen wollen.

„Ihr..ihr...“, stammelt er. „...ihr glaubt doch nicht im Ernst, dass ich...dass ich...dass ich vor diesen Schießbudenfiguren dort Angst habe. Außerdem sind wir viele.“

„Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir dir helfen. Du gehörst nicht zu uns!“, sagt Sven hörbar angesäuert und deutet mit dem Arm in Richtung Sascha Quermann, der etwas abseits von uns sitzt, aber das Ganze doch recht aufmerksam verfolgt. „Geh zu deinem Kumpel Quermann und frag den, ob er mit dir die Alte anbaggern geht. Es wird uns eine Freude sein, zu sehen, wie die Kerle dort drüben euch den Berg runtertreten.“

Engel guckt schockiert. Er stammelt etwas Unverständliches und will sich wieder auf den leeren Kasten setzen, zielt leider daneben und landet mit dem Hintern voran im Gras. Das mit dem Rohr verlegen haut heute wohl nicht mehr hin, selbst wenn sich eine Willige fände, was so wahrscheinlich wie eine plötzliche Konvertierung des Papstes zum Islam erscheint. 

Ich schaue nach Ralph und Karsten, meinen OS–Freunden.

Sie sitzen auf der anderen Seite des Feuers zusammen mit Helge und Thomas Freundin Sandra. Karsten hat ein paar Bier gekippt und kommt nun richtig in Fahrt, reißt einen flachen Spruch nach dem anderen.

„Ein Kamel kommt eher durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Das hat nicht etwa der Papst gesagt, nein, das steht auf seinem...Kerzenständer.“

„Flach, Karsten. So flach“, sagt Ralph und deutet mit Daumen und Zeigefinger etwas mehr als einen Millimeter an.

Helge lacht, worüber Passfall sich wiederum freut.

„Da oben fliegt ein Geier. Von unten sieht man seine...Füße“, fährt Karsten fort.

„Mann, Alter“, ruft Ralph.

Helge schlägt sich vor Lachen auf die Schenkel.

„Im Stall auf dem Klotze liegt eine plattgetretene...Fahrradlampe.“

„Flacher geht ’s nicht. Flacher geht `s nicht“, schimpft Ralph Beermann.

Helge kriegt sich gar nicht mehr ein und Karsten freut sich immer noch, anstatt zu kapieren, dass er ausgelacht wird.

Die Nacht nimmt ihren Lauf und das Bier fließt weiter in Strömen.

Brauni bricht in seine Disko auf, worauf der Ghettoblaster der Rocky a Billys freie Fahrt hat. Die sind genau wie wir mittlerweile anständig angesäuselt und singen die alten amerikanischen Hits weißer Rock and Roller euphorisch mit.

Inzwischen ist unser Feuer niedergebrannt und besteht nur noch aus orangener Glut, aus der hier und da kleine Flammen züngeln.

„Ey, wie sieht es aus, wollen wir nochmal Holz suchen und das Feuer ordentlich schüren?“

Helge, Sandra und Thomas bewachen die zur Neige gehenden Vorräte, während der Rest sich in den Wald zum Holzsuchen aufmacht.

Meine Augen gewöhnen sich recht schnell an die fast vollkommene Finsternis an diesem Ort und als ich nicht mehr Gefahr laufe, orientierungslos vor dem nächsten Baum zu landen, wird Geäst gesammelt.

„Oh Mann! Death! Verdammte Tat nochmal!“, tönt Rassel von der Ferne her, der sich wahrscheinlich langgemacht hat in der Dunkelheit.

Ich muss grinsen und mache mich wenig später, die Arme vollgeladen mit Ästen, durch das Unterholz zum Grillplatz zurück. Kurz vor der Waldgrenze sehen meine nun sehr gut an die Sichtverhältnisse gewöhnten Augen zwei Menschen zwischen zwei Bäumen. Sie sind nur angedeutete Schatten in der Finsternis, jedoch kann ich eindeutig erkennen, dass ihre Silhouetten miteinander verschmelzen. Ich pirsche mich beinahe geräuschlos näher heran und sehe, dass es Sophia Wehmeyer und Mark Wenzel sind, die heftig miteinander knutschen.

Nein! Das kann doch wohl nicht wahr sein! So dumm ist Mark nicht wirklich, dass er sich diese Oberemanzentussi anlächelt! Es muss am Alkohol liegen! Anders kann es nicht sein!

Für eine Weile stehe ich still dort, beobachte sie beim Küßen und ein sehr unangenehmes Gefühl breitet sich in mir aus, welches schwerlich richtig gedeutet werden kann.

Du hast ein schlechtes Gefühl bei der Sache, was mein Freund! Das kannst du auch. Das ist nicht gut, gar nicht gut. Du wirst schon sehen. Wart ` ab, Freund Twelker!

Weil es mir hochgradig peinlich wäre, von ihnen in dieser Situation bemerkt zu werden, schleiche ich im weiten Bogen um die Szenerie herum und betrete den Grillplatz.

Diese eben beobachtete Szene besaß irgendwie etwas Komisches, Unreales, Lächerliches. Sie macht mich ziemlich sauer und ein ungutes Gefühl, was, warum auch immer, nicht richtig definiert werden kann, habe ich eben auch dabei.

Du willst unter keinen Umständen, dass Mark mit der herrischen Sophia zusammenkommt. Da könnte er ebenso gut seinen Herrn Vater heiraten, nicht wahr?

Das schlechtes Gefühl im Bauch mit mir herumtragend kehre ich ans Feuer zurück, das man mittlerweile auch wieder Feuer nennen darf.

Von den anderen aus unserer Truppe scheint keiner etwas bemerkt zu haben. Jedenfalls schwatzt hier niemand über Mark und Sophia. Rassel lästert mit Sven über einen alten Lehrer ab, eben jenem Lehrer, der ihm seinen Spitznamen verpasst hat und der nun, so meint es Andre jedenfalls, sein Outing als Homosexueller getan habe. Ralph redet mit Thomas und Helge über Auto- und Mobiltelefone, die im Jahre 1995 nur etwas für Freaks mit dem passenden Kleingeld sind. Karsten Passfall wurde durch den Alkohol kurzfristig außer Gefecht gesetzt. Das passiert eigentlich immer, wenn man mit ihm feiern geht. Lang ausgestreckt liegt er auf der Wiese und die Spitzen seiner Deichmann–Cowboystiefel zeigen schnurstracks zum Nachthimmel hinauf. Friedlich schlummert er in den tanzenden Schatten, die unser Feuer wirft, vor sich hin. Bald wird er wieder aufwachen und sich das nächste Bier schnappen.

Quermann kann ich im Moment nirgendwo entdecken. Vielleicht sucht er noch Holz, vielleicht ist er irgendwo pissen oder schlicht und einfach nach Hause abgezogen. Im Gegensatz zu Karsten, der nur ein wenig döst, ist Frank Säufer Engel gänzlich zu Boden gegangen. Er liegt auf der Wiese  und schaut im Feuerschein schlimmer als der letzte Bahnhofspenner aus. Weil er sich auch nach dem Fußballspiel dutzende Male auf die Fresse gelegt hat, bedeckt ihn beinahe gänzlich eine Kruste aus Dreck, Staub und Gras. Selbst gegen den scharfen Geruch des Feuers kommt sein penetranter Gestank aus Schweiß, billigem Tabak, Dreck und Alkohol mühelos an. Um ihn herum liegen die nun zwei leeren Pullen Doppelkorn und fünf oder sechs Flaschen Herforder, ebenfalls inhaltslos. Frank Engel hat seine letzten Kröten in unser Bier investiert und ist nun sicherlich restlos pleite.

Annkathrin kommt an meine Seite und fängt an, mir etwas über die Probleme mit ihrem Chef zu berichten.

Zehn Minuten später, Annkathrin heult sich immer noch über ihren Vorgesetzten aus, kommt Mark aus dem Wald. Er trägt das gesammelte Holz vor seinem Brustkorb, lässt es neben das Feuer ins Gras fallen und setzt sich neben mich.

„` warst aber lange Holz suchen“, sage ich zu ihm.

Er grinst mich an.

„Ich weiß, ich weiß. Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen. War wohl wieder ein Bierchen zu viel.“

Ich habe für mich entschieden, ihn und auch alle anderen nicht auf das Thema Sophia Wehmeyer anzusprechen, denn damit soll Mark Wenzel schön selbst anfangen.

Fünf Minuten später kommt Sophia ebenfalls mit Holz beladen aus dem Wald zurück. Fräulein Wehmeyer schaut einmal verstohlen zur Mark und mir herüber, bevor sie sich abseits von uns zu Thomas und Sandra setzt.

Vielleicht hast du Glück, Freund Twelker, und es ist nur eine alkoholgeschwängerte Knutscherei gewesen. Doch, halt mal, tauschen die beiden Turteltauben nicht heimliche, begehrende Blicke aus. Schau mal genau hin! Natürlich tun sie das!

Passfall wird wieder munter, ganz wie es vorauszusehen war, und erhebt sich mechanisch, wobei er einer Mumie in einem zweitklassigen Horrorfilm gleicht, die langsam ihrem Sarkophag entsteigt. Nachdem er sich einige Male geschüttelt hat, setzt er sich neben mich und sagt: „Ich glaube, ich habe ein Problem, ein wichtiges Referat bis Montag fertig zu bekommen.“

„Wo ist denn das Problem?“, frage ich herzlos wie ein Roboter. Karstens Schulprobleme interessieren mich im Moment keine Bohne.

Wie wird die Sache mit Sophia und Mark sich entwickeln? Wie wird die Sache mit Sophia und Mark sich entwickeln? Wie wird die Sache mit Sophia und Mark sich entwickeln?

„Ich verstehe die Literatur einfach nicht. Kein Wort. Der ganze Kram könnte auch auf Chinesisch geschrieben sein“, sagt er hilflos.

Deshalb bist du bald draußen, Karsten! Weil du von der ersten Minute Oberstufen-Kolleg an nichts verstanden hast. Und jetzt lass mich in Ruhe! Ich habe gerade ganz andere Sorgen als dein nahendes Ende am OS.

„Hast du schon was vorbereitet für Montag?“, frage ich, schaue kurz zu Karsten, dann zu Sophia und endlich zu Mark und erkenne, dass die beiden schon wieder Blickkontakt haben.

„Scheiß Gesaufe“, ruft Mark es laut genug aus, so dass die ganze Runde es hören kann. „Ich habe solche Kopfschmerzen.“

Sophia schaut kurz, aber nervös zu ihm rüber.

Da ist eine Verschwörung im Busch. Die zwei planen etwas, Irrtum ausgeschlossen.

„Ich will ehrlich zu dir sein“, fährt Passfall fort. „Ich habe noch keine Zeile für das Referat zu Papier gebracht.“

Das sieht schlecht aus, Kasi! Ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund. Und nun gehe Frank Engel vollheulen oder wegen mir auch Bundeskanzler Helmut Kohl. Nur lass mich in Ruhe, damit ich über Dinge nachdenken kann, die wirklich wichtig sind.

„Dann bleibt dir ja nur noch morgen, oder vielmehr heute.“

„Herrje. Ich glaub, ich brauch ein Bier“, sagt Karsten resignierend.

Er geht zu dem Kasten  Herforder, dem letzten, der überhaupt noch volle Flaschen enthält, und nimmt eine heraus.

Mark steht auf.

„Ich haue ab, Freunde. Habe echt Scheiß–Kopfschmerzen. War ein toller Abend bis auf die letzte halbe Stunde“, erklärt er in die Runde.

„Jo, mach `s gut“

„Gute Besserung.“

„Wir telefonieren,“

„Bis denne“

Thomas und Sandra gehen mit ihm.

„Ich glaube, es wäre besser gewesen, eine Ausbildung zu machen, anstatt aufs OS zu gehen“, murmelt Passfall vor sich hin.

Die Rock a Billys machen Feierabend. Sie schalten den dröhnenden Ghettoblaster aus und packen ihre Siebensachen zusammen. Ihr hübsches Mädel ist dermaßen breit, dass sie von einem Kerl in Rebellen T–Shirt gestützt werden muss.

Über dem Grillplatz geht langsam die Sonne auf, zunächst noch als ein goldener Streifen mit violetten Tönen untermalt am Horizont über dem Münsterländer Kreidebecken. Auch der heutige Tag verspricht, so wie es ausschaut, brüllendheiß zu werden.

Fünf Minuten nach Mark macht Sophia den Abgang.

Wahrscheinlich werden sie sich jetzt noch miteinander irgendwo treffen. Dir können die kein Theater vorspielen, Punktum!

Ralph Beermann zieht es heimwärts.

Er wohnt am Wellensiek nahe der Universität und sein silberner Golf II steht unten an der Straße. Aller Promille zum Trotze wird er, was häufiger vorkommt, nach Hause fahren, weil Autofahren und das großzügige Konsumieren der Volksdroge Alkohol in seiner Welt zwei Dinge darstellen, welche problemlos miteinander kompatibel sind.  

Rassel leert sein Bier.

„Die letzte Kippe. Dann bin auch ich raus“, sagt er und zündet sich eine Marlboro an.

Wenn er von der Sache zwischen Sophia und Mark wüsste, dann er hätte mich sicherlich drauf angesprochen. Nun gut, er wird es schon noch erfahren, sollte sich, was ich noch immer nicht hoffe, zwischen den beiden mehr entwickeln.

Da hier jetzt rein gar nichts mehr geht, beschließe nun auch ich, den Abgang zu machen.

Zusammen mit Andre und Passfall, der über eine Lösung für die Sache mit seinem Referat in nicht mal dreißig Stunden nachgrübelt,  steige ich den Grillplatz hinunter. Zuvor haben wir einstimmig entschieden, sämtliches Leergut und den Grill oben zurückzulassen. Was davon noch übrig bleibt, will Thomas morgen, oder, genauer gesagt, heute in ein paar Stunden mit dem Auto holen.

Unten verabschieden wir uns von Rassel, der leicht schwankend mit der brennenden Marlboro in Richtung Hochhäuser trottet. Nun schleicht im frühen Licht des jungen Tages lediglich noch Passfall neben mir her; die letzten Überlebenden einer langen, harten Nacht.

Will er vielleicht mit zu dir kommen und dich bis in den Vormittag rein mit seinen Problemen volltexten?

Aber schließlich sagt er zu meiner Erleichterung: „Ich bin raus. ` gehe jetzt darunter und schaue, ob schon eine Bahn fährt. Mal schauen, vielleicht kriege ich heute Abend noch was hin, damit ich zumindest etwas erzählen kann.“

Er gibt mir wie Sascha Quermann die Hand und zieht in eine andere Richtung davon.

Karsten wohnt am entgegengesetzten Ende von Brackwede und hat, wenn der Fahrplan der Bielefelder Stadtwerke es denn schlecht mit ihm meint, einen anständigen Marsch vor der Nase.

Nun stehe ich alleine in der Sonne dieses frühen Sonntagmorgens, in meiner Hand ein warmes Bier haltend, und den besoffenen Kopf voller dummer Fragen. Ich nehme geistesabwesend einen Schluck und stelle mit verzerrtem Gesicht fest, dass es nur noch widerwärtig schmeckt und mir von dem lauwarmen, schalen Geschmack fast die Galle hochkommt. Ich spucke den Schluck in hohem Bogen auf die Straße und schleudere die halbvolle Bierflasche achtlos in den nächsten Vorgarten, wo sie in einem Beet zwischen roten Rosen zum Liegen kommt. 

Jetzt erst fällt mir auf, wie sehr meine Klamotten nach Feuer, Party und Schweiß riechen.

Mein Heimweg führt zwangsläufig am Haus von Oberstudienrat Rabe vorbei, das hinter einem pedantisch gepflegten Vorgarten in der frühmorgendlichen Sonne liegt. Vor Marks Zimmerfenstern, die in der ersten Etage zur Straße hin liegen, wurde das Rollo heruntergelassen.

Ob dort hinter Sophia Wehmeyer und er wohl ein morgendliches tete a tete feiern? Was Oberstudienrat Wenzel wohl zu einer Frau wie Sophia sagen würde? Er wäre sicherlich restlos begeistert, eine konservative, bürgerliche, gebildete, hübsche Frau an der Seite seines einzigen Kindes und Sohnes zu sehen. Vielleicht aber liegt Mark dort oben tatsächlich mit Kopfschmerzen im Bett. Doch wer kann nach der Kussszene und der Seifenoper danach noch daran glauben?

Ich seufze, ziehe die Schultern hoch und greife nach meinen Zigaretten und stelle fest, dass sich nur noch eine Kippe in der Schachtel befindet.

Rauchend, nachdem die leere Schachtel gedankenverloren auf den Bürgersteig wurde fallengelassen, ziehe ich durch die Straßen in Richtung Heimat.


Kapitel 14

(Bonn im Sommer 2008) „Kannst ` nicht schlafen?“, fragt Franziska, nachdem sie auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer kam.

Von den Erinnerungen zurück in die Realität mit Lichtgeschwindigkeit.

Sie legt mir die Hände auf die Schultern und fängt an, mich sanft zu massieren. Ich schließe die Augen und genieße ihre Berührungen, die meinem Muskelgewebe und komischerweise auch der geschundenen Seele wirklich wohltun.

„Meine Güte! Du bist ja verspannt. Lass mal locker!“, sagt sie sanft.

Ich versuche, mich zu entspannen, was mir nicht ganz gelingt, da zu viel gerade in meinem Kopf herumkreist.

Meine Güte! Jetzt hast du es geschafft, mein Freund. Du hast Dilek betrogen! Und diese süße Blondine wird auch nicht verhindern, dass die Bullen dich ins Loch werfen.

Heftig zucke ich zusammen, worauf Franziska den Massagegriff lockert.

„Hey, was ist denn?“, fragt sie zart und setzt sich neben mich.

Nachdem Franziska die kleine Schirmlampe auf dem Sofatisch angeknipst hat, mustert sie mich besorgt mit ihren wachsamen blauen Augen. Ich mühe mich, ihrem Blick standzuhalten, kann sie aber nicht richtig ansehen.

„Nichts. Gar nichts“, antworte ich wenig überzeugend. „Ich habe nur an eine blöde Sache gedacht, die aber schon lange zurückliegt.“

Franziska scheint mir nicht recht zu glauben.

„Du hast eine Freundin. Ist es das?“, sagt sie bemerkenswert ruhig. Dennoch flackert etwas in ihren schönen Augen.

Eine kurze Zeit herrscht Schweigen, während draußen ein Roller vorbeibrettert, dessen Motor sich ähnlich einer Zwiebacksäge in den Tiefen der Nacht anhört. Nur langsam verliert sich der nervige Klang und kaum ist er vergangen, hören wir in weiter Ferne ein Martinshorn heulen.

„Ich habe keine Freundin mehr. Letzten Monat ist die Beziehung zerbrochen“, lüge ich.

„Wer hat Schluss gemacht?“

„Sie“, antworte ich und bedauere es sofort. Klüger wäre es gewesen, etwas von gegenseitigem Einvernehmen zu faseln.

„Du hängst noch sehr an ihr, stimmts?“

„Ich bin einfach nur verwirrt, wie schnell das geht. Noch gestern früh habe ich gedacht, dass ich von Frauen erstmal für längere Zeit die Schnauze voll habe. Denn am Ende der Beziehung ging viel Scheiße ab. Sie hatte mich bereits längere Zeit betrogen, was ich kürzlich erst herausfand. Und nun muss ich feststellen, dass ich dich wirklich sehr, sehr mag.“

Zumindest der letzte Satz kommt keiner Lüge gleich.

Sie blickt mich intensiv an und wird mir sicherlich gleich erklären, dass ihr das alles zu viel auf einmal und zu kompliziert sei und dass es nun besser wäre, die Sache nach nur einer Nacht zu beenden. Für einen kurzen Moment hoffe ich sogar, dass dergleichen aus ihrem Mund kommt und sie mich vor die Tür auf die dunkle Straße setzt.

Das würde unterm Strich wohl vieles einfacher machen für dich, mein Freund! Denn deine jetzige Situation gestaltet sich auch ohne heimliche Liebhaberin bereits kompliziert genug. Außerdem wirst du nicht viel davon haben, wenn dich die Polente erstmal in den Knast geschleppt hat!

„Es war also kein Abenteuer?“, fragt sie mich.

„Nein, nein. Auf gar keinen Fall“, versichere ich wie aus der Pistole geschossen.

„Du willst mich also wiedersehen?“

„Natürlich, Franziska. Ich würde am liebsten gar nicht mehr weggehen“, wird die Wahrheit von mir gesprochen.

Freudig lächelnd zieht sie mich zu sich hin.

Ich schließe die Augen, verstecke mich zwischen ihren langen, blonden Haaren, verstecke mich vor der kalten, brutalen und entsetzlich realen Welt dort draußen. Franziska streichelt meinen Rücken und küsst mich zärtlich auf den Hinterkopf. Es gibt keine Angst und keine Sorgen. Der entsetzliche Inhalt eines Postpäckchens, eine schwarzhaarige Frau namens Dilek, der anstehende Besuch in Bielefeld, das alles liegt weit, ganz weit entfernt auf einem anderen Planeten, in einem anderen Sonnensystem, in einem anderen Universum und Abermilliarden an Lichtjahren von diesem Sofa entfernt, auf dem wir sitzen und einander eng umschlungen festhalten.

Plötzlich überkommt mich wieder eine bleierne Müdigkeit.

„Können wir wieder ins Bett gehen? Ich bin so müde, so hundemüde“, sage ich flehentlich.

„Na klar“, sagt sie, steht auf und zieht mich vom Sofa hoch.

Im Schlafzimmer kuscheln wir uns auf dem Bett unter der dünnen Decke zusammen.

Die sommerliche Wärme, die in der kleinen Dachgeschosswohnung steht, die Wärme ihres Körpers, die sanften Streichelbewegungen ihrer Hände auf meinem Rücken, die entfernten Geräusche draußen auf der Straße; meine Sinne schwinden davon und ich schlafe fest, entspannt und traumlos.

 

Kapitel 15

(Bonn im Sommer 2008) Vor dem Haus, in dem Franziskas Wohnung liegt, gibt sie mir einen kurzen Kuss auf den Mund und sagt: „Ciao, Jonas. Bis später.“

Dann tritt sie in die Pedalen ihres roten Mountainbikes und radelt die Straße hinunter ihrer Arbeitsstätte entgegen, wo sie um zwölf Uhr mittags in die Spätschicht geht. Ich blicke ihr nach, bis sie um eine Ecke verschwunden ist, und bleibe alleine auf dem Bürgersteig in der Vormittagssonne zurück.

Arbeit, denke ich, wobei mir wieder einfällt, dass es auch für mich sinnvoll wäre, ins Institut zu gehen, um noch etwas auf die Kette zu bekommen. Morgen und übermorgen werde ich in Bielefeld, der alten Heimat, weilen, so dass diese Tage für die Semestervorbereitung flachfallen.

Auf einmal wird mir speiübel und alles, was gerade noch ein kaum sichtbarer Fixstern war, kommt wieder erschreckend nahe an mich heran.

Gestern Abend, wahrscheinlich in weiser Voraussicht dessen, was noch geschehen sollte, schlich ich im Pawlow auf die Toilette und schaltete klangheimlich mein Mobiltelefon ab, damit auch kein Anruf die gemütliche Zweisamkeit zwischen Franziska und mir stören konnte.

Der Griff in die Vordertasche meiner Jeans und das Samsung herausgezogen.

Ich aktiviere es und warte. Nach langsam verstreichenden Sekunden ertönen in kurzen Abständen drei aufeinanderfolgende Pieptöne, die mich jedes Mal zusammenzucken lassen. Im Postfach befinden sich drei SMS, von denen zwei Anrufe in Abwesenheit bezeugen, die dritte hingegen eine Textnachricht meiner festen Freundin Dilek beinhaltet.

 

 

Hallo Schatz!

Ich mache mir große Sorgen. Ich habe versucht, Dich anzurufen. Auf dem Handy, bei uns daheim, bei Dir im Büro. Ich habe totale Angst, dass Dir etwas passiert sein könnte. Ruf mich bitte schnell zurück.

Ich liebe Dich!

 

Ich setze mich aufs Fahrrad und strampele mit klopfendem Herzen und entsetzlich schmerzendem Magen in Richtung Südstadt zurück, dabei wieder einmal den Tunnelblick innehabend, der nichts außer den zwanzig Metern Straße vor mir freigibt.

In meiner Wohnung greife ich nach dem Festnetztelefon und wähle Dileks Handy an.

Nachdem das erste Freizeichen verklungen ist, ertönt ihre aufgeregte Stimme im Hörer.

„Jonas! Endlich! Ich habe so auf deinen Anruf gewartet. Hättest du bis 13:00 Uhr nicht angerufen, hätte ich die Polizei eingeschaltet. Wo bist Du gewesen?“

„Es tut mir so leid, Dilek. Aber ich war nach der Arbeit noch bei Markus Herbig und der Akku ist leergegangen und Markus hatte kein passendes Ladekabel daheim. Es wurde dann spät und ich habe bei Markus übernachtet“, lüge ich das Blaue vom wolkenlosen Himmel.

„Du hättest mich doch trotzdem anrufen können. Du wusstest doch, dass wir telefonieren wollten. Ich habe mir echt totale Sorgen um dich gemacht.“

Dilek hört sich nun extrem zickig an.

Eigentlich mag ich es, wenn Dilek zickig wird, da sie dann zumeist einen leicht niedlichen Gesichtsausdruck vor sich her trägt. Gelegentlich machen wir uns aus ihrer Zickerei eine Art Spielchen, welches erotisch prickelnde Züge annehmen kann.

Heute hingegen besitzt ihr Rumgezicke eine gänzlich andere Natur, die, das steht sicher fest, keinerlei erotische Züge annehmen wird.

Noch vor achtundvierzig Stunden loderte in mir die Angst, vor Knast, Klapsmühle und einer Flucht Dileks in die Arme eines anderen Mannes. Nun existiert lediglich noch die Furcht vor der forensischen Psychiatrie oder dem Gefängnis und ich lüge weiter hemmungslos: „Es tut mir wirklich sehr leid, aber du weißt doch, wie schlecht ich mir Zahlen merken kann. Ich habe es nach drei Jahren erst auf die Reihe bekommen, unsere Festnetznummer auswendig zu wissen. Deine Handynummer habe ich beim besten Willen nicht im Kopf. Außerdem haben Markus und ich Poker gespielt und ein bisschen zu viel getrunken. Wir haben Musik gehört und ich habe einfach nicht dran gedacht, dass du dir solche Sorgen machen könntest.“

„Getrunken!“, spuckt Dilek das Wort förmlich aus. „Was denn?“

„Nur Bier“, versichere ich. „Leider etwas zu viel davon.“

„Warum trinkst du, wenn ich weg bin? Du weißt doch, was ich davon halte. Du musst echt aufpassen mit dem Scheiß.“

„Dilek, es war doch nur einmal. Außerdem fühle ich mich heute so schlecht, dass ich für die nächste Zeit erstmal bedient bin.“

„>>Es war doch nur einmal!<<“, zitiert Dilek mich schnippisch. „Das sagen sie alle. Das ist ein typisches Zeichen für Sucht oder zumindest für Suchtgefahr.“

Ach herrjeh! Jetzt fängt sie zu diskutieren an! Na wie wir das lieben, mein Bester!

Obwohl ich Franziska erst einige Stunden kenne, kann man sicher sagen, dass sie wesentlich weniger kompliziert als die hochintelligente Dilek ist. Ich werde wütend, genervt und sehe mich vollkommen im Recht, aber es gelingt mir gut, bei meiner Antwort weder wütend noch genervt zu klingen.

 „Dilek, du kennst mich doch. Wenn wir beide zusammen sind, trinke ich keinen Tropfen. Nie! Oder bin ich schon mal mit einer Fahne aus dem Institut nach Hause gekommen? Oder hast du mich trinkend daheim angetroffen, wenn du von der Arbeit kamst? Oder hast du in unserer Wohnung versteckte Schnapsflaschen gefunden?“

Du wirst noch zu einem Schauspieler, der Robert de Niro alle Ehre macht. Weiter so! Hau rein!

„Nein. Natürlich nicht. Ich mache mir Sorgen, dass du trinkst, wenn ich weg bin. Es kommt mir so vor, als würdest du nur auf solche Gelegenheiten warten.“

„Nun ich denke, dass fast alle Männer mal mit ihrem besten Freund einen über den Durst trinken, wenn die Ehefrau oder Freundin nicht mit dabei ist. Ich finde, da gibt es für dich wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen“, erkläre ich und spüre erleichtert, dass ich wieder Oberwasser bekomme.

„Vielleicht hast du Recht. Aber du musst trotzdem aufpassen. Und es wäre mir lieber, wenn du es lassen würdest. Aber das weißt du ja.“

Dileks Stimme klingt nun wesentlich sanfter. Ich habe ihre Absolution erhalten, was einen guten Zeitpunkt für einen Themenwechsel darstellt.

„Ich werde es in nächster Zeit bleiben lassen. Danke für deine Sorgen. Sehr lieb von dir, mein Schatz. Sag, was hast du gestern gemacht?“

Dilek fängt an, mir den gestrigen Tag detailliert zu berichten.

Ich höre kaum zu, bin im Kopf schon ganz woanders, da ich mir als nächstes eine Geschichte einfallen lassen muss, die meine morgige Abwesenheit aus Bonn erklärt. Bielefeld kann da nicht ins Spiel gebracht werden. Denn wie soll ich Dilek, die meine Eltern über alles schätzt und mag, erklären, dass ich in meiner Heimat weile und meine Eltern nicht besuche, wohl aber einen alten Schulhoffreund? Außerdem würde sie dann sicherlich wieder mit ihren Filmen über mögliche Saufgelage anfangen.

Nachdem Dilek ihren Bericht geschlossen hat, bekommt sie Folgendes zu hören: „Das freut mich sehr, dass du deine Zeit dort unten in Bayern so richtig genießt. Dann hat sich die Reise ja schon jetzt voll und ganz gelohnt. Wenn du mich morgen ab Nachmittag und übermorgen erreichen willst, musst du das auf dem Handy tun. Ich reise nämlich kurzfristig nach Münster. An der Uni dort findet, wie ich gestern erfahren habe, ein Workshop für Graduierte statt, wo einige interessante Wissenschaftler zu Gast sind. Es geht dort vor allem um Botanik und fächerübergreifend um Paläobotanik. Eigentlich ist das nicht mein Spezialgebiet, aber ich erwarte mir einige Denkanstöße und vielleicht kann ich gar was für meine Erstsemester im Oktober herausholen aus dem Workshop.“

Ach, übrigens; dieser Workshop existiert, was der Gewillte oder der Kontrollierende jederzeit im weltweiten Netz nachlesen kann.

„Sehr schön. Es wird dir bestimmt Spaß machen, mein Schatz, mit deinen Kollegen zu philosophieren und zu streiten. Das freut mich für dich. Wo wirst du übernachten?“, fragt Dilek und aus ihrer Stimme höre ich klar heraus, dass sie mir die Story komplett abkauft und sich obendrein tatsächlich auch noch für mich freut.

„Ich kann im Gästehaus der Universität Münster übernachten.“

Wir reden noch ein wenig und verabschieden uns, in dem wir einander versichern, wie sehr einer den anderen liebe.

Ich stelle das Haustelefon zurück auf die Ladestation und bin darüber erstaunt, wie leicht mir die Lügen von der Hand gehen, seitdem ich die Postwurfsendung in den Händen hielt.

Daran ist nur der Inhalt dieses verfickten Umschlags schuld, verdammte Inzucht, Mann! Du solltest diesen Scheißdreck nicht mehr in deiner Wohnung haben!

Ich greife mir ein Feuerzeug, nehme das Anschreiben sowie die Audio–CD aus der Schublade und gehe ins Badezimmer.

Im Wachbecken wird das Papier verbrannt, mit dem dieses ganze Dilemma angefangen hat. Dunkler, ätzender Rauch kräuselt sich zum Ablüfter hinauf, der Drohbrief verwandelt sich in knisternde schwarze Asche. Der CD rücke ich mit einer von Dileks Nagelfeilen zu Leibe, zerkratze sie zehn Minuten lang, um den Rohling endlich in der Küche mit der Geflügelschere in dutzende kleine Stücke zu zerschneiden.

Nach getaner Arbeit fühle ich mich keinen Deut besser.

Ich verspüre das Verlangen nach einer Zigarette, aber die goldene Schachtel im Wohnzimmer auf dem Sofatisch gibt nichts mehr her. Pech gehabt!

Ich beschließe, eine Dusche zu nehmen und anschließend zur Arbeit zu gehen.

 

Kapitel 16

(Bonn im Sommer 2008) Zwar habe ich nicht viel geschafft, aber immerhin mehr als gestern.

Pünktlich zu ihrem Feierabend um kurz nach acht Uhr ruft Franziska mich auf dem Handy an.

"Hey Jonas! Kommst du in die Stadt? Wir könnten was essen und ein bisschen durch die Bars ziehen", jubelt sie einen verführerischen Vorschlag.

Nur zu gerne würde ich dieser Aufforderung umgehend Folge leisten, wenn es da nicht ein kleines Problemchen gäbe. Dilek will mich um 21:00 Uhr auf dem Haustelefon anrufen; ein Termin, welchen ich unter keinen Umständen verpassen darf.

„Das würde ich nur zu gerne. Aber leider gibt es hier im Institut noch reichlich Arbeit. Was hältst du davon, wenn wir uns um 22:00 Uhr bei dem Chinesen gegenüber dem Stadthaus treffen und ein verspätetes Abendessen zu uns nehmen? Bis dahin dürfte ich das Zeug hier vom Schreibtisch haben.“ 

„Eine prima Idee. Dann kann ich noch in aller Ruhe in die Badewanne steigen und mich fertigmachen.“

Aus ihrer Stimme klingt hundertprozentige Lebensfreude und positive Energie, die selbst über das Telefon ansteckend wirkt.

„Mach das, mein Schatz! Du kennst den Chinesen doch?“

„Natürlich. Wer in dieser Stadt kennt diesen Laden nicht. Was meinst du, sollen wir nach dem Essen zu dir gehen?“, fragt Franziska

Herrjeh. Jetzt sitzt du aber schön in der Tinte. Franziska daheim bei dir, wo Dilek hinter jeder Ecke lauert. Alleine die ganzen Fotos, die dort hängen und im Wäschekorb im Badezimmer liegen noch reichlich weibliche Kleidungsstücke, weil du fauler Esel es nicht hinbekommen hast, die Waschmaschine anzuschmeißen.

Soll ich jetzt weiter rumlügen und Geschichten erzählen a la, dass die Wohnung nicht aufgeräumt sei oder dass mich dort noch zu vieles an meine Ex erinnere? Wie würde Franziska da wohl reagieren? Könnten ihre Gedanken in etwa wie folgt lauten: Noch nicht ganz über eine Beziehung weg und trotzdem was Neues am Laufen, wahrscheinlich, um sich zu trösten. Und wenn die Ex wieder ruft, kriecht er gleich zurück. Denn die Tür ist noch lange nicht zugefallen.

Damit mir Franziska weiter bei der Stange bleibt, antworte ich: „Das ist eine super Idee. So machen wir ` s.“

Nachdem das Gespräch beendet wurde, verlasse ich mein Büro und bin froh, keinen meiner Studenten oder Kollegen begegnet zu sein.

Zurück in der Wohnung, geht es zunächst einmal daran, die Spuren Dileks zu verwischen.

All die Fotos, Kleidungsstücke, Pflege- und Kosmetikprodukte, die eine Frau eben so mitnimmt, wenn sie auszieht, wandern in zwei große Reisekoffer, welche ich im Anschluss unter dem Bügelbrett und einem leeren Wäschekorb in der Besenkammer verstecke. Die Kammer wird verschlossen und der Schlüssel unter einem Stoß Papieren in der Schublade meines Schreibtisches versteckt.

 

 

Kapitel 17

(Bonn im Jahre 2008) Franziska steht vor dem Eingang zum China Restaurant und  trägt ein wirklich süßes Sommerkleid, welches knallbunt fröhlich durch die warme Nacht leuchtet. Sie strahlt bis über beide Ohren, als sie mich kommen sieht. Ich schließe das Fahrrad an einer Laterne fest und gebe Franziska zur Begrüßung einen Kuss auf den Mund, bevor sie mich bei der Hand nimmt und elanvoll mit sich in das Lokal hineinzieht, wo wir schnell und einstimmig beschließen, uns das mongolische BBQ zu genehmigen.

Während der Koch unser Fleisch und Gemüse auf heißer Platte brät, bringt eine der asiatischen Kellnerinnen zwei große Biere vom Fass. Franziskas blaue Augen funkeln geheimnisvoll faszinierend im Schein der Tischkerze. In deren sanften Licht schimmern ihre blonden Haare engelhaft.

So ein Spielzeug wünscht sich jeder Mann, Freund Twelker!

„Was machen deine Eltern beruflich?“, fragt sie mich und reißt mich aus meinen Engelsträumereien.

„Mein Vater ist Zahnarzt und Kieferchirurg. Meine Mutter arbeitet als Biologin an der Bielefelder Universität. Mein Vater wird die Praxis allerdings in zwei Jahren abgeben. Meine Mutter ist fast zehn Jahre jünger und muss also auch dementsprechend noch etwas länger arbeiten.“

„Du schlägst also deiner Mutter nach. Sonst hättest du wahrscheinlich Zahnmedizin studiert“, spricht Franziska lächelnd.

„So wird es wahrscheinlich sein. Zahnmedizin oder auch Medizin im Großen und Ganzen hat mich niemals wirklich interessiert. Biologie dafür um so mehr. Warum dem so ist, weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht so genau.“

„Es gibt da eine schöne Bauernweisheit, die besagt, dass Töchter eher nach dem Vater kommen und Söhne eher nach der Mutter. Dein Fall scheint diese These zu untermauern. Du erwähntest mal eine Schwester. Was macht die denn so?“, fragt Franziska munter weiter.

Ihre Neugier wirkt ungemein sexy. Wegen mir kann sie mich zu jedem Thema dieser Welt befragen, wenn sie dabei weiterhin solch eine frische sexy Aura ausstrahlt.

Halt! Nicht jedes Thema! Bitte nichts über Dilek oder die Geschehnisse am letzten Juniwochenende im Sommer 1996 fragen! Das wäre ungemütlich, Freund Twelker! Außerdem werden die Bullen dir noch genug Fragen stellen!

Nach einem kurzen, aber heftigen Anfall von innerlichem Schüttelfrost greife ich ihre Frage auf.

„Sie hat in Bielefeld Klinische Linguistik studiert. Das war aber nichts für sie. Sie hat das Studium relativ schnell abgebrochen und eine Ausbildung zur PTA gemacht. In der Apotheke, in der sie anschließend untergekommen ist, lernte sie einen Kunden und Schnösel kennen, der in Ostwestfalen mehrere Sonnenstudios betreibt. Mittlerweile sind die beiden verheiratet und haben einen zweijährigen Sohn. Meine Schwester arbeitet nicht mehr in der Apotheke. Vielleicht später wieder. Im Moment möchte sie ganz Mutter sein.“

„Mutter ist doch eine lobenswerte Tätigkeit. Auch in der heutigen Zeit noch, finde ich. Du nanntest deinen Schwager eben Schnösel. Kann es sein, dass du ihn nicht so besonders leiden kannst?“, lautet die nächste Frage Franziskas.

„Eigentlich ist er kein übler Kerl. Er hat reichlich Geld, versorgt meine Schwester und meinen Neffen gut, liebt alle beide und geht seiner Frau nicht fremd. Aber für  mich ist er einfach ein braungebrannter Schnösel mit Geld und einem neuen Mercedes, der außer dem Sportteil in der Tageszeitung eigentlich nichts weiter liest. Alles an ihm ist irgendwie, nun ja, irgendwie oberflächlich.“

„Was meinst du mit oberflächlich genau?“

„Oberflächlich eben. Du kannst mit ihm über Fußball, Partys und übers Geldverdienen oder Geld an sich reden. Aber das ist es dann auch schon gewesen. Über Politik, Bücher oder solche Dinge kannst du mit ihm nicht reden. Keine Chance. Eine Fit for Fun ist wohl das Komplizierteste, was er jemals gelesen hat. Ich will nicht arrogant sein oder so, doch komme ich zum ersten Mal zu einer Person nach Hause, gucke ich mir zunächst die Bücher im Regal an. Bei meinem Schwager gibt es gar nichts, nichts! Nicht mal eine Bibel oder ein Kochbuch. In der ganzen Wohnung kein Buch! Mit solchen Menschen kann ich irgendwie nicht viel anfangen. ` ist leider so.“

Eine Kellnerin bringt unser Essen und verschwindet wieder.

„So, so. Du schaust also erstmal nach den Büchern. Das habe ich gestern schon bemerkt“, sagt Franziska und nimmt einen Bissen von ihrem Rindfleisch mit Gemüse in scharfer Sauce. „Liest deine Schwester denn viel?“

„Eigentlich schon. Romane und Biografien vor allem. Deshalb frage ich mich manchmal, was sie eigentlich von diesem Typen will, der so...“

„So oberflächlich ist“, beendet Franziska den Satz für mich. „Wo die Liebe hinfällt, sagt man doch.“

Ich nicke zustimmend und probiere meine scharfe Ente. Das Essen schmeckt ausgezeichnet.

„So wird es wohl sein. Vielleicht schafft sie es ja, ihn eines Tages zum Lesen zu bewegen. Aber jetzt hast du mich genug ins Verhör genommen. Jetzt stelle ich die Fragen. Was machen deine Eltern und deine Schwester?“

Von unseren gestrigen Gesprächen ist mir bekannt, dass sie eine kleine Schwester hat, die noch daheim lebt.

„Mein Vater betreibt als Selbstständiger eine Allianzniederlassung in Wesseling. Meine Mutter arbeitet im öffentlichen Dienst. Sie stellt Strafzettel für den Kreis Bergheim aus. Kurz, sie ist Politesse. So nannte man das jedenfalls früher. Meine Schwester geht noch zur Schule. Sie ist ja erst fünfzehn.“

„Dann hat deine Mutter bestimmt einen stressigen Job. Die lieben Deutschen und ihre Autos. Das muss, schätze ich, manchmal ziemlich, ziemlich hart sein.“

Franziska streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

„Das kannst du laut sagen“, antwortet sie umgehend. „Meine Mutter kann schräge Geschichten erzählen. Einmal ist ihr ein Typ, ein Fußballprofi vom 1. FC Köln, über eine Stunde hinterhergelaufen und hat ihr immer weiter erklärt, dass er sie bis in die Steinzeit verklagen wolle und dass sie die Knolle den Job kosten würde. Das stand sogar im Express. Nun gut, am Ende musste die Polizei meine Mutter von der Litanei dieses Musterprofis erlösen. Der Kerl wäre von alleine niemals gegangen. Der hätte meine Mutter wahrscheinlich bis nach Hause verfolgt. Der Typ hat tatsächlich geklagt. Er hat den Kreis Bergheim, meine Mutter und, was weiß ich, wen noch verklagt. Unglaublich. Und das Ganze bei einem Typen, der wahrscheinlich Einkommensmillionär ist, jedenfalls fuhr er einen Maserati mit Camouflagelackierung. Kannst du dir vorstellen, was so ein Wagen kostet, und das alles wegen eines Knöllchens von 15 Euro.“

„Was für ein Vollpfosten. Herrje. Was es für dämliche Menschen auf dieser Erde gibt", empöre ich mich aufrichtig. „Und nun will ich aber wissen, wer hat denn vor Gericht Recht bekommen?“

„Der Kreis natürlich. Es macht keinen Sinn, gegen einen berechtigten Strafzettel zu klagen.“

Wir stehen auf, um uns erneut am mongolischen BBQ zu laben. Mein Kopf ist halbwegs frei von allen meinen Sorgen, während in der Ferne die Glocken des Münsters die letzte Stunde dieses Tages einläuten.

 

Kapitel 18

(Bonn im Sommer 2008) Dileks Sachen befinden sich längst wieder an ihren angestammten Plätzen.

Seit Franziska meine Wohnung verlassen hat, geht es mir erneut extrem dreckig. Die Sorgen, die Angst und die innere Verwirrtheit sind zurück und das mit voller Schubkraft.

Ich stehe im Schlafzimmer und räume einige Kleidungsstücke, mein Reisegepäck für den so schmerzvollen Abstecher in die alte Heimat, in eine blaue Sporttasche.

Die Nacht mit Franziska, die im Moment das einzige lebende Wesen zu sein scheint, das mich von meinem Dilemma ablenken kann, war wieder unglaublich intensiv. Sie schlief auf Dileks Seite vom Bett und schien sich innerlich darüber zu amüsieren, dass dort bis vor Kurzem meine angebliche Ex genächtigt habe. 

Während ich den Reißverschluss meiner Sporttasche schließe, wird mir brutal schlecht, so dass ich eine Viertelstunde über der Toilettenschüssel kauere und unter Tränen Schleim aus meinem Körper herauswürge.

Später warte ich im Wohnzimmer auf dem Sofa, dass der Zeitpunkt kommt, um zum Bahnhof aufzubrechen. Schließlich endet man, wo ein Mensch zumeist endet, wenn er einsam daheim weilt und zu nervös ist, um Texte oder tiefergehende Informationen aufnehmen zu können; vor der Glotze.

„Das Kleinkind wurde im Kühlschrank in der Wohnung des Vaters gefunden. Die Leiche des Zweijährigen befindet sich mittlerweile in der Pathologie. Dem Bremer Jugendamt soll bereits seit längerer Zeit bekannt sein, dass der 24jährige massive Drogen- und Alkoholprobleme hat. Die Kriminalpolizei Bremen ermittelt nun wegen Mordes. Aus der Hansestadt berichtet Dorothea Blank.“

Ein Mord und die Kriminalpolizei. Solche Nachrichten kannst du im Moment überhaupt nicht gebrauchen!

Schnell auf einen anderen Sender geschaltet.

Horst Tapperts altes Gesicht mit den markanten Tränensäcken und dem dünnen gescheitelten Haar erfüllt den Bildschirm. Tappert sitzt hinter seinem Schreibtisch zusammen mit Fritz Wepper, davor hockt ein unbekannter Schauspieler. Unschwer zu erkennen ist, dass wir es hier mit der Wiederholung einer Derrick– Folge aus den 1980er Jahren zu tun haben.

Derrick spricht zu dem Mann vor seinem Schreibtisch: „Auf diesem Stuhl saßen schon so viele harte Burschen; Mörder, Totschläger, Vergewaltiger.“

Herrje. Auch hier geht es um Mord und Totschlag, wenn auch nur in Form eines Fernsehspiels. Ebenfalls für dich ganz entschieden das falsche Programm zur falschen Zeit. Außerdem wirst du selber bald auf einem solchen Stuhl vor einem solchen Schreibtisch hocken, nur dass dann keine Schauspieler, sondern wahre Bullen dir gegenüber sitzen werden!

Irgendwo in den Tiefen der hinteren Kanäle versuchen sie, Autopolitur für 29,95 Euro und zwei Schwämme gratis obendrauf an den Mann zu bringen.

Eine solche Sendung kannst du wesentlich besser ertragen momentan, aber im Endeffekt sitzt du so oder so mehr dumm herum und starrst Löcher in die Zimmerdecke, als dass du TV schaust! Immerhin werden sie dir erlauben, in deiner Zelle einen Fernseher zu haben, mein Freund!

Die Schweißausbrüche suchen mich dermaßen heftig heim, dass ich mich vor meiner Abreise tatsächlich noch einmal unter die Dusche schwingen muss.

Irgendwann zeigt die Uhr dann  kurz nach drei an und die Zeit bricht an, zum Bahnhof zu gehen.
Weil sich das Ticket bereits in meinem Besitz befindet, könnte man die ganze Sache eigentlich recht locker angehen lassen, doch statt Lockerheit findet Folgendes in meinem Kopfe immer wieder in einer Endlosschleife statt.

Bald sitzt du im Knast, Freund Jonas. Keiner wird dich besuchen kommen. Was werden deine Eltern wohl sagen, wenn das alles ans Licht kommt? Deine lieben, guten, alten Eltern, die immer so eine hohe Meinung von dir gehabt haben, Jonas Twelker. Die Mutter, die dich schon als Professor sieht, und der Vater, der es sich nie nehmen ließ, den Doktortitel seines Sohnes vor seinen Freunden und Bekannten zu erwähnen. Sie sind so stolz auf dich. Doch bald werden sie deine Existenz und ihr eigen Fleisch und Blut verfluchen.

Auf dem Bahnsteig sucht mich ein heftiger Schwindelanfall heim, wobei alles um mich herum zu flimmern und sich zu drehen anfängt. Ich stütze mich an einen Süßigkeitenautomaten, schließe die Lider und versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Langsam geht es mir etwas besser, gewinnt die Welt ihre normalen Konturen zurück.

Auf dem Gleis steht nun der ICE – Diplomat bereit, der von der alten in die neue Hauptstadt reist und auf seinem Weg einen Zwischenhalt in Bielefeld einlegt.

Ich steige ein und finde schnell einen unreservierten Fensterplatz.

Weiter vorne in diesem Wagon nimmt ein älteres Paar Platz. Der Mann mag Anfang siebzig sein und stemmt das Gepäck mühelos in die Ablage hinauf.

Der sieht viel kräftiger als Opa Rainhard aus!

Äußerst schmerzhaft zieht sich mein Magen zusammen und ich krümme mich kläglich in meinem Sitz zusammen.

Als der Zug schließlich Fahrt aufnimmt und beim Blick auf den riesigen Sendemast, der hoch über der Stadt auf dem Venusberg thront, überkommen mich plötzlich Wehmut und eine heftige Niedergeschlagenheit.

Du willst überhaupt nicht weg aus Bonn! Du willst nicht nach Bielefeld und über unangenehme Dinge reden, die doch schon so lange zurückliegen! Du willst dich mit Franziska amüsieren oder wegen mir auch mit Markus Herbig eine ausgedehnte Kneipentour bis in die frühen Morgenstunden unternehmen.

Tränen steigen in meine Augen und fast kommt mir wieder die Galle hoch, während der Zug schier geräuschlos durch die ländliche Ebene zwischen Bonn und Köln gleitet.

Beim Halt in der Domstadt füllt sich der ICE nun deutlich.

Neben mich in den Sitz lässt sich eine junge Punkerin fallen, die, täte sie diesen ganzen Punkscheißdreck weglassen, sicherlich ein ganz ansehbares Mädel ist. Immerhin gehört sie nicht zu diesen Schmarotzerpunks, dafür sind die Klamotten zu edel, die Irokesenfrisur zu perfekt gestylt, und passt daher eher in einen Musikvideoclip auf MTV als schnorrend in die Fußgängerzone einer Großstadt. Die junge Frau nickt mir kurz lächelnd zu, dann holt sie ein iPod heraus, stöpselt sich die Hörer in die Ohren und verschwindet hinein in ihre eigenen Welt.

Der Zug fährt über den breiten Fluss ins rechtsrheinische Köln. Mein Blick fällt auf all die Liebesschlösser an den Gittern des Brückengeländers. Für den kurzen Moment denke ich, wie viele der Paare, die einst die Gegenstände als Zeichen immerwährender Zuneigung hier anbrachten, wohl noch zusammen sein mochten. Doch wirklich ablenken tut mich das nicht.

Die Hände sind zitterig und schweißnass, krampfartige Anfälle überkommen in schöner Regelmäßigkeit meinen Magendarmtrakt und ich wünschte, Dileks Tavor aus der Nachttischschublade mitgenommen zu haben, was aber leider in meiner Nervosität vergessen wurde. Vielleicht könnte ein Weizen aus dem Speisewagen Abhilfe schaffen, den grummelnden Magen und die zitternden Hände zu beruhigen. Allerdings ist die Gefahr bei dieser Lösung groß, dass aus einem Weizen vier oder fünf werden und ein gewisser Jonas Twelker bereits angetrunken in Bielefeld aus dem Zug steigt.

Draußen fliegt Leverkusen vorbei.

Ich mache die Augen zu und die Erinnerungen kehren zurück.

Kapitel 19

(Bielefeld im Sommer 1995) Nach dem Gezeche auf dem Grillplatz erwachen ich bei brüllendheißen Temperaturen gegen 14:00 Uhr.  Ein Alkohol- und Nikotinkater peinigt mich, mein Magen hat Schlagseite und ein leichtes Schwindelgefühl durchdringt meinen Körper.

In Boxershorts und T–Shirt gehe ich hinab in die Wohnung meiner Eltern, welche gerade dabei sind, den Mittagstisch abzuräumen.

„Na, war` s heftig gestern?“, fragt meine Mutter grinsend.

„Es ging. Vor allem lang.“

Weil der Nachdurst gewaltig in mir wütet, hole ich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Nachdem ich gierig einen viel zu großen Schluck von dem viel zu kalten Wasser genommen habe, verkrampft mein Magen, so dass ich vor Schmerzen zusammenzucke und mich am Esstisch niederlasse.

Mein Vater grinst.  

„Willst du was essen? Es ist noch warm. Spaghetti Bolognese. Dein Lieblingsessen.“

Obgleich die Aussage meines Vaters zutrifft, dass Spaghetti Bolognese mein Lieblingsgericht sei, beleidigt der Gedanke an Essen mich gerade.

„Später. Ich mache es mir dann warm.“

„Dann war es wohl doch etwas heftiger“, sagt meine Mutter lächelnd.

Anstatt ihr zu antworten, genehmige ich mir lieber unter einem behutsameren Vorgehen einen weiteren Schluck Wasser.

Meine Schwester kommt in die Küche und an unseren Gesichtszügen erkennt der neutrale Betrachter sofort, dass wir Geschwister sind. Wir verstehen uns seit Ewigkeiten prima, haben keinerlei Probleme mit- und untereinander.

„Und gestern gut getrunken?“, fragt sie.

„Ja. Ging schon gut zur Sache und es war eine ganz coole Party, bis auf dass der ekelhafte Frank Engel vorbeigekommen ist und sich komplett abgeschossen hat. Und wie war es bei dir gestern?“

Demonstrativ rümpft mein Schwesterherz die Nase und legt einen angewiderten Gesichtsausdruck auf. Auch sie kennt Frank Engel.

„Ich war bei David. Wir waren auf ein paar Bier im Schlosshof und anschließend haben wir den Samstag bei zwei Videos auf Davids Sofa ausklingen lassen. Ich bin vor einer Stunde erst heimgekommen. Und in dieser Stunde hat Mark schon zweimal für dich angerufen. Es muss wichtig sein. Er klang in jedem Fall aufgeregt. Positiv aufgeregt. Aber trotzdem habe ich dich schlafen lassen, Bruderherz. Habe ich gut gemacht, nicht wahr?“

„Perfekt Schwesterchen! Du bist die Allerbeste! Ich kann mir schon vorstellen, was Mark mir erzählen will. Dieses kleine arrogante Miststück hat dem jetzt schon den Kopf verdreht. Ojemine, ojemine.“

„Wer verdreht Mark den Kopf?“, fragen meine Mutter und meine Schwester synchron, worauf mein Vater fröhlich vor sich hin lacht.

„Das erzähle ich euch später. Jetzt gehe ich erstmal telefonieren.“

Ich nehme unser schnurloses Telefon von der Station und wackele damit auf mein Zimmer hinauf. Normalerweise meldet sich stets der Oberstudienrat und haucht ein tiefes „Wenzel“ ins Telefon, heute allerdings befindet sich Mark direkt in der Leitung.

„Hey, Jonas. Ich muss dir was erzählen“, sprudelt er.

„Na dann leg mal los.“

„Ich bin mit Sophia zusammen. Ich hatte gestern gar keine Kopfschmerzen. Das war nur eine Ausrede, damit ich mich noch mit ihr alleine treffen konnte. Oh Mann! Es hat so gewaltig zwischen uns beiden gefunkt. Diese Frau ist einfach obergalaktisch.“

Den Hörer am Ohr lasse ich mich auf mein Bett fallen.

„Das habe ich mir schon beinahe gedacht.“

Mark ist verwundert.

„Warum?“

„Ich habe euch gesehen. Als ich Holz suchen war. Der Kuss zwischen den Bäumen.“

„Das hast du mitbekommen, du Aasgeier. Es war umwerfend, überwältigend. Ein Gefühl, das ich bisher echt nicht kannte. Das hört sich jetzt vielleicht schleimig und kitschig an, ist aber die volle Wahrheit“, jubelt Mark und sein Tonfall ändert sich ein wenig, als er mich fragt: „Und hast du es schon jemanden von den anderen erzählt? “

„Nein. Habe ich natürlich nicht.“

„Gut! Danke! Das wollte ich nämlich selber erledigen. So nach und nach.“

„War die Nacht wenigstens gut?“, will ich wissen, um zu erfahren, ob diese hochnäsige Tussi wenigstens im Bett ihre Qualitäten besitzt.

„Es war Wahnsinn. Wir waren bei mir. Die Nacht war fantastisch, unbeschreiblich. Solche Gefühle habe ich noch niemals erlebt vorher. Sophia hat bei mir übernachtet. Wir haben den Sonnenaufgang zusammen beobachtet und nach dem Aufstehen hat sie meine Eltern kennengelernt. Mein Vater findet Sophia echt okay. Und das heißt bei ihm ja schon was.“

Das waren eigentlich nicht so ganz die Informationen, die ich mir erhofft hatte, aber was soll ` s. Mark klingt so begeistert, dass ich mich für ihn freue, obgleich mir diese Frau ein großer Dorn im Fleische ist.

„Na dann wünsche ich dir alles Gute und dass es etwas länger als die üblichen drei Wochen dauert. Wir lassen noch für eine Weile den gestrigen Abend und besonders die Peinlichkeiten Engels Revue passieren, bevor wir das Gespräch beenden.

Ich strecke mich gänzlich auf dem Bett aus, worauf die Müdigkeit erneut von mir Besitz nimmt, ein klares Zeichen dafür, dass es letzte Nacht eindeutig zu wenig Schlaf und zu viel Alkohol gab. Ich greife nach der Fernbedienung und schalte die Glotze ein.

Ein in einer Fotokabine spielender House–Musik–Videoclip flimmert vorüber. Der Typ, der ihn singt, hat lange blonde Haare und sieht aus wie getrockneter Durchfall. Das Lied liegt im Moment voll im Trend, wird rauf und runter gespielt und jeder geistige Tiefflieger, von denen es jede Menge zu geben scheint, fährt voll drauf ab. Mir hängt es arg zum Halse raus und deshalb schalte ich umgehend weg.

Auf einem anderen Kanal läuft Moby Dick aus dem Jahre 1956.

Den restlichen Tag über bleibe ich im Bett, wobei mich der brillante Sommer dort draußen ausnahmsweise einmal nicht interessiert. Ich kuriere meinen Kater aus, gucke Fernsehen und döse hier und da kurz weg, wobei ich einmal eine seltsame Traummontage gehabt haben muss, die aber nur noch fragmentarisch in meiner Erinnerung existiert.

Ich saß mit Rassel und Mark auf dem Baumstamm nahe der Steinbruchkante und da gab es noch eine vierte Person, die ein unscheinbares Allerweltgesicht trug und der Steinbruch war mit unserem Lieblingsplatz darüber nur Teil eines viel größeren Berges, auf dessen Spitze ein dunkles Schloss stand. 

Später am Abend ruft Andre Faust durch. Im Rahmen dessen gibt es nur ein Thema. Rassel zeigt sich genauso besorgt wie ich darüber, dass Frau Sophia Wehmeyer einen schlechten Einfluss auf unseren gemeinsamen Freund ausüben könne.

„Mark ist doch nicht dumm“, erkläre ich, als sich das Gespräch langsam dem Ende entgegen neigt. „Die Liebe blendet ihn vorübergehend ein wenig, aber er wird schon wieder klarer sehen, wenn der erste Gefühlsrausch verflogen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zwischen Sophia und Mark all zu lange dauern wird.“

„Das glaube ich auch“, stimmt Rassel mir zu. „Mark hat mit seinem Vater bereits eine Person, die ihm dauernd reinredet. Da braucht er nicht noch eine weitere. Es wird nicht lange dauern.“

Doch wir sollten uns gehörig täuschen. Mark Wenzel und Sophia Wehmeyer sollten lange,  lange zusammenbleiben; sehr lange.

 

 

Kapitel 20

(Auf der Schiene im Sommer 2008) „Meine Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Hagen. Bitte beachten Sie, dass in Hagen die untere Trittstufe nicht ausgefahren werden kann. Hier haben Sie Anschluss an...“, plärrt eine männliche Stimme aus den Lautsprechern. 

Ich setzte mich in meinem Sitz auf und bin mir nicht ganz sicher, ob ich mich nur intensiv erinnert oder gar ein wenig geschlafen habe. Der Halt in Wuppertal jedenfalls ging vollkommen an mir vorbei.

In Hagen steigen ein paar Leute ein und kaum einer aus, so dass der Aufenthalt lediglich von kurzer Dauer ist.

Die Fahrt geht bald weiter.

Jetzt gibt es in Hamm nur noch einen Stopp auf meinem Weg zurück in die alte Heimat Bielefeld. Das Herz schlägt höher, kalte Schauer überlaufen den Rücken, Angst wütet und ein äußerst unangenehmes Grummeln erfüllt die Magengegend.

Eine junge Frau in der blauen Serviceuniform der Bahn läuft durch den Waggon. Sie schiebt einen Handwagen vor sich her, in dem sich Schokoriegel, eingeschweißte Sandwiches, Softdrinks und Bier befinden. Weil ein Bier gerade echt von Nöten ist, um die ramponierte, in Flammen stehende Psyche etwas zu kühlen, kaufe ich ihr, die recht süß aussieht, eine 0,33 Flasche Warsteiner ab. Das Bier läuft im Rekordtempo die Speiseröhre herunter und gleich geht es mir ein wenig besser; zwar nicht gut, aber besser.

Ich blicke auf die vorbeifliegende, in der Sonne liegende Landschaft und erinnere mich erneut.

 

Kapitel 21

(Bielefeld im Altweibersommer 1995) Im frühen Herbst sind Sophia und Mark bereits über zwei Monate zusammen.

Natürlich gilt er Rassel und mir nach wie vor als treuer Freund, doch müssen wir ihn nun teilen.

Auch Rassel befindet sich momentan in den festen Händen einer pummeligen Blondine aus Halle in Westfalen. Ihr Name lautet Patricia, sie ist nicht die hellste Glühbirne im Lampengeschäft, entstammt dafür aber einem guten Hause, was für Rassel vielleicht einer der Gründe sein mag, mit ihr zusammen zu sein. Rassel arbeitet um so härter an seiner Karriere und da sind Kontakte in die besseren Kreise sicherlich nicht schädlich. Zudem kommt Patricia relativ locker daher, hält ihren Andre an der langen Leine und man kann ordentlich mit ihr Party machen gehen, das hat sie uns bereits nachdrücklich bewiesen. Ich kann sie um einiges besser ausstehen als eine gewisse Sophia Wehmeyer, was allerdings keine Überraschung sein dürfte.

Es sind die letzten schönen Tage im Jahr und wir schreiben Freitagnacht.

Mark, Andre und ich waren im Pendel auf das erste reine Männertreffen seit sechs Wochen.

Die Uhr zeigt 1:43 Uhr an, während wir die Hauptstraße bei Motobeacane verlassen, zur Schulstraße hinaufstiegen und nach einem kurzen Fußmarsch an den Häusern mit den schäbigen Appartements vorbeikommen, in welchen Frank Säufer Engel und Sascha Quermann in ihrer Nichtigkeit und ihrem selbstverschuldeten Elend vor sich hin vegetieren.

Um es genauer zu formulieren, wird Quermann dort bald zu Ende vegetiert haben, denn zum Monatswechsel tauscht er seine jämmerliche Bruchbude an der Schulstraße gegen eine Wohnung am Schwarzen Kamp ein, in der eine Frau lebt, die zehn Jahre älter als Sascha sein soll. Tatsächlich hält er sich bereits jetzt schon die meiste Zeit bei dieser ominösen Frau auf. Es mag unglaubwürdig klingen, doch anscheinend existieren tatsächlich Damen der Schöpfung, die einen Asozialen wie Sascha Quermann ranlassen.

Offiziell sei es die ganz große Liebe, verkündet es Quermann allen, die es hören wollen.

Inoffiziell gehen allerdings Gerüchte umher, wonach Quermann sein Rattenloch nicht mehr finanziell halten könne, weil er einen Großteil des Geldes in die Spielothek trage. Er solle mit Anfang zwanzig bereits Schulden in Höhe von über zehntausend Mark am Hintern kleben haben.

Nun hat Quermann seinen Sperrmüll, als was anderes kann man den Krempel wahrlich nicht bezeichnen, all das Zeug, was er nicht mit zu seiner Ollen nehmen darf, an die Straße gestellt; ein altes Bett mit Lücken im Lattenrost, einen klapperigen Schreibtisch, einen klemmenden Drehstuhl, aus dessen Rückenlehne der Schaumstoff quillt, ein alter Schrank, der schon vom Hinsehen zusammenzufallen droht, ein kleiner stinkender Teppich und der großer Pappkarton eines Röhrenfernsehers, der nun diverse unnütz gewordene Artefakte aus dem jämmerlichen Leben eines Saschs Quermanns enthält.

Wir nehmen den Karton genauer unter die Lupe.

Zerfledderte Zeitschriften über die Feuerwehr, vergilbte Fernfahrermagazine, Schnellhefter in roten, blauen und gelben Farben, die zumeist Papiere aus Quermanns kurzer Zeit an der Berufsschule enthalten. Weiterhin finden sich alte Modelle; Schiffe, Flugzeuge, Feuerwehrautos und selbstverständlich Lastkraftwagen. Sie sind jene Jungenträume aus Plastik, die eines Tages dann brüchig zu werden beginnen.

Mark zieht ein ferngesteuertes Auto hervor, einen Geländewagen aus billigster chinesischer Produktion, dem ein Teil seines Kuhgitters fehlt. Die Antenne, ein Reifen und die Fernbedienung bleiben unauffindbar.

Rassel betrachtet den Wagen genauer und fängt heftig zu lachen an. Er nimmt das ferngesteuerte Spielzeug an sich und hält es ins Licht der Straßenlaterne, die dem Sperrmüll hier am nächsten ist. Wie Faust dort so steht und den Wagen in den weißlichen Schein reckt, sieht er aus, als sei er ein Totengräber mit seiner Totenlampe in der Klaue, der gerade erst frisch einer Schauergeschichte entsprang.

Mit der freien Hand zeigt er auf das beschädigte Kuhgitter und erklärt: „Das war Sven Vogel. Quermanns ferngesteuertes Auto stand auf der Tischtennisplatte und Sven hatte sein Auto dahinter gestellt. Das war vor vier oder fünf Jahren,  vielleicht auch vor sechs. Damals waren wir alle irgendwie auf dem ferngesteuerten Auto–Trip. Alle hatten eines. Thomas, Sven, Brauni, ich und eben auch Quermann. Jedenfalls stellt Sven sein Auto hinter das von Quermann und schiebt es mit seiner Kiste von der Tischtennisplatte und das Kuhgitter geht in ` Arsch. Quermann sagt: >>Ey, was soll das?<< und Sven antwortet: >>Oh Entschuldigung, Sascha. Ich bin aus Versehen an den Hebel von meiner Fernsteuerung gekommen.<< >>Ist ja nicht schlimm<<, hat Quermann darauf gesagt. Man hat gesehen, dass es in ihm gekocht hat. Dass er sauer ohne Ende war. Aber ihr wisst ja, wie viel Angst Quermann vor Sven hat. Also hat er auf alles okay getan. Und wisst ihr, was Sven noch getan hat?“

Mark und ich schütteln synchron die Köpfe.

„Er hat, als Quermann weg war, das abgesplitterte Teil vom Kuhgitter gesucht“, fährt Rassel fort. „Er hat es gefunden und mit nach Hause genommen. Da hat er dann mit seinem Computer, den ollen Schneider Amstrad, einen Mini–Ausdruck erstellt. Darauf stand: Treffer Nummer Eins, Teil eines Kuhgitters von Sascha Quermann. Den hat er dann mit Tesa an das abgesplitterte Teil vom Kuhgitter getan und sich das Ding in die Vitrine gestellt.“

Wir lachen alle drei.

Rassel lässt den Wagen in den großen Pappkarton zurückfallen.

„Mal sehen, was wir sonst noch Geschichtsträchtiges in dieser Zauberkiste finden“, sage ich und fange das Wühlen an.

Seine Mappen aus der Berufsschulzeit werden durchgeblättert und schnell steht fest, dass Old Sascha Q. wenig, eigentlich gar nichts mitgeschrieben zu haben scheint. Lediglich kopiertes Unterrichtsmaterial findet sich, langweilige Skripte, die auf ein langweiliges Dasein als Elektriker vorbereiten sollen. Schließlich taucht zwischen zwei Mappen ein Block auf, den wir selbstverständlich ebenfalls aufmerksam durchblättern, wobei sich rasch herausstellt, dass die meisten karierten Seiten leer sind. Doch dann stoße ich auf kindliche Blockbuchstaben, die eng beieinander stehend eine knappe Seite füllen. Punkt und Komma, der halbwegs sprachkundige Mensch erkennt das schnell, finden nur fragmentarisch Anwendung.

Ich fange das Lesen an, um kurz darauf in heftiges Gelächter auszubrechen.

Rassel und Mark blicken mich neugierig an.

„Was ist das? Los, zeig her!“, fragt und befiehlt Rassel.

„Quermann hat eine Geschichte geschrieben“, gackere ich. „Oder hat es vielmehr versucht.“

„Zeigen!“, fordern meine Begleiter wie aus einem Mund.

„Okay. Ich lese es euch vor. Und zwar so, wie es dort steht. Am besten guckt ihr mit rein, während ich lese. Das müsst ihr selber gesehen haben. Sonst denkt ihr, dass ich euch verarsche.“

Und so setzen wir uns Mitten in der Nacht auf einen Bordstein der Schulstraße und lesen im Lichte der Straßenlaterne, was vor einer unbestimmbaren Zeit ein Herr Sascha Quermann schriftlich verzapft hat.

Es würde an dieser Stelle, liebe Leserinnen und Leser, zu weit führen, die ganze Geschichte wiederzugeben, daher seien hier nur die Toprechtschreibböcke zitiert.

Früher lagen in dem stetischen Krankenhaus fünf kleine Racker. Eines war ein besonders häsliches Beby, das von den anderen vier täglisch maskrit wurde. Das häsliche Beby hies Sven...Und so begab es sich das mann eine verzunkene Stadt suchen sollte. Mit dabei waren Frank, der Kuing of fotball, und Alex Bein, der heligen Haser, der alles über das Böse sprich Satanismuss weis...Das Seil reist und Sven fält runter...Der Mark der sich so tol vorkomt...Dann ging es nach Angola City. Befor mann die verzunkene Stadt suchte wurde zwei Wochen ficken und seufen in Angola City...Der Weerwolfmann polirt Jonas die Feese...Rassel wird von einem großen Sturm gepakt und von den Demonen mit einem glüenden Schwärt gefolter...Mit einem Schraubenziher stiecht der Weerwolfmann Sven die Augen aus. Sven schreit wie am Spis....

 

Tränen lachend sitzen wir auf dem harten Bordstein.

„Eines ist klar“, erklärt Mark. „Sven mag er überhaupt nicht. Noch weniger als uns. Habe ich euch schon erzählt, dass ich Quermann letztens in der Stadt vor der Marktpassage getroffen habe? Auf meine Frage, was er in der Stadt mache, sagte er mir, er wolle sich ein Richtmikrofon kaufen, um Vogelstimmen aufzunehmen. Da solche Geräte für Privatpersonen in diesem Land nicht gestattet sind, kann man davon nur einen Bastelsatz erwerben. Wenn er so bastelt, wie er schreibt, kriegt er das Teil in hundert Jahren nicht zusammengebaut.“

Rassel und ich schütteln die Köpfe und wir alle drei lachen noch mehr.

„Wisst ihr, was wir machen? Wir gehen auf ein zwei Bier zu mir und analysieren diese Geschichte. Zählen alle Fehler und so weiter und so weiter“, schlage ich vor.

„Da werden wir aber einiges zu tun bekommen“, sagt Rassel.

„Ich würde ja gerne mit euch korrigieren“, spricht Mark relativ leise. „Aber ich habe Sophia versprochen, dass ich heute nach dem Pendel noch mit dem Fahrrad zu ihr komme. Sie hat den Schlüssel extra in einem Blumenkübel im Garten für mich versteckt und...“

„Ach Papperlapapp!“, krächzt Rassel. „Die pennt doch eh schon und ihr ist es also Latten, ob du eine Stunde eher oder eine Stunde später kommst.“

„Ich...ich weiß nicht so recht...“

„Ach natürlich weißt du. Das sehe ich dir doch an. Du willst mit Jonas und mir mitkommen und diese gottverdammte Geschichte von diesem ekelhaften Hurensohn korrigieren. Also schwing den Arsch, Keule!“, drängt Rassel.

„Schon gut, schon gut! Ich komme ja mit, Alter!“, gibt Mark nach.

Wir gehen die Straße runter, wobei ich den kläglichen Versuch einer Geschichte zusammengerollt in meiner rechten Hand trage. Lang sind unsere nächtlichen Schatten im Zwielicht, welches die Laternen spenden. Dumpf ertönen unsere Schritte in der beinahe vollkommenen Stille.

Kurz vor dem Haus meiner Familie kommt eine Gestalt auf uns zugewankt, die leise eine Melodie vor sich hin summt.

„Guten Abend, Opa Rainhard“, sagen wir beinahe gleichzeitig und nicken in seine Richtung.

„Guten Abend, Jungs! Na, wart ihr auf Achse?“, lallt Opa Rainhard und trägt beim Sprechen eine starke Korn- und Bierfahne vor sich her.

Opa Rainhard wohnt zwei Häuser weiter als meine Familie die Straße runter. Schon immer war er dem Alkohol zugeneigt, aber seit er berentet wurde, hat er sich ihm mehr oder weniger ergeben. Jeden Freitag- und Samstagabend spaziert er bei Wind und Wetter durch den Wald und über den Berg nach Gadderbaum, um dort seine Stammkneipe zu besuchen und sich volllaufen zu lassen. Anschließend wankt er durch den Wald nach Brackwede zurück.

Opa Rainhard mag viel trinken und oft blau sein, aber dabei wahrt er stets Haltung, Würde und Verstand. Peinliche Aussetzer gibt es keine. Er kommt immer nett daher, grüßt höflich, jedermann kann stets einen netten, kleinen Plausch mit ihm halten und dass die Kinder und Jugendlichen bis hin zu den jungen Erwachsenen ihn Opa Rainhard nennen, stört ihn nicht im Geringsten. All diese Charaktereigenschaften machen den Rentner in der gesamten Spielstraße zu einem gern gesehenen Nachbarn. Natürlich ist sein Alkoholproblem allen Anwohnern bekannt, aber böse darüber reden, tut niemand.

„Das waren wir“, antworte ich. „Und du auch?“

„Wie immer. Alte Stelle, alte Welle. Ich wünsche euch Jungs noch eine schöne Nacht. Ich habe einen über den Durst gepichelt und muss heim.“

„Danke. Ebenfalls. Bis bald mal wieder.“

Opa Rainhard hebt noch einmal grüßend die Hand, dann schlendert er in Schlangenlinien die letzten Meter bis zu seinem Haus, wo leider keine Menschenseele mehr auf ihn wartet. Schon lange ist sein Sohn außer Haus und selbst Familienvater und seine Frau verstarb viel zu früh bereits vor Jahren bei einem Autounfall. Wahrscheinlich hängen dieser Unfalltod und Opa Rainhards Alkoholkonsum eng zusammen.

„Ich traue dem Typen, diesem Opa Rainhard nicht“, sagt Rassel leise, nachdem wir die Treppen zu der Dachgeschosswohnung hinaufgestiegen sind und mein Zimmer betreten haben. „Der tut immer so nett und kumpelhaft. Ich wette, der hat Försterfeld gesteckt, dass wir damals über sein Auto gestiegen sind.“

„Ach Quark. Das glaube ich nicht. Försterfeld wollte sich nur aufspielen. Du kennst ihn doch. Der wollte auf wichtigmachen, was er für gute und tolle Kontakte in der Nachbarschaft besitzt. Er spielte sich manchmal eben gerne auf. So wie damals, als er noch SS-Offizier gewesen war. Försterfeld war eben langweilig von so vielen Jahren Pensionärsleben. Er hatte das hundertprozentig alles selber gesehen, weil er auch nachts nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als aus dem Fenster die Spielstraße zu beobachten. Der Alte war ein Dummschwätzer vor dem Herrn, mehr nicht. Das hat man damals schon daran gehört, wie er zu uns sagte: >>Ich habe da meine ganz speziellen Quellen in der Straße<<“, nehme ich Opa Rainhard in Schutz.

Rassel und Mark machen es sich direkt auf dem besten Platz, der breit ausgebauten Fensterbank vor dem Doppelfenster mit wundervoller Aussicht auf die Spielstraße, gemütlich.

In der Dachgeschosswohnung gibt es den Anschlussplatz für eine Küche, wohin ich nun zielstrebig eile. Eingebaut haben Schwesterchen und ich selbstverständlich keine, werden wir doch verlässlich im Hotel Mama mit Speisen versorgt. Einen Kühlschrank hingegen, den unsere Eltern ausgemustert hatten, haben wir im Schweiße unseres Angesichts heraufgeschlappt und in diesem Kühlschrank befindet sich  immer reichlich Bier. Drei Flaschen davon entnehme ich nun und mache mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.

Meine Freunde haben inzwischen das Radio in der Stereoanlage eingeschaltet.

Der lokale Sender spielt eines dieser unerträglichen Lieder des Jahres 1995; 74/75, eine schlimme Schnulzennummer mit einem noch viel schlimmeren Videoclip dazu. Mir bleibt es wohl auf ewig unverständlich, dass Menschen auf solche Musik abfahren und diese auch noch kaufen. Obgleich die Nummer einfach nur zum Mäusemelken peinlich ist, läuft sie dennoch seit Monaten im Radio und TV rauf und runter.

Bierflaschen werden geöffnet.

„Prost!“

„Prost!“

„Prost!“  

 Klirrrrrrrrrrrr!!

Während Mark und ich genussvoll trinken, blickt Andre mit finsterer Miene raus auf die Straße.

„Und dieser alte Fotzenlecker Opa Rainhard hat uns doch bei Försterfeld verpfiffen. Von seinem Haus hat man ungefähr den gleichen Ausblick wie von hier. Seht ihr, dort drüben, wo jetzt der Passat von eurem neuen Nachbarn parkt, stand früher immer Försterfelds Mercedes. Beste Sicht drauf. Und nur Opa Rainhard sitzt um drei Uhr in der Früh dumm am Fenster und säuft. Du hast selber erzählt, Jonas, dass bei ihm manchmal um vier Uhr morgens noch Licht brennt. Und das mit Pätti war er auch. Den alten Sack hat es gestört, dass Pätti sonntags mit seiner frisierten Mofa durch die Spielstraße geheizt ist. Weil er deswegen seinen Rausch wahrscheinlich nicht auspennen konnte. Ich war dabei, als er dich gefragt hat, ob wir den Typen kennen würden, der da immer mit dem Mofa durch die Straße fährt. Weißt du das noch, Jonas?“

„Ja, Mann!“, erwidere ich kurz angebunden und etwas von dem Thema genervt.

„Ich sag es euch, der Typ ist richtig hinterfotzig. Eine richtig hinterhältige Sau. Ich kenne diesen Schlag Mensch. Das sind so die Leute, die im Dritten Reich ihre eigenen Eltern angezeigt haben, wenn die etwas gegen den Führer gesagt haben“, steigert Rassel sich weiter in diese Sache hinein.

Einen kurzen Lacher kann ich mir trotzdem nicht verkneifen, denn Rassel geht mal wieder voll ab und ist dabei, sich haltlos in etwas reinzusteigern ähnlich der Sache mit den ungeschriebenen Gesetzten des Schulhofs und Sascha Quermann vor über drei Jahren.

„Ist ja gut, Mann. Dann ist er es halt gewesen. Na wenn schon. Das ist doch jetzt alles lange her und vorbei“, erklärt Mark seine Sicht der Dinge.

„Nichts ist vorbei!“, keift Rassel. „Wegen dem alten Hurensohn musste ich für diese Scheiß-Inventurfirma arbeiten und bei Rewe Brühwürfel zählen. Und hätte Försterfeld uns wegen Vandalismus angezeigt und wäre das bis zur Bank vorgedrungen, dann wäre es das mit dem Ausbildungsplatz gewesen. Dann hätte den ein anderer Kerl bekommen. Die Sache ist niemals vorbei. Nie! Wir sollten den Knacker mal auflauern. Nachts im Wald! Wenn er von seinen Zechtouren nach Hause kommt, sollten wir ihm den Schädel einschlagen, bis die Suppe spitzt. Todsichere Methode. Keine Sau würde uns sehen. Kein Schwein würde etwas mitbekommen. Ich sage euch...“

„Meine Güte! Du steigerst dich da in was rein, Andre“, unterbricht Mark die Litanei. „Wir sind doch hier, um Quermanns Geschichte zu korrigieren. Und leider habe ich nicht die ganze Nacht Zeit. Also lasst uns anfangen!“

„Er hat Recht. Lasst uns Quermanns Geschmiere auswerten“, stehe ich ihm bei.

„Okay, okay!“, willigt Rassel ein. „Nehmen wir uns Sascha Quermanns geistige Ergüsse vor. Aber ich sage es euch, Opa Rainhard nehmen wir uns ebenfalls vor, wenn die Zeit dafür reif ist.“

„Machen wir, Rassel! Machen wir!“, sage ich beiläufig und rolle das Dina4–Blatt auf dem weißen Holz der Fensterbank aus. „Wir schlagen ihn tot, bis die Suppe spritzt. Mark, gehst du bitte zum Schreibtisch. Da muss ein Rotstift liegen.“

Auf der einen Seite finden wir sage und schreibe 145 Fehler bei 210 Wörtern und dazu sind wir uns bei einigen Wörtern hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung nicht ganz sicher. Worum es in dieser Geschichte, die im Übrigen unvollendet ist, geht? Wer weiß, wer weiß. Sicher ist nur, dass wir es hier mit dem Fehlerquotienten eines Sonderschülers, wenn nicht gar dem eines geistig Behinderten zu tun haben.

Endlich macht die Sache einen Heidenspaß und Mark muss sich richtig aufrappeln, um nach gut einer Stunde zu seiner Sophia aufzubrechen. Rassel und ich bleiben noch etwas sitzen und killen jeder ein weiteres Herforder, schwatzen lockeres Zeug daher und lauschen der Musik im Nachtprogramm des Lokalradios, die sich, Gott sei Dank, zum Besseren hin gewandelt hat.

„Ich frage mich, warum Quermann in seiner Geschichte über Satanismus und Dämonen schreibt", kommt Rassel auf die Geschichte zurück.

„Wahrscheinlich weil er es in einem Horrorfilm gesehen hat. Der Idiot hat bei seiner Geschichte sicherlich sich nichts selber ausgedacht, sondern einfach nur Sachen wirr zusammengeschmissen, die er in der Glotze gesehen hat."

„So wird es wohl sein. Denn dass er sich persönlich mit dem Thema beschäftigt und einen Dämonen heraufbeschwört, um sich an uns zu rächen, dafür ist er viel zu dumm", spricht Rassel und irgendwie habe ich den Eindruck, dass er plötzlich ernster geworden ist.

"Das ist doch so oder so nur Hokuspokus und Aberglaube. Nur Idioten, die im Leben zu kurz kommen, beschäftigen sich mit so einem Zeug."

„Das würde ich nicht sagen. Es gibt sehr berühmte Menschen, die sich mit Satanismus und Okkultismus beschäftigen. Schau dir nur mal Aleister Crowley an oder, aktueller, den Gitarristen von Led Zeppelin. In wie vielen Musikstücken geht es versteckt um Satanismus? Hinter wie vielen Symbolen steckt eine okkulte oder satanische Bedeutung? Jede Menge, jede Menge? Das hat nichts mit Idioten zu tun."

„Wahrscheinlich haben sich all diese berühmten Musiker nur zu viel LSD und Koks in die Birnen gehauen und glauben deshalb an einen solchen Dreck. Es gibt keinerlei Beweise dafür. Genau wie es keine Beweise für Gott gibt. Warum interessiert du dich eigentlich dafür?", frage ich und als ich dabei an die seltsame Vision vor anderthalb Jahren an eben dieser Stelle denke, bekomme ich tatsächlich fast ein wenig Angst.

„Ach was, ich habe da nur mal einen Artikel drüber gelesen, als ich in der Bank nichts zu tun hatte. An deiner Theorie mit den Drogen wird wohl was dran sein. Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass Helge sich ein Mobiltelefon gekauft hat?"

Er hält mehr von diesem Thema, als er zugibt. Warum sonst hat er es angeschnitten. Er wollte dich dafür erwärmen. Ach, quatsch nicht, Freund Twelker. Rassel hatte niemals den Hang zu etwas Spirituellem. Der hat in der Zeitung  darüber gelesen und gut ist es. Du würdest einen solchen Artikel, wenn dir langweilig ist, auch lesen. Und dass er jetzt darüber sprach, lag an Quermanns jämmerlichen Geschichte, ganz einfach!

„Oh, wen will denn der schlaue und erfolgreiche Geschäftsmann Helge damit anrufen? Herrn Oetker persönlich oder doch den Chef der Deutschen Bank?", spreche ich und vor lauter Ironie in meiner Stimme könnte der Putz von der Decke fallen.

Rassel muss darüber so lachen, dass er sich den Bauch halten muss.

Nach etwa einer Stunde geht diese schöne Nacht zu Ende.   

„Darf ich die mitnehmen?“, fragt Rassel, als er gehen will, und zeigt auf die Geschichte. „Ich möchte sie mir in der Bank kopieren. Soviel literarische Unfähigkeit muss zwingend für die Nachwelt festgehalten werden.“

„Sicher. Nimm sie mit. Ich schenke sie dir.“

Rassel faltet die Geschichte zusammen, steckt sie in die Innentasche seines Jacketts und ich begleite meinen Gast die Treppe runter zur Haustür.

„Leben Sie wohl, Herr Faust“, sage ich scherzhaft.

„Sie ebenfalls, Herr Twelker“, antwortet er genauso scherzhaft und sagt dann: „Opa Rainhard sollten wir uns aber trotzdem vornehmen“, wobei diesmal keinerlei Humor in seiner Stimme mitschwingt.

Rassel dreht sich um und verschwindet in der Nacht.

Manchmal legt er wahrlich seltsame Züge an den Tag; ein Buch voller Rätsel.

Meint er das mit Opa Rainhard ernst? Würde er den armen, alten Mann im Wald abpassen?

Ich kann diese Frage weder hundertprozentig mit ja noch mit nein beantworten.


Kapitel 22

(Auf der Schiene im Sommer 2008) Müde rekele ich mich in meinem Sitz und frage mich erneut, ob mich der Schlaf oder nur die intensive Erinnerung übermannt habt.

Auf dem roten Display am Kopfende des Wagons leuchtet auf, dass der Zug Hamm in Westfalen bald erreicht.

Unaufhaltsam rückt die alte Heimat näher und meine Gedanken, als sei dieses eine Schutzfunktion, wandern nicht ganz erfolgreich zu Franziska.

Was sie wohl gerade tut? Ob sie gerade an mich denkt? Nicht mehr lange und Bielefeld ist erreicht!

Mein Magen gleicht einem riesenhaften Krebsgeschwür, während draußen das ebenso graue wie trostlosen Hamm in Sicht kommt und ich mich weiter erinnere.

 

Kapitel 23

(Bielefeld im Spätherbst 1995) Der Jahrhundertsommer ist Geschichte.

Nach langer Abstinenz, genau genommen nach sieben qualvollen Jahren, rollt der Ball für unsere Arminia wieder in der II. Bundesliga. Zwar verloren wir kürzlich gegen Carl Zeiss Jena auf der heimischen Alm, stehen allerdings für einen Aufsteiger, der lange Zeit durch die fußballerische Bedeutungslosigkeit trieb, enorm gut da.

Meine OS–Zeit biegt allmählich auf die Zielgrade ein.

Nur noch gute sieben Monate sind es bis zu den großen Abschlussprüfungen, die in mir weder Bangen noch Nervosität hervorrufen. Es kommt mir vor, dass mit jedem Jahr, welches vergeht, auch die Zeit schneller zu laufen scheint. Von daher werden diese sieben Monate ruckzuck vergehen, da bin ich mir ziemlich sicher.

Mark geht der Zivildienst inzwischen gehörig auf die Nerven.

Die behinderten Bethelaner, die er hin und her kutschieren müsse, fuckten ihn gehörig ab. Er wäre besser zur Bundeswehr gegangen, behauptet er mittlerweile immer häufiger.

Seine Freizeit verbringt er zu einem Großteil in der Gegenwart von Sophia, mit der er erstaunlicherweise immer noch zusammen ist. Über irgendwelche Spannungen in der Beziehung drang bis heute leider weder Andre noch mir etwas in die Ohren und weil die beiden mittlerweile seit über vier Monaten ein Paar sind, hat die twelkerisch–faustsche Theorie, dass die Angelegenheit nur wenige Wochen halte, wohl kläglich versagt.

Rassel hingegen sehe ich etwas häufiger, wobei sich die Kontakte zumeist auf Termine unterhalb der Woche beschränken, da er von Freitagnachmittag bis Montagmorgen meist bei Patricia in Halle weilt. 

Da dem nun mal so ist, unternehme ich an den Wochenenden gelegentlich etwas mit Ralph Beermann, meinem OS–Kumpel. Meist gehen wir in die Innenstadt ins Brauhaus auf ein paar Bier und wenn die Stimmung sich dabei steigert, kann es sogar passieren, dass die Tour auf der Tanzfläche des PC69 endet.

Ach übrigens; der unterbelichtete Karsten Passfall flog unlängst, wie es zu erwarten stand, vom Oberstufen-Kolleg. Eine Fachkonferenz unter Aufsicht des pädagogischen Leiters teilte ihm mit, dass er das Ziel Allgemeine Hochschulreife selbst mit einer Rückstufung, das bedeutet ein fünftes Jahr Ausbildungszeit, nicht mehr erreichen könne.

Tja. Game over, kann man da wohl nur sagen.

Und wo wir schon über Versager schreiben; Sascha Quermann lebt weiterhin im Hause seiner älteren Freundin. Er sagt zu allen, die es hören wollen, dass er noch immer bei einer Firma im Brackweder Süden beschäftigt sei. Allerdings geht zu diesem Thema ein Gerücht umher, welches besagt, dass Quermann dort im Lager geklaut habe und er deswegen fristlos gefeuert worden sei. Jedenfalls, Job hin oder her, zieht er immer noch durch den Wald, um dessen gefiederte Bewohner zu beobachten.

An einem regnerischen Donnerstagabend sitze ich in meinem Zimmer am Schreibtisch, höre Bruce Springsteen und tippe einen roten Faden für ein Referat, welches ich kommenden Dienstag halten muss, in den PC hinein. Ja, auch ich besitze nun einen Computer jenseits von Amiga und C64.

Die kleine Lampe neben dem Monitor brennt und spendet sanftes Licht, der Lernstoff geht mir zügig und leicht von der Hand und vor gut einer Stunde rief mich Alexandra an und fragte, wie es denn Morgenabend mit einer Pizza in der Stadt aussehe. Alexandra stammt aus Polen und besucht das Oberstufen-Kolleg in einem jüngeren Aufnahmejahrgang. Sie ist zwar keine perfekte Schönheit wie etwa Madeleine, besitzt aber ein süßes, liebliches Gesicht und einen extrem heiteren Charakter. Vielleicht, so denke ich manchmal, könnte es was Festes mit uns zweien werden. Die Zukunft, vor der mir überhaupt nicht bange ist, wird es zeigen und so fühle ich mich extrem gut und mit dieser Welt im Reinen.

Es klingelt.

Unten erkenne ich durch das Milchglas der Haustüre zwei Gestalten; die eine groß, die andere klein. Deutlich leuchtet der signalfarbene Container Herforder Pils in den Armen der größeren Person. Unverkennbar selbst durch das verzerrende Glas sind das Andre Faust und Mark Wenzel. 

Ich freue mich und öffne die Tür. 

Zu dritt sind zehn 0,33 Flaschen Herforder schnell getrunken und die Zeit verstreicht wie im Fluge. Rassel weiß seit heute, dass ihn die Bank nach der Ausbildung unbedingt halten möchte und selbstverständlich hat er sich zum Wintersemester an einer der zahlreichen Fernuniversitäten für Betriebswirtschaftslehre und Informatik eingeschrieben.

Mark hingegen lästert über die behinderten Menschen aus Bethel ab und wirkt dabei gar an manchen Stellen ziemlich aggressiv.

„Die sind so schlimm. Da ist einer dabei, der kramt, sobald er in diesen Scheiß-Bus gestiegen ist, sofort seinen blöden Frühstücksbeutel heraus. Dann fängt er an, dumm darin herumzuwühlen und zieht irgendwas heraus. Zum Beispiel einen Buttercroissant. Er hält ihn hoch und fragt mit seiner verfickten Stimme, bei deren Klang ich jedes Mal kotzen könnte: >>Schmeckt das gut, das Hörnchen?<< Da könnte ich ihm immer den Gummiknüppel über den Schädel ziehen in der Hoffnung, dass es dann endlich besser wird mit seinem Gehirnschaden. Manchmal könnte ich ein paar von diesen Krüppeln killen. Nicht immer. Aber doch manchmal. Ich bin wirklich froh, wenn ich wieder die Schulbank drücken darf bei meiner Ausbildung zum Diplom Finanzwirt. Auch wenn das manchmal langweilig werden wird, ist es doch tausendmal besser, als diese Zombies durch die Gegend zu kutschieren.“

Mark nippt an seiner Flasche Herforder, Rassel grinst und weil Bruce Springsteen zu singen aufgehört hat, krame ich im Regal nach einer neuen CD.

„Ach, Jonas, weißt du, wen wir an der Westfalen getroffen haben, als wir den Conti gekauft haben?“, fragt Andre.

„Nee!“, sage ich mit Blick über die Schulter zurück. „Aber du wirst es mir mit Sicherheit gleich sagen.“

„Den alten Opa Rainhard. ` hat sich zwei Dosen Veltins und zwei Flachmänner Chantre gekauft. Dabei hatte er schon eine Fahne, als hätte er ein ganzes Fass Weinbrand leer gesoffen.“

„Na und!“, antworte ich und suche Steve Winwood. „Soll er doch. Seine Frau ist tot, das Kind erwachsen und längst außer Haus. Er hat sein Leben lang gearbeitet. Nun vertrinkt er einen Teil seiner hart verdienten Rente. Warum auch nicht? Er stört dabei doch keinen.“

Winwood steckt unter Dire Straits und über The Who. Weil ich in solchen Nichtigkeiten einfach zu unaufgeräumt bin, existiert kein alphabetisches Ordnungssystem für Tonträger und Bücher in meiner Welt. 

„Wo wir gerade beim Thema des Saufens sind. Ich glaube, Quermanns Freundin trinkt auch“, sagt Mark.

Er hat sich auf meinen drehbaren Bürostuhl gesetzt und stößt sich leicht mit den Füßen ab, so dass er leicht hin und her rotiert. Mal geht es in die eine, mal in die andere Richtung. Früher war er immer total ruhig, da wären solche Aktionen undenkbar gewesen, aber nun steht er im Begriff, sich das Rauchen abzugewöhnen. Offizielle Begründung; Geld und Gesundheit. Inoffizielle Begründung; Sophia Wehmeyer verlangt von ihm, dass er dieses für sie so abscheuliche Laster aufgibt, was seinem Vater sicherlich nur zu gut gefallen dürfte. Man merkt Mark an, dass ihm das nikotinfreie Leben noch äußerst schwerfällt.

„Wer hat dir denn das erzählt? Sascha Quermann persönlich?“, hake ich nach und Steve Winwood legt los.

„Nein. Als ich mit Sophia beim Marktkauf war, haben wir Quermanns Alte gesehen. Sie hat Tiefkühlpizza und Korn gekauft. Zwei Flaschen gleich. Natürlich den billigen. Dazu noch Bier, diese Dosenpisse für 45 Pfennige.“

„Wenn Quermann in meiner Wohnung leben würde, müsste ich auch täglich zum Korn greifen“, antworte ich trocken.

Mark dreht sich mit dem Stuhl um die eigene Achse.

„Vielleicht säuft ja Quermann mittlerweile selbst und sie hat den Stoff für beide zusammen gekauft“, wirft Rassel seine Überlegungen zu diesem Thema ein.

„Glaube ich kaum. Quermann hängt seit Jahren mit Frank Engel rum und eigentlich hat immer nur Engel gesoffen. Quermann hat man höchst selten mal mit einem Bier gesehen. Und wenn einem ein Frank Engel nicht zum Schluckspecht macht, dann tut es so eine alte Hippe sicherlich erst Recht nicht“, entgegne ich.

„Quermann haben wir so selten mit Bier gesehen, weil er nie Kohle hatte, sich welches zu kaufen. Und der widerwärtige Engel hatte nie genug Asche, seinem Busenfreund den Schluck mitzubezahlen. Eine ganz einfache Formel ist das“, interpretiert Rassel das Thema neu.

„Sicher kann das eine Möglichkeit sein. Ich denke aber weiterhin, dass Quermann eher Probleme mit dem Spielen als mit dem Saufen hat. Er zockt und was an Kohle überbleibt, investiert die alte Hure in Alkohol, damit sie das Elend besser erträgt. Das Elend mit Quermanns Sucht meine ich an dieser Stelle natürlich. Und so erzeugt sie eine Sucht, um eine andere Sucht besser verarbeiten zu können. Ein Teufelskreislauf entsteht, wobei der eine den anderen immer wieder runterzieht. Haben wir da nicht ein geiles Szenario?“, analysiere ich unter anderem die Lage einer Frau, die mir in meinem Leben höchstens zweimal unter die Augen kam.

Mark und ich fangen hämisch zu lachen an, während Rassel seltsamerweise ziemlich ruhig bleibt und auf der breiten Fensterbank sitzend nachdenklich in die Dunkelheit dieses Herbstabends schaut.

„Dein Gesaufe regt mich auf, du alte Hippe! Ich geh jetzt in die Spielo, weil ich dich nicht mehr ertragen kann“, parodiert Mark Sascha Quermann, was ihm ziemlich gut gelingt.

Zum einen lache ich nun, weil Mark ein prima Theater auf die imaginären Bretter legt, zum anderen, da es schlicht und einfach wieder schön ist, meine besten Freunde um mich zu haben. Solch selten gewordene Momente muss man einfach genießen.

„Du bleibst hier!“, jetzt spielt Mark Quermanns Alte. „Es ist meine Kohle, die du in die beschissenen Automaten steckst! Meine! Such dir endlich Arbeit, du faules Schwein. Dann kannst du in die Spielothek gehen, soviel du eben willst.“

Dann wechselt er wieder um auf Sascha Quermann: „Ach, halt ` s Maul! Kipp dir noch einen doppelten Klaren auf die Lampe und halt die Fresse! Ich tu, was ich will!“

Mark dreht sich erneut mit dem Stuhl diesmal beinahe um 360 Grad. Mir fällt vor lauter Lachen der Tabakbeutel aus der Hand.

„...brechen...“, murmelt auf der Fensterbank Rassel plötzlich in seinen nicht vorhandenen Bart.

„Heh?“, machen Mark und ich gleichzeitig.

„...ekte Verbrechen...“

„Was? Wer ist ein Verbrecher?“, erkundige ich mich.

„Quermann wahrscheinlich. Ein Intelligenzverbrecher“, spricht Mark, worauf wir zwei laut lachen.

„Das perfekte Verbrechen“, brüllt Rassel plötzlich los und zwar so heftig, dass wir zusammenfahren.

Wir sagen dazu nichts, was Rassel anscheinend entgegenkommt. Majestätisch steigt er von der Fensterbank hinab und fängt an damit, in meinem Zimmer auf und ab zu gehen.

„Ein perfektes Verbrechen; Opa Rainhard kommt des nachts aus seiner Stammkneipe in Gadderbaum und geht durch den Wald zurück nach Hause. Auf Höhe des Hexenhauses lauern wir ihm auf, packen ihn und machen ihm den Garaus. Wenn das erledigt ist, ziehen wir ihn ins Hexenhaus und verscharren seinen Kadaver unter Laub, Erde und Unrat. Es wird Wochen dauern, bis sein Sohn da unten in Schloss Holte–Stukenbrock ihn zu vermissen anfängt, und weitere Wochen, wenn nicht Monate, bis man seine Leiche findet, wenn das überhaupt passiert. Nachts hält sich kein Schwein im Wald auf. Eine todsichere Sache. Weiterhin wird die Kriminalpolizei keinerlei Motiv finden. Der Fall Opa Rainhard wird also niemals gelöst werden“, doziert Rassel und mir kommt es vor, wie er da so den Raum rauf und runter abschreitet, als fühle sich Andre Faust tatsächlich wie ein berühmter Gastprofessor, der vor einem überfüllten Hörsaal seine neusten Theorien mit Argumenten untermauert.

„Ach hör doch auf!“, widerspricht Mark. „Heute werden doch fast alle Morde aufgeklärt. Allein wenn wir in den Wald gehen würden, um Opa Rainhard dort abzupassen, würden uns beim Betreten des Waldes die ersten Nachbarn von Jonas sehen. Wir sind hier in der Gegend doch ziemlich bekannt. Es muss nur einer von diesen Spannern aus dem Fenster gucken, während wir Richtung Wald gehen und schon ist es aus mit deiner Theorie vom perfekten Verbrechen. Opa Rainhard geht immer freitags und samstags saufen. Da ist es eher auszuschließen, dass man uns nicht sieht oder wir gar niemanden, der uns kennt, über den Weg laufen. Das perfekte Verbrechen ist doch nur ein Märchen und mehr nicht.“

„Ist es nicht. Ist es nicht“, widerspricht Rassel eifrig beim Auf- und Abgehen. „Es erfordert lediglich eine sorgfältige Planung, eine pedantische, stringente Vorbereitung und natürlich eisenharte Disziplin.“

Rassel spricht leise, aber bestimmend. Keine Frage, es macht Spaß, ihm zuzuhören.

„Du hast“, fährt Andre fort, „natürlich Recht, Mark, wenn du sagst, dass uns hier jeder kennt und dass uns bestimmt irgendwer sieht, wenn wir hier in der Gegend den Wald betreten. Deshalb betreten wir den Wald auch komplett woanders. Am besten tun wir das an der Sparrenburg und von dort wird sich dann über dunkle Schleichwege durch den Wald nach Brackwede zurückgearbeitet direkt bis zum Hexenhaus.“

„Das ist aber ein langer Weg. Da bist du am Ende doch viel zu erschöpft, um Opa Rainhard noch den Garaus machen zu können“, witzele ich.

Ich sitze auf dem Teppich vor meiner Stereoanlage und beobachte Rassel aus großen Augen.

„Spaß beiseite, Jonas. So kommt man umher, gesehen zu werden. Und wenn uns auf der Sparrenburg–Promenade jemand sieht? Na und. Sei es was drum. Die Leute werden uns zu neunundneunzig prozentiger Wahrscheinlichkeit persönlich nicht kennen. Wir sind ihnen vorher nie über den Weg gelaufen und werden es wahrscheinlich auch danach nicht. Wie auch? Unsere schöne Stadt Bielefeld hat weit über dreihundertzwanzigtausend Einwohner. Außerdem wird es zu diesem Zeitpunkt dunkel sein. Keine zehn Minuten später werden die Passanten, die uns sahen, nicht mal mehr wissen, ob wir Männlein oder Weiblein und ob wir zu dritt, viert oder zehnt gewesen sind“, referiert Rassel weiter und langsam aber sicher macht sich eine unüberhörbare Begeisterung in seiner Stimme breit.

„Aber mal angenommen, wir begegnen auf der Sparrenburg-Promenade tatsächlich jemanden, der uns persönlich kennt“, gibt Mark zu bedenken und mir fällt auf, dass in seiner Stimme nun eine gehörige Portion Ernsthaftigkeit mitschwingt. „Du sagtest selbst, man müsse alles sorgfältig planen. Da musst du diesen geringen Zufallsfaktor aber auch auf deiner Rechnung haben.“

 „Du hast vollkommen Recht, Mark. Die Sparrenburg ist ein beliebter Ort zum Spazierengehen. Nicht auszuschließen, dass man dabei eine Person oder mehrere Personen trifft, die einem bekannt sind. Ich glaube allerdings persönlich nicht, dass diese Person uns nachher, wenn man den alten Knacker gefunden hat, mit der Tat in Verbindung bringt. Denn zu weit liegen die Orte Sparrenburg-Promenade und Hexenhaus auseinander. Aber das ist lediglich eine rein persönlich Annahme und von daher muss in einem solchen Fall die Devise gelten, sicher ist sicher. Da Opa Rainhard jedes Wochenende saufen geht und man die Aktion also jederzeit wieder durchführen kann, wird das Ganze abgebrochen, sollte uns auf der Promenade oder auch nachher im Wald eine Person über den Weg laufen, die wir kennen.“

Dass Rassels Berichterstattung fesselt, muss ich mittlerweile anstandslos einräumen.

„Wenn sie den Alten finden, wird die Polizei sicherlich in der ganzen Gegend hier herumfragen und ein Motiv suchen. Dabei werden sie bestimmt auch einen von uns fragen, wahrscheinlich sogar uns alle drei“, gibt Mark zu bedenken.

„Na wenn schon“, greift Andre Faust dieses Thema sogleich auf. „Wir sagen einfach, dass Opa Rainhard ein netter Kerl war und dass wir uns überhaupt nicht vorstellen können, wer so etwas Entsetzliches getan haben könnte. Also genau das gleiche, was alle anderen Befragten aus dem Bezirk sagen werden. Wir tauchen in der breiten Masse unter. Die gute, alte breite Masse, in der niemand ein Motiv hat.“

„Und wenn die Sache mit Försterfeld ins Spiel kommt. Wenn diese Geschichte irgendwer anschneidet. Dann hätten wir doch tatsächlich ein Motiv“, wird durch mich ein neuer Faktor ins Spiel gebracht.

„Bis auf uns hat die Sache doch schon längst jeder vergessen. Und wenn nicht. Scheiß was drauf. Försterfeld ist doch nicht das Opfer. Es war damals eine Sache zwischen Försterfeld und uns. Dass Opa Rainhard am Fenster geschaut und uns verpfiffen hat, weiß doch keine Sau, zumal der Hurensohn Försterfeld immer nur von seinen anonymen Quellen geplaudert hat. Ich denke schwerlich, dass uns wegen dieser Sache irgendeine Sau auch nur irgendeine Minute mit dem Mord an Opa Rainhard in Verbindung bringt. Da fällt eher ein Verdacht auf den widerwärtigen, fetten Pätti, der wegen der Sache mit dem Moped einen Grund hätte, sich tatsächlich an Opa Rainhard zu rächen. Denn dem Fettarsch haben die Bullen das Moped stillgelegt, nachdem Opa Rainhard ihn angezeigt hatte. Und Försterfeld wird den Polizisten nicht mehr weiterhelfen können, durch eine Aussage, dass Opa Rainhard ihm damals gesteckt hat, dass wir das waren, denn der ist ja mit einem Herzanfall umgefallen und gestorben. Auch seine Frau kann den Bullen nicht mehr weiterhelfen. Denn die ist nach Försterfelds Tod zu ihrer Tochter nach Süddeutschland gezogen und hat nun, wie wir ja durch Jonas Mutter wissen, Demenz. Also sind alle Personen, die etwas von der Sache mit dem Auto wissen, aus dem Spiel. Glaubt mir, im Kopf habe ich das perfekte Verbrechen schon mehrfach von vorne bis hinten durchgespielt.“

„Halt, halt, halt!“, protestiere ich umgehend. „Nehmen wir mal an, Pätti ist tatsächlich verdächtig und schafft es schnell, sich durch ein Alibi dem Verdacht zu entziehen. Dann hat die Polizei keine Person mit einem Motiv mehr und dementsprechend sind dann alle verdächtig. Auch wir. Die Polente wird uns wie alle anderen fragen, was wir in der Tatnacht gemacht haben. Denn ist Opa Rainhards Leiche erstmal gefunden, kriegt die Kriminalpolizei schnell den Zeitpunkt des Todes heraus.“

„Dann sollen sie uns doch fragen. Wen interessiert das? Wir sagen einfach, dass wir in der Innenstadt gewesen sind. Im Brauhaus oder in einer anderen von diesen riesigen Kneipen. Oder, noch besser, im PC69. Dort werden wird dann auch tatsächlich nach der Aktion hingehen. Dann haben wir die Bullen nicht mal angelogen.“

Nun spricht Mark, der sich nicht mehr mit meinem Bürosessel hin und her dreht, sondern Rassel wie hypnotisiert anblickt: „Aber die Polizei wird doch ein genaues Zeitfenster haben. Deren Pathologen können den Todeszeitpunkt fast auf die Minute bestimmen. Und genau zu diesem Zeitpunkt sind wir dann eben leider nicht im Brauhaus oder sonst wo in der Innenstadt gewesen.“

„Gehen wir von der Situation aus, dass sie den Kadaver des alten Knackers etwa zwei Wochen nach der Tat finden. Legen wir seinen Todeszeitpunkt hier mal fiktiv auf 1:23 Uhr am Sonntagmorgen fest. Dann ist es nach vierzehn Tagen vollkommen uninteressant, wo wir zu diesem Zeitpunkt tatsächlich gewesen sind. Kein Kellner eines solch gigantischen Gastronomiebetriebes wie dem Brauhaus oder einer Disco wie dem PC69 wird sich mehr erinnern können, ob wir tatsächlich in dieser Nacht dort gewesen sind oder nicht. Selbst wenn er sich grob an unsere Gesichter erinnert, wird ihm die Zeit wahrscheinlich vollkommen abgehen. Er wird der Polizei sagen, die drei Typen können tatsächlich dagewesen sein, vielleicht war das um 21:00 Uhr, vielleicht aber auch um 03:00 Uhr. Doch er wird niemals, es sei denn er hätte ein Computergedächtnis, genaue Zeitangaben machen können. So hat die Polizei nur unsere Aussagen, in der wir uns gegenseitig ein Alibi geben. Im Zweifel immer für den Angeklagten. Die ganze Sache steht auf solidem Fundament. Außerdem glaube ich weiterhin fest daran, dass niemals ein Polizist an uns wegen dieser Sache herantritt. Man wird uns gar nicht erst fragen“, erklärt Rassel, der sich nun in einen wahren Rausch geredet hat. „Wir haben kein Motiv, das ist schon mal die halbe Miete. Niemals ist irgendeiner von uns dreien, selbst im schlimmsten Vollrausch nicht, durch irgendwelche Straftaten aufgefallen und durch Gewaltverbrechen schon gar nicht. Den Jugendstreich mit dem Auto lassen wir mal außen vor, das war ja keine Straftat in dem Sinn, was man eigentlich unter einer Straftat versteht. Und polizeilich gemeldet hat diesen Vorfall auch keine Sau. Wir tragen blütenweiße Westen vor unseren Brüsten her. Wir sind ehrenwerte, junge Bürger dieser Stadt. Wir gehen wählen und arbeiten ein jeder für sich zielstrebig an unseren Karrieren. Wir fallen dem Sozialstaat nicht zur Last und sind zukünftige Großsteuerzahler. Niemand, keine Sau wird uns verdächtigen.“

„Was ist mit den Spuren, die man am Tatort zurücklässt? Die Bullen können doch mittlerweile fast alles zum Sprechen bringen“, gibt Mark zu bedenken.

Rassel, der kleine Mensch, legt seine Stirn in Falten. In dieser Geste erinnert er mich plötzlich an Doktor Joseph Goebbels.

„Kein Problem", greift Faust die Frage auf. „Das kriegen wir doch mit links auf die Reihe. Natürlichen ziehen wir Handschuhe an. Die Schuhe, die wir tragen, werden auf dem Waldboden Spuren hinterlassen, auch wenn ich nicht glaube, dass diese zum Zeitpunkt des Leichenfundes noch auffindbar sein werden. Der Wald und das Wetter werden diese Spuren innerhalb von kürzester Zeit wieder tilgen. Doch auch hier müssen wir nach dem Motto, sicher ist sicher, handeln. Die Schuhe der Tatnacht werden direkt im Anschluss an unser perfektes Verbrechen in irgendwelchen Mülleimern in der Innenstadt verklappt. In Rucksäcken werden wir Ersatzschuhe mit uns führen. Wichtig ist auch, dass uns der Alte nicht kratzt oder an den Haaren zieht. Gewebefetzen oder Haarreste unter den Fingernägeln des Opfers, das ist dann meist das sichere Todesurteil. Deshalb schlage ich an dieser Stelle vor, dass wir bei der Ausführung alte Parka tragen werden. Am besten die, die man bei der Bundeswehr ausgemustert hat. Auch die müssen wir dann anschließend entsorgen. Bei einem Parka kann Opa Rainhard uns so viel kratzen, wie er will. Wen juckt es? Latten! Und damit er uns nicht an den Haaren ziehen kann, dafür sollten wir Kopftücher tragen zum Beispiel. So wie Little Steven.“

Mark und ich sind zutiefst fasziniert.

Gleich des Messias, der aus den himmlischen Sphären hinabsteigt, sehen wir den kleinen, jungen Mann aus großen Augen an. So ungefähr muss es auch an jenem finsteren Tag im Sportpalast zu Berlin gewesen sein, als die Menschen Goebbels in seinen totalen Krieg folgten.

„Womit gedenkst du, ihn kaltzumachen?“, fragt Mark leise.

„Nun, er darf natürlich nicht schreien. Deshalb würde ich vorschlagen, ihn zunächst mit einem Schlag auf den Kopf ruhigzustellen. Dafür könnte man einen Hammer oder schlicht und einfach den  zurechtgesägten schweren Stil einer Schaufel nehmen. Sowas in die Richtung. Der Rest kann dann ruckzuck mit einer Klinge erledigt werden. Natürlich werden die Waffen später ebenfalls verklappt. Am besten entsorgt man sie in irgendwelchen Gullys, so dass sie im Wasser der Kanalisation versinken. Es ist immer von größter Wichtigkeit, wenn die Tatwaffen nicht gefunden werden“, erklärt Rassel mit einem breiten Grinsen auf seinem gnomenhaften Gesicht.

 

Kapitel 24

(Auf der Schiene im Sommer 2008) Weil mir diese Art der Erinnerungen plötzlich zu gewaltig sind, öffne ich die Augen und blicke hinaus.

Du dumme Sau, Twelker! Du wirst dich heute noch an ganz andere Dinge erinnern müssen, die noch wesentlich unschöner sind! Was bist du nur für ein Feigling?

Vor den Fenstern fliegt das Hauptwerk der Firma Miele vorbei, was bedeutet, dass der ICE Gütersloh bereits passiert hat.

Ostwestfalen empfängt mich in einem strahlendschönen  Abendlicht, keine einzige Wolke steht am Himmel.

Der Zug rast durch den winzigen Bahnhof von Isselhorst-Avenwedde und für den kurzen Augenblick weilen die Gedanken bei Helge.

Ich stehe auf, schnappe meine kleine Reisetasche aus der Ablage und begebe mich zu einer der Ausgangstüren.

Ab hier kann ich den Weg im Schlaf aufzeichnen. Zunächst kommen die Teiche im Wald südlich von Brackwede. Der Zug durchfährt meinen alten Heimatstadtteil, bevor er den Hauptbahnhof erreicht, vorbei an Ikea und dessen gigantischer Parkhausanlage und dem nicht minder gigantischen Stellplatz. Er passiert das Gleisdreieck, wo die Brackweder Jahrmärkte stattfinden. Heute jedoch liegt es verwaist in der Abendsonne. Nun gleitet der Bahnhof von Brackwede vorüber, vom dem aus, wenn der Zug hier halten täte, ich zu Fuß bei meinen Eltern vorbeischauen oder all die Orte meiner Kindheit und Jugend aufsuchen und dabei vielleicht gar ein paar alte Bekannte treffen könnte. All das wird aber nicht geschehen.

Plötzlich erfasst mich wieder eine tiefgehende Niedergeschlagenheit und erneut wünsche ich mir, Dileks Tavor mitgenommen zu haben.

Herrje. Diese ständigen Stimmungsschwankungen hauen selbst den stärksten Eskimo vom Schlitten.

Aber solltest du doch noch nach Brackwede gelangen, vergiss nicht, dir das Hexenhaus anzusehen, mein Freund!

Während ein Stich in der Magengegend mich beide Hände auf meinen Bauch legen und das Gesicht verzerren lässt, zieht jenseits der Scheibe Oetkers Firmensitz vorbei und nun gelangt der Zug in den Bereich der eigentlichen Innenstadt Bielefelds. Hoch oben auf einem bewaldeten Berg erhebt sich die Sparrenburg, das gräuliche Wahrzeichen der ostwestfälischen Metropole, auf deren rundem Bergfried die Stadtflagge schlaf in der beinahe windstillen Luft hängt.

Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang auf der Promenade und durch den Wald dahinter? Damit hast du doch Erfahrung, Freund Twelker!

Damit die Schmerzen in meinem Inneren und meine immer weiter steigende Kraftlosigkeit mich nicht in die Knie zwingen, muss ich mich mit einer Hand am Fenster der Ausstiegstüre abstützen.

Der Zug rollt in den Hauptbahnhof und nervös durch die Scheibe blinzelnd konzentriere ich bereits bei der Einfahrt den Blick auf die Menschen auf dem Bahnsteig, kann aber keine Rassel ähnliche Person ausmachen.

Sanft, es tut nur einen leichten Ruck, kommt der ICE zum Anhalten.

Ich drücke auf einen grünen Knopf, worauf die Tür zur Seite surrend aufschwenkt und man sofort die typischen Geräusche eines Großstadtbahnhofs wahrnimmt; Mengengemurmel, Lautsprecherdurchsagen, das Quietschen bremsender Züge auf den Nachbargleisen.

Da hast du wohl die Höllenpforte geöffnet, mein Freund! Wo ist denn der dreiköpfige Höllenhund Kerberos, der diese Pforte bewacht?

Ähnlich einem Hunde schüttele ich mich nun kurz, als könnte ich dadurch die maternden Gedanken vertreiben, bevor ein Schritt getan wird und meine Beine auf Heimatboden stehen.

Menschen, von hinten steigen sie aus dem Zug, von vorne kommend drängen sie hinein, schwirren um mich herum. Ein hektischer Dicker, der Aufkleber der Lufthansa auf seinem Rollkoffer kleben hat, und der nach mir aus dem ICE stieg, drängelt sich so unverschämt dreist an mir vorbei, dass ich  einen harten Schlag in den Rücken spüre und beinahe aus dem Gleichgewicht gerate.

„Ey, sonst geht ´ s dir danke oder was, du fetter Arschwichser!“, rufe ich in meiner angespannten, gereizten Grundstimmung.

Der Fettarsch dreht sich nicht mal zu mir hin, hastet weiter davon, hält mich wohl für einen Sascha Quermann gleichen Niemand.

Während der Express auf seiner Reise in die Hauptstadt wieder in Bewegung kommt, warte ich darauf, dass sich das Heckmeck um mich herum langsam beruhigt und schaue dabei nervös den Bahnsteig hinauf und hinab; kein Andre Faust.

Vielleicht war ja doch nur alles ein böser Traum und gleich wachst du auf und Dilek oder Franziska stellt dir Frühstück ans Bett. Wäre das nicht toll, Freund Twelker?

Mein Blick wandert über das neue Bahnhofsviertel hinter der Station.

Als ich noch zur Schule ging, befand sich hier ein dreckiges Ödland; Schuttberge der neu entstehenden U-Bahnlinie 4, der sogenannte Punker–Pavillon, ein Treffpunkt für Ostwestfalens Junkies, schlammige Stellplätze, von denen der Autofahrer über eine Brücke in die Innenstadt gelangte. Heute hingegen sieht das ganz anders aus; ein Multiplexkino, trendige Bars und schicke Restaurants, eine Großraumdiskothek, ein Erlebnisschwimmbad mit dem Flair aus Tausend und einer Nacht, riesige Parkhäuser.

Erneut wandert mein Blick den Bahnsteig rauf und runter. Schweiß steht auf meiner Stirn.

Auch nach den verstrichenen sechs Jahren ist Andre Faust, der lächelnd und selbstbewussten Schrittes auf mich zu kommt, noch immer unverkennbar. Er trägt Anzug, Hemd und Jackett wie eigentlich sein ganzes Leben schon, jedenfalls jenes Leben, welches ich von ihm kenne. Bereits aus der Distanz sieht man, dass die Zeit der Stangenprodukte vorüber und sein Anzug eine individuelle Maßanfertigung aus London ist, die den kleinen Mann ganz klar von den übrigen Menschen an diesem Orte abhebt. Wahrscheinlich kostet der dunkelgraue Zwirn mit dem weißen Oberhemd und der tiefblauen Krawatte, den er gerade am Leibe trägt, mehr als der gesamte Inhalt meines Kleiderschrankes. Perfekt wurde sein Gesicht rasiert, das Haar streng nach hinten frisiert und aufgeföhnt.

„Jonas, Mensch.“

„Andre.“

Wir nehmen einander in die Arme, wobei ich teures After Shave riechen kann. Es ist eine herzliche Begrüßung, die dafür sorgt, dass es mir sofort etwas besser geht.

Nachdem die Umarmung gelockert wurde, stehen wir uns für eine kurz Weile gegenüber, halten uns bei den Armen und mustern einander aufmerksam.

„Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben“, sage ich, weil mir gerade nichts Besseres einfällt.

„Verdammt lange. Beim letzten Mal hattest du gerade erst mit deiner Doktorarbeit begonnen. Das war der Tag mit dem unseligen Finale bei der WM in Japan und Südkorea. Mir war das Spiel vollkommen egal. Ich wollte einfach nur mit einem guten Freund kräftig einen bechern. Kannst du dich daran noch erinnern?“

„Oh ja“, sprudelt es sofort aus mir hervor. „Das Spiel war nachmittags und wir hatten im Pendel am frühen Abend bereits die Hucke ganz gewaltig voll. Irgendeiner von uns kam auf die Idee, noch mit der Bahn in die Innenstadt zu fahren, um dort weiter zu trinken. Irgendwann mitten in der Nacht habe ich dann meine Eltern aus dem Bett geklingelt, nachdem ich versucht hatte, mit meinem Schlüssel aus Bonn die Haustür aufzuschließen. Die waren gar nicht begeistert und meine Mutter zieht mich noch heute damit auf.“

Wir lachen herzhaft und ausgelassen für eine kleine Weile.

„Weißt du noch, als wir damals den Whiskey bei dir plattgemacht haben, die ganze verfluchte Pulle und noch einen Conti dazu, und ich bei euch in der Garagenzufahrt lag und gepennt habe? Darauf spricht mich deine Mutter auch heute noch an, wenn ich sie denn mal beim Marktkauf treffe“, bringt Rassel eine noch ältere Geschichte ins Spiel.

Wieder ertönt herzliches Männergelache, das den Bahnsteig entlangschwebt.

Plötzlich krampft sich mein Magen zusammen und die Realität kehrt äußerst brutal zurück.

„Schade nur, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen“, murmele ich.

„Es könnte in der Tat schönere Gründe für ein Wiedersehen geben. Aber nun wollen wir mal den Hund nicht in der Pfanne verrückt machen, Jonas. Ich habe bereits ein wenig, nun sagen wir es mal so, ein wenig recherchieren lassen. Die Lage ist ernst, aber nicht außer Kontrolle. Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln.“

„Echt?“, frage ich voller Hoffnung.

„Echt! Ich verspreche dir, dass diese dumme Sache gedeichselt wird.“

Rassels gnomenhaftes Gesicht strahlt pure Zuversicht aus, worauf mein Magen sich schlagartig entspannt. Andre Faust präsentiert den Schlag Mensch, der sein Leben voll und ganz im Griff hat, der mit nichts angefangen und alles erreicht hat; vom Tellerwäscher zum Millionär, der real gewordene kapitalistische Traum, in dessen Verlauf der Erlebende jedes Hindernis aus dem Weg räumen muss, um diesen Traum am Leben zu halten. Wenn ein Mensch schwerwiegende, scheinbar unlösbare Probleme beseitigen kann, dann zweifellos mein alter Freund Andre Faust, zu dem mein Vertrauen aktuell nicht größer sein könnte.

„Mir geht es schon besser.“

„Wirklich?“, fragt Rassel und beugt sich leicht zu mir vor.

„Hundertprozentig, Andre“, versichere ich eifrig.

„Gut. So muss es sein. Es wird alles erledigt, Jonas. Niemand wird mehr etwas davon hören. In einer Woche ist alles vorbei, aus und erledigt. Dann kannst du den ganzen Scheiß vergessen oder drüber lachen. Und nun komm! Oder willst du etwa diesen schönen Sommerabend auf dem Bahnsteig verbringen?“

Unaufgefordert greift Rassel nach meiner Reisetasche und marschiert in Richtung Rolltreppe.

„Die kann ich auch selber nehmen“, protestiere ich.

„Nichts da! Du genießt sämtliche Vorzüge meiner Gastfreundschaft.“

Nebeneinander gehen wir den Bahnsteig entlang, fahren mit der Rolltreppe in den Bahnhof hinab. Früher, es ist gefühlt eigentlich noch gar nicht solange her, haftete dem Bielefelder Hauptbahnhof etwas Schäbiges, Versifftes an. Die Unterführungen stanken, man sah Obdachlose und Junkies, die Toiletten wollte man erst gar nicht betreten. Jetzt ist hier alles saniert, modernisiert und rein. Obdachlose und Junkies sind verschwunden und die privaten Sicherheitskräfte der Bahn sorgen dafür, dass sie niemals wiederkommen. Blaue, hippe Neonschrift, die auch für einen angesagten Szeneclub werben könnte, macht auf die WC–Anlage aufmerksam, vor deren Zugang eine Servicekraft in weißer Tracht sitzt und aus deren Inneren der Geruch von Zitrusreiniger bis zu uns herüberdringt.

Wir treten auf den Bahnhofsvorplatz und passieren die bronzenen Gedenktafeln für die Bielefelder Opfer des Nationalsozialismus. Es musste, das blieb deutlich in meinem Gedächtnis hängen, lange unter den Lokalpolitikern diskutiert werden, bis diese kleine Gedenkstätte endlich stand.

„Da runter“, Rassel zeigt geradeaus. „Ich stehe etwas weiter unten gegenüber von der Stadthalle.“

Linke Hand taucht der gläsern überdachte Zugang hinab zur Stadtbahn auf, von wo mir klassische Musik entgegenschalt.  Im Laufen drehe ich den Kopf und sehe, dass Lautsprecher von der Decke des Zugangs herabhängen, was bei meinem letzten Besuch in Bielefeld ziemlich sicher noch nicht der Fall war.

„Was ist das?“, wende ich mich an Rassel.

„Das ist klassische Musik“, antwortet der mir grinsend.

„Mensch, darauf wäre ich von alleine niemals gekommen. Ich meine, was soll das?“

„Damit wollen sie Obdachlose und Junkies und Prostituierte von hier fernhalten. Oder wegen mir auch alle drei Gruppen gleichzeitig. Die Stadtväter sind fest der Meinung, diese Art der Musik täte solche Menschen verscheuchen. Wahrscheinlich glauben sie, dieser Schlag Mensch sei zu dumm, diese Art von Musik zu begreifen und würde deshalb davor Reißaus nehmen.“

„Kein Scheiß, Mann?“, frage ich verwundert.

„Kein Scheiß, Jonas. Das ist die reine Realität, die sich vor deinen unschuldigen Augen auftut. Wobei ich persönlich mich bei Problemen mit Obdachlosen und Junkies, die hier ihrem kriminellen Tun nachgehen, immer noch für Gummigeschosse und Knüppel entscheiden würde.“

„Stimmt. Das ist wirkungsvoller als Wolfang Amadeus Mozart oder Ludwig von Beethoven und dafür müssen auch keine Steuergelder für das Anbringen und die Wartung von Lautsprecherboxen aufgewendet werden. Wie lange haben die Politiker denn an diesem Schwachfug herumdiskutiert, bis sie diese Idee in die Tat umgesetzt haben? Solange wie für die Gedenkstätte?“

„Nein, nein. Das ging viel, viel schneller. Erstaunlich schnell für Bielefelder Verhältnisse.“

Wir lachen, überqueren die Straße und erreichen Andres Wagen.

Rassel fährt auch anno 2008 noch immer BMW, allerdings kein kastanienbraunes gebrauchtes 3er-Coupe, sondern einen nagelneuen Siebener in metallic schwarz; eine lange Limousine, die in der goldenen Abendsonne funkelt und eigentlich viel zu groß für einen solch kleinen Mann daherkommt. Meine Reisetasche verschwindet förmlich in dem riesigen Kofferraum, dessen Deckel sich durch den Druck auf eine Fernbedienung automatisch öffnen lässt.

Das Innere des Fahrzeugs bestimmen feines Leder, Wurzelholz und Aluminium.

Als ich auf dem Beifahrersitz aus heller Tierhaut Platz nehme, bin ich mir ziemlich sicher, selten zuvor in meinem Leben so bequem gesessen zu haben.

Vorsichtig fährt Rassel rückwärts aus der Parkbox und sortiert sich in den Verkehr ein. Während wir an der nächsten roten Ampel warten müssen, macht sich Rassel an der Bedienungskonsole zu schaffen. aktiviert die Audioanlange und Queen spielen in einer Qualität vor, die in einem Konzerthaus nicht besser sein könnte.

Auf der Fahrt hinauf in den Nobelvorort Hoberge, wo Rassel mittlerweile lebt, reden wir kaum, sondern lauschen der Musik und ich beobachte aufmerksam, wie draußen Teile meiner alten Heimat vorbeiziehen. 

Rassels Haus liegt ein Stück abseits von dem verschlafenen Ortskern Hoberges entfernt.

Der BMW passiert ein weißes Tor aus Metall, welches Rassel per Fernbedienung öffnet und dessen Flügel langsam nach hinten von der Straße weg aufschwenken. Schon auf der Fahrt über den privaten gepflasterten Zufahrtsweg erkennt der Betrachter, dass es sich bei Andres Domizil um keinen protziger Palast, sondern eine helle, dezente, doch hochelegante Villa handelt, über deren Wert ich mir besser keine Gedanken mache.

Mein Freund betätigt einen weiteren Knopf auf seiner Fernbedienung und das Tor zu einer Doppelgarage rattert nach oben.

Neben einem weißen Porsche 911 Turbo kommt der BMW zum Stehen und mein Gastgeber führt mich durch eine Tür in der Rückwand der Garage in sein Haus, während sich das Tor hinter uns wieder schließt.

Rassels Reich hat zwei Etagen, einen Keller und wurde beinahe komplett mit Parkett ausgelegt. Nach einem kurzen Rundgang führt er mich in ein Wohnzimmer, das sicherlich fünfzig Quadratmeter groß sein mag. Es ist spartanisch eingerichtet; spartanisch teuer, was selbst ein Möbellaie mit Grünem Star mühelos erkennen sollte. Da sind ein helles Sofa mit dazu passenden Designersesseln, ein Sofatisch aus Mahagoni, ein riesiger, megaflacher Fernseher von Samsung, eine elegante Essenskombination etwas im abseits stehend, ein Bücherregal, in dem sich nur wenige Bücher befinden, was mich ehrlich gesagt kaum wundert, denn nie war Rassel ein großer Leser. Einen ganz eigenen Platz hat die Stereoanlage. Rassel hat sie auf einem Designertischlein vor einem breiten Regal, welches vor CDs und Langspielplatten überzuquellen droht, gleich einem Altar positioniert. Ebenfalls, meine Blicke magisch anziehend, findet sich eine kleine Mahagoni Bar mit drei Hockern vor dem Tresen und reichlich Flaschen erlesener Spirituosen in der verspiegelten Ablage dahinter. Direkt neben der Theke führt eine große Glastür raus auf die Veranda, deren Boden aus rötlichen Granitplatten besteht. Es gibt keinerlei Bilder oder Zeichnungen an den makellos weißen Wänden, sieht man von dem Gemälde einer nackten, üppigen Frau unter einem Apfelbaum ab, um deren rechtes Bein sich eine tiefschwarze gigantische Schlange windet. Der Kopf des schaurigen Tieres mit seinen rot funkelnden Augen zeigt in Richtung des Oberkörpers der molligen Gemalten und es kommt mir vor, warum auch immer, als suche die Schlange den Weg hinauf in die Vagina, gleichzeitig glaube ich im Gesicht der Frau fleischliche Lust zu erkennen.

„Schön, was", sagt Rassel.

„Irgendwie bedrohlich und gruselig. Aber irgendwie dann auch faszinierend. Nicht schlecht, mein Freund."

„Es heißt Unter Edens Baum und ein befreundeter recht bekannter Künstler hat es für mich gemalt", erklärt Andre.

„Es ist eine Wunschanfertigung?"

„Ja, genau. Du weißt doch spätestens seit Patricia, dass ich eine kleine Schwäche für mollige Damen der Schöpfung besitze."

Wir lachen gemeinsam, bevor Rassel mich mit einer einladenden Geste bittet, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

„Willst du was trinken?“, fragt Rassel, nachdem ich Platz genommen habe. „Wasser, Wodka, Whiskey, Bier oder sonst was? Ich habe alles hier, was du dir wünschen kannst, und selbstverständlich ist alles in ausreichenden Mengen vorhanden.“

„Ein Bier wäre Klasse.“

„Herforder oder Detmolder?“

„Herforder natürlich.“

Rassel verschwindet hinter der Bar, öffnet etwas, vermutlich einen Kühlschrank, und kehrt mit zwei Kondenswasserperlen benetzten Flaschen Bier zurück; ein Detmolder für sich, ein Herforder für mich.

„Prost!“, ruft Andre Faust.  

„Prost!“, rufe ich.

Die Flaschen klirren aneinander, der Klang hallt von den weißen Wänden wider.

Rassel nimmt eine futuristisch aussehende Fernbedienung, drückt einen Knopf darauf und schon fängt die Stereoanlage Tom Petty and the Heartbreakers zu spielen an. Andre lässt sich schwer in einen der beiden Sessel fallen.

„Wann kommt Mark?“, erkundige ich mich.

„Er wollte gegen halb neun hier sein. Spätestens um halb zehn.“

Solange bleibt also noch Zeit, bis wir gezwungen sind, über diese eine Nacht im Sommer 1996 zu reden, über ein Ereignis, das während all der Jahre erfolgreich in die absoluten Tiefen des Bewusstseins verdrängt wurde und somit eigentlich gar nicht oder wenn lediglich schattenhaft existent war. Bis, nun ja, bis diese Post ins Haus flatterte und alles, aber auch wirklich alles veränderte.

„Hast du noch Kontakt zu Sven, Thomas und so weiter?“, frage ich.

„Alle Angaben, die ich dazu machen kann, sind in die Kategorie einzuordnen: Soweit ich weiß oder nach letztem Stand. Eigentlich habe ich mit diesen Leuten kaum bis keinerlei Kontakt und mein Wissen hier beruht auf zufälligen Begegnungen beim Einkaufen oder auf den Aussagen dritter Personen.“

Wir lachen kurz über Rassels theatralische Ausdrucksweise, bevor mein Freund fortfährt: „Thomas ist verheiratet und wohnt jetzt irgendwo in einem Bauernhaus in Senne, das er selber renoviert hat.“

„Kinder?“

„Nein. Die Frau ist wesentlich älter als er, bereits 41 Jahre. Und da es bis jetzt nicht geklappt hat, ist die biologische Uhr wohl abgelaufen. Doch, wie man hört, sollen sie auch so recht glücklich sein. Thomas Freundin arbeitet bei Schüco als Sekretärin und Thomas betreibt mit einem Freund im Internet so eine Seite für Fantasyrollenspielefreaks. Da können die dann ihren Krempel bestellen. Er kann von den Einnahmen wohl  leben und soll sehr mit sich und der Welt zufrieden sein."

„Hört sich doch ganz nett an. Was macht Sven Vogel?“

„Sven treffe ich noch öfters in Brackwede, wenn ich dort mal bin, um meine Mutter zu besuchen oder um einfach nur die Hauptstraße rauf und runter zu laufen. Er hat wirklich eine beschissene Zeit hinter sich. Du weißt, dass seine Mutter gestorben ist?“

„Ich weiß. Meine Mutter hat es mir erzählt. Sie hat mich damals deswegen sogar extra angerufen“, erkläre ich. "Krebs, nicht? Das war vor ein paar Jahren."

„Genau. Es war Lungenkrebs. Den Tod seiner Mutter hat Sven aber kaum mitbekommen“, setzt Rassel seinen Bericht fort. „Denn zu dieser Zeit war er bereits seit vielen Jahren Alkoholiker. Im Moment ist er seit Frühjahr 2007 trocken. Ich habe ihn vor zwei Monaten getroffen und wir sind einen Kaffee trinken gegangen. Da hat er mir seine ganze Leidensgeschichte erzählt. Die ganze Scheiße mit der Alkoholsucht hat so richtig im Jahr 1997 angefangen, als er von zu Hause ausgezogen war, obwohl er schon vorher ernste Probleme mit dem Alkohol hatte. Er konnte zum Beispiel nie aufhören mit dem Trinken. Wenn er ein Bier getrunken hatte, soff er weiter und hat sich Oberkante, Unterkante abgedichtet. Dann ist er ausgezogen. Zuerst hat er noch alles auf die Kette bekommen, Arbeit und so weiter. Er hat sich jeden Abend schnell und bündig die Rübe zugezogen und ist pennen gegangen und war dann morgens oder nachmittags, je nachdem, wann seine Schicht angefangen hat, relativ fit. Doch dann hat er mehr und mehr die Kontrolle verloren. Er hat angefangen, vor der Arbeit zu trinken. Immer eine Pulle Wein und so kam Sven dann über den Tag.“

„Sven und Wein? Er hasst doch Wein. Jedenfalls hat er das früher immer getan.“

„Auf den Geschmack kam es ihm schon lange nicht mehr an. Er brauchte eben ein bestimmtes Quantum, um über den verschissenen Arbeitstag zu kommen. Bier, so hat er mir erzählt, hat da einfach nicht mehr funktioniert. Er hätte vor der Arbeit über zwei Liter saufen müssen, um halbwegs normal durch den Tag zu kommen. Und da er gerade vor der Frühschicht immer gehörig unter Zeitdruck stand, hätte er niemals so viel Bier zu sich nehmen können. Deshalb hat er zum Wein gegriffen. Eine ganz pragmatische Entscheidung.“

„Krass. Und dann hat er angefangen, auch auf der Arbeit zu saufen?“, erkundige ich mich weiter.

Sven Vogels Schicksal interessiert mich eigentlich überhaupt nicht! Es wäre mir vollkommen Latten, wenn er sich bereits totgesoffen hätte! Ich will nur ein paar Elendsgeschichten lauschen, um mich von meiner eigenen Situation ablenken zu lassen, solange es eben möglich ist.

„Ganz genau. Irgendwann ging es ganz einfach nicht mehr anders. Sven musste auch auf der Arbeit saufen. Er sagte, er hätte eines Tages Schmerzen im Brustbereich und Kreislaufprobleme bekommen, wenn er nicht mindestens alle zwei Stunden ins Glas gucken konnte. Also hat er in der Firma Wodka gesoffen, den er in seinem Spind versteckt hatte. Dahin ist er immer mal wieder gegangen, um sich zu stärken. So hat er es selber genannt: Sich stärken. Den Alkoholgeruch hat er mit Fishermans Friends–Pastillen und ab und an mit Knoblauchpillen, die er im Mund zerbissen hat, übertüncht.“

„Du meine Güte! Alkoholismus macht innovativ. Knoblauchpillen im Munde zerbeißen. Da muss

man erstmal drauf kommen. Doch irgendwann haben sie ihn dann erwischt?“

„Ja. Dann ist er erwischt worden. Der Schichtführer ist ihm nach in den Umkleideraum, nachdem einigen Kollegen immer häufiger dieser penetrante Knoblauchgeruch oder Mintgeruch aufgefallen war, der immer dann geherrscht hatte, wenn Sven aus der Umkleide zurückgekehrt war. Er hat ihn auf frischer Tat ertappt.“

„Das bedeutet also, dass ihn die eigenen Kollegen verpfiffen haben, nur weil er nach Knoblauch oder Minze roch?“

„Genauso ist es“, bestätigt Rassel nickend.

„Das ist aber ziemlich link, einen Alki, eine ganz arme Sau, so in die Pfanne zu hauen. Echt eine ganz miese Tour.“

„Auf den ersten Blick ja. Aber Sven hat gesagt, für ihn sei es wie eine himmlische Eingabe gewesen. Ohne diesen Vorfall in der Firma hätte er sich wahrscheinlich totgesoffen.“

„Sie haben ihn also nicht abgemahnt oder gar gefeuert?“

„Nein, nein. Im Gegenteil. Weil er immer untadelig gearbeitet hatte, haben sie ihm Hilfe angeboten und Sven hat diese Hilfe angenommen. Ihm ist klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Er hat gemerkt, dass er am Ende ist, wenn er mit dem Trinken weitermacht. Und so hat er sich in eine Suchtklinik einweisen lassen und hat unter stationärer Aufsicht entzogen. Nach dem Entzug hat er eine längere Therapie gemacht und so weiter und so weiter. Eben alles, was so dazu gehört“, erzählt Andre Faust Sven Vogels Schicksal weiter.

„Und jetzt ist er trocken?“

Zur Bestätigung meiner Frage nickt Rassel.

„Fällt es ihm schwer, trocken zu bleiben?“

„Er sagt, dass es ihm nicht besonders schwerfällt, weil er ohne das Saufen erst sieht, wie schön die Welt doch sein kann und wie gut es einem gehen kann. Außerdem besucht er regelmäßig die Treffen der Ortsgruppe der Anonymen Alkoholiker in Brackwede.“

Rassel trinkt sein Detmolder, ich mein Herforder und das Heimatbier mundet mir mit jedem Schluck besser.

„Bei den AA. Über die habe ich aber nicht nur Gutes gehört. Da hört man von sektenhaften Zügen“, gebe ich zu bedenken.

„Das ist mir natürlich auch zu Ohren gekommen und natürlich habe ich Sven drauf angesprochen. Sven meint, für manche sei es überhaupt nichts, für andere dafür um so mehr. So wie für ihn.“

„Und mittlerweile ist Sven auch wieder am Keulen?“

„Ja. Er wurde stufenweise in den Beruf zurückintegriert. Jetzt arbeitet er wieder in Vollzeit“, erklärt Rassel.

„Nun muss er nur noch trocken bleiben“, murmele ich vor mich hin.

Es ist mir immer noch vollkommen egal, wenn Sven sich heute Nacht kaputttrinken würde im Rahmen eines Rückfalls, solange nur der Kelch des Sommers 1996 an mir vorbeigeht und ich nie wieder etwas von der Sache höre.

„Jetzt haben wir lange genug über so ein Deprithema gesprochen", fahre ich fort. „Erzähl mir was nettes, Andre. Erzähl mir von Madeleine. Was macht die?“

„Ach ja, Madi, die geile Sau“, grinst Rassel. „Ihre kleine Schwester läuft mir manchmal im Marktkauf über den Weg. Madeleine wohnt in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie hat BWL studiert. Dabei hat sie auch ihren Ehegatten kennengelernt. Unsere süße Madi ist bereits seit einigen Jährchen verheiratet.“

„Ach herrje! Du solltest mir doch was Erfreuliches erzählen und nicht, dass Madi geheiratet hat“, scherze ich und Rassel lacht. „Hat sie Kinder?“

„Ihre Schwester hat mir jedenfalls nichts von Kindern berichtet. Aber ich schätze, dass jeder Mann Madeleine wohl gerne ein Kind machen würde.“

„Oh ja. Du sagst es, Andre.“

Rassel grinst mich breit an.

„Was interessierst du dich eigentlich so für Madeleine? Hast du mir nicht am Telefon von so einer Dilek berichtet, so eine adrette Deutschtürkin, die eine relativ erfolgreiche Kritikerin sein soll?“

Auf einmal wird mir wieder elend wie einem hungrigen Hunde.

Bringen wir heute keine Lösung des Problems in die Welt, könnte sich die Sache mit Dilek schnell erledigt haben und die mit Franziska ebenfalls, denn die flüchtigen sich bei einer solch unangenehmen Sache zügig in die Arme anderer Männer.

„Sicher. Ich bin auch froh, dass ich eine solche Frau habe. Sie ist toll.“

„Überzeugend klingt das allerdings nicht, mein Freund“, bemerkt Rassel wie aus der Pistole geschossen.

„Es ist nur...nur wegen dieser ganzen Situation. Scheiße, Mann! Ich habe echt Angst, dass ich eingelocht werde. Und sie somit für immer verliere.“

„Sachte, sachte, Jonas Twelker. Soweit ist es noch lange nicht und soweit wird es erst gar nicht kommen.“

„Ehrlich?“, frage ich fast flehend.

„Ganz ehrlich. Wart ´ s einfach ab. Warte, bis Mark eintrifft.“

Ein wenig Linderung meiner seelischen Schmerzen tritt ein, ähnlich, wie es vorhin am Bahnhof sich zutrug. Trotzdem möchte ich vom Thema her möglichst schnell weg von Dilek.

„Hast du mal was von Helge gehört?“

„So um die Jahrtausendwende hat auch Helge versucht, auf den Internetzug aufzuspringen. Er wollte Geld durch das Besorgen und Verkaufen von Ersatzteilen für Autos machen und dafür mit diversen Schrottplätzen zusammenarbeiten. ` ist ihm wohl nicht gelungen. Soweit ich weiß, wohnt er heute in Gütersloh und arbeitet noch immer als Industriemechaniker.“

„Ist auch besser für ihn. Er hat gar nicht die geistigen Fähigkeiten, ein eigenes Geschäft aufzuziehen. Das soll jetzt nicht abwertend klingen, aber nicht jeder kann selbstständig sein und damit über die Runden kommen.“

„Ich sehe Helge auch besser aufgehoben in einer Manufaktur und an der Werkbank“, stimmt Rassel mir zu. „Letztens habe ich Brauni...“

Es klingelt an der Haustür, worauf ich heftig erschrecke und auf dem Sofapolster zusammenfahre.

„Ruhig, Jonas. Es ist nur Mark. Bleib einfach ganz locker, lehn dich zurück und trink dein Bier.“

Rassel drückt auf einen Knopf der futuristischen Fernbedienung, von dem ich annehme, dass er das Eisentor am Fuße der Zufahrt öffnet und tippelt auf kleinen Schuhen aus dem Wohnzimmer und zur Haustür.

Aber es handelt sich nicht um Mark, der draußen vor der Türe steht, sondern es ist eine Frau, welche ich eine überschwängliche Begrüßung flöten höre.

„Ich habe dir doch gesagt, heute Abend nicht“, meckert Rassel ohne Vorwarnung los.

„Ich wollte dich überraschen. Dir eine Freude machen“, antwortet sie leidvoll.

„Du machst mir damit aber keine Freude! Ich habe dir gesagt, dass ich dich heute nicht sehen will, weil ich keine Zeit habe. Keine Zeit! Soll ich es dir buchstabieren? Z. E. I. T.! Und nun verschwinde! Ich habe schwer zu schaffen. Denn im Gegensatz zu dir muss ich ständig für meine Kohlen schuften.“

„Du bist ein herzloser Holzkopf! Jawohl, ein herz...“

Man kann deutlich hören, wie Andre die Haustür zuschlägt, bevor es ein zweites Mal zu läuten anfängt, worauf wiederum einige Sekunden verstreichen.

„Hau ab!“, brüllt Rassel los und ballert erneut die Tür zu.

Ein drittes Mal klingelt es nicht.

Rassel kommt ins Wohnzimmer zurückgetippelt.

„Jesus, Maria und Joseph! Was war denn da los?“, frage ich neugierig.

„Frauen, Jonas, Frauen. Oder vielmehr Weiber!“, antwortet mein alter Freund.

Rassel geht hinter die Bar und greift nach etwas.

Zum Vorschein kommt eine lange Zigarre, die er mit einem flachen goldenen Feuerzeug entzündet, um endlich genüsslich dran herumzupaffen. Irgendwie, es gibt da kein Vertun, wirkt der kleine Mann lächerlich mit der riesigen Zigarre zwischen den Lippen.

„Willst du auch eine?“

„Nein, danke.“

„Es sind handgerollte kubanische Zigarren. Allerbeste Qualität. Ich lasse sie extra einfliegen, weil mich nur diese Sorte anmacht.“

„Besser nicht. Davon bekommen ich Durchfall. Wer war das gerade, deine Freundin?“

„Freundin wäre übertrieben. Es ist eine Frau, mit der ich hier und da was habe. Oder wir fliegen mal für ein verlängertes Wochenende nach Gomera. Mehr stellt sie nicht dar. Von der Sorte habe ich gleich drei Stück auf Lager. Du kannst mir gerne eine abkaufen. Der Preis ist Verhandlungssache.“

Rassel wirft kurz seinen Kopf zurück in den Nacken und lacht, ein, jedenfalls erscheint es mir so, dämonisches, ein diabolisches Lachen.

Ich schaue Rassel genauer an. Er hat sich auf einen der lederüberzogenen Hocker an der Bar gesetzt, das Gesicht zu mir gewandt. Wie er da hockt, die Zigarre zwischen den Lippen, ist es schwer vorstellbar, dass es gleich mehrere Frauen gibt, die sich so behandeln lassen wie die Dame gerade vor der Haustür, nur damit sie ein paar schöne Stunden mit ihm auf einer kanarischen Insel verleben können.

Es muss wohl alleine nur das Geld sein, denn an der Optik kann es definitiv nicht liegen.

„Also gibt es bei dir nichts Festes“, stelle ich mehr fest, als zu fragen.

„Ne, ne. Feste Frauen sind Geldvernichtungsmaschinen. Da lebst du günstiger, wenn du regelmäßig in den Puff gehst und dort deine Kohle verfickst. Diese Weisheit hat mir ein Nachttaxifahrer gezwitschert. Die Typen, die des nachts mit dem Taxi unterwegs sind, haben mehr Lebensweisheit zu bieten als sämtliche Philosophen zusammen.“

Wir lachen schwach und kurz. Rassel leert sein Detmolder und rülpst.

„Sorry, Jonas. Meine Leber ist hinüber, da passiert so etwas schon mal ungewollt. Ich genehmige mir noch eins. Willst du auch noch ein Herforder?“

Mit einem Lachen kommentiere ich Rassels Spruch und durch ein Nicken das Angebot auf eine zweite Runde Bier.

Als Rassel gerade hinter der Bar im Kühlschrank kramen tut, klingelt es erneut an der Haustür.

Wieder betätigt Andre den Knopf auf seiner Fernbedienung, bevor er schnell das Bier vor mich auf den Sofatisch stellt und sich zur Haustür aufmacht.

Bei seiner Rückkehr geht Mark an seiner Seite.

Mark besitzt noch immer Ähnlichkeit mit dem Abbild eines Engels; ein Engel in Replay Blue Jeans und schwarzem Lacoste-Polohemd. Sein blondes, leicht gelocktes Haar wurde durch etwas Gel in Form gebracht, das Gesicht tadellos rasiert und der Oberkörper unter dem Polohemd wirkt ziemlich muskulös, was auf regelmäßige Besuche im Fitnessstudio schließen lässt. Aber all diese optische Perfektion kann die tiefen, dunklen Schatten auf seinem Gesicht und die Angst in seinen Augen nicht verbergen.

Nachdem Mark mich gesehen hat, gelingt es ihm jedoch, sich ein Lächeln abzuringen.

Ich stehe auf. Wir nehmen uns in die Arme.

„Mark.“

„Jonas. Es ist lange her. Schön dich zu sehen. Trotz der Umstände.“

Wir lockern die Umarmung, worauf das kurze freudige Aufflackern in Marks Gesicht erlischt und wieder sämtliche Sorgen darauf liegen.

Rassel tritt zwischen uns.

„Setz dich Mark! Setz dich! Jonas und ich sind gerade dabei, über ein paar Leute von früher und über das Thema Frauen zu reden. Willst du ein Bier?“

Mark schaut auf diesen Vorschlag hin nicht sonderlich begeistert aus.

„Ich würde ja gerne mit euch ein paar Bierchen zwitschern und über die alten Zeiten reden, aber danach stehen mir heute echt nicht die Sinne. Wir sollten schleunigst zur Sache kommen. Wir wissen doch alle, warum wir hier sind.“

„Aber ein Bier kannst du doch wohl trinken“, beharrt Rassel auf seinem Angebot. Er kommt wie die Ruhe selbst rüber und seine Gelassenheit kann nur bewundernswert genannt werden. „Immerhin hast du daheim bei Sophia doch erzählst, du wolltest nach all der Zeit mal wieder in Ruhe mit deinen alten Freunden quatschen.“

Mark und Sophia sind vor sechs Jahren den Bund der Ehe eingegangen. Natürlich war auch ich auf die Feier eingeladen, aber einer Exkursion in die Alpen wegen verhindert. Das Einladungsschreiben erreichte mich damals noch in meiner Studentenbude in dem Bonner Verbindungshaus. Jemand, ich denke Sophia unter zur Hilfenahme eines Kalligraphie–Sets, hatte es mit breiter Feder auf dunkelblauem dickem Papier verfasst. Damals wollte ich anrufen und gratulieren, überlegte es mir allerdings anders und schrieb, um Sophia zu beweisen, dass auch ein Jonas Twelker mit Tinte und Papier arbeiten kann, einen handschriftlichen Brief, ein paar nette Worte und Zeilen; alles Gute und Liebe dem Brautpaar, eine goldene Zukunft und viele glückliche Jahre für euch und so weiter und so fort. Im Postskriptum, ja natürlich musste ich etwas in diese Richtung erstellen, wurde meine Hoffnung ausgedrückt, dass man sich mal wiedersehe. Die Antwort kam online, war kurz gehalten und stammte von Mark. Danke für die netten Wünschen. Sicher könne man sich mal wieder treffen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte.

Ein Treffen gab es allerdings nie und, es mag komisch klingen, so richtig traurig war sicherlich keiner darüber. Zum einen weil Mark genau wusste (und weiß), dass ich Sophia nicht leiden kann, zum anderen hatten wir uns zu diesem Zeitpunkt schon im wahrsten Sinne des Wortes auseinandergelebt; meine Person am Rhein mit einem komplett neuen Freundeskreis und akademischen Herausforderungen und Mark in Bielefeld als junger Beamter mit ehrgeizigen Zielen innerhalb des Finanzapparats. Später, vor zwei oder drei Jahren, kamen dann bei Mark und Sophia noch die Kinder ins Spiel. Sophia schenkte ihrem Gatten Zwillinge, die die Namen Helena und Johannes-Paul tragen. Mit dem Wissen, dass Sophia eine gute Katholikin verkörpert, fällt es nicht schwer, zu verstehen, wer für diese Namen verantwortlich zeichnete, wobei Johannes-Paul hier keiner näheren Erörterung bedarf und Helena, da würde ich vieles drauf wetten, mit Sicherheit der Name irgendeiner Heiligen ist. All das bekam ich ebenso wie Rassels kometenhaften Aufstieg innerhalb der ostwestfälischen Unternehmerszene nur am Rande und zumeist durch Telefonate mit meiner Mutter mit.

So lebte ein Jeder von uns in seiner eigenen Welt und wahrscheinlich waren die Geschehnisse in der Nacht Ende Juni 1996 noch viel ausschlaggebender als die eben erwähnten Gründe dafür, dass es zu keinem Treffen mehr kam. Wir gingen uns insgeheim aus dem Weg, weil eine Begegnung nur unnötige böse Erinnerungen nach oben gespült hätte. 

Heute allerdings werdet ihr um unangenehme Erinnerungen nicht umherkommen!

„Ich bin mit dem Wagen hier. Ich muss noch fahren“, lehnt Mark Rassel Angebot erneut ab.     

Rassel grinst und lässt nicht locker.

„Ein Bier macht dich nicht fahruntüchtig. Selbst in der heutigen Zeit nicht.“

„Ich weiß. Aber wenn dir einer hinten drauf knallt, ist es vollkommen egal, ob du wenig getrunken hast. Hast du auch nur den Hauch von Alkohol im Blut, bist du immer der Gearschte“, hält Mark eisern dagegen.

„Nun gut. Dann spendiere ich dir eben ein Taxi nach Hause. Dann kannst du sogar mehr als ein Bier trinken. Dann kannst du wegen mir die ganze Bar wegtrinken“, weitet Rassel sein Angebot aus.

„Sophia braucht morgen den Wagen. Sie muss die Kinder in den Kindergarten bringen und zum Einkaufen fahren. Dafür reicht der Zweitwagen nicht, weil der keine Kindersitze hat. Außerdem finde ich, dass das hier nicht gerade der richtige Anlass ist, sich Bier auf die Lampe zu schütten und einen auf Wiedersehenstreffen zu machen. Die Lage ist ernst, todernst. Wir sollten schleunigst auf den Punkt kommen und uns überlegen, was wir jetzt machen. Aber wenn du vielleicht bitte ein Wasser für mich hättest“, lässt Mark nicht von seinem Weg ab.

„Mit Kohlensäure oder ohne?“, gibt Rassel nach.

„Mit bitte.“

Andre geht hinter die Bar und kehrt mit einer kleinen dekorativen Glasflasche und einem nicht minder schicken Glas zurück, welche er ordentlich auf den Sofatisch stellt.

„Na dann setz dich mal, Mark und wir können mit dem Reden anfangen“, fordert Rassel ihn auf.

Mark setzt sich zu mir aufs Sofa, während Rassel einen der Sessel so rückt, dass wir uns genau in seinem Blickfeld befinden.

„Kannst du bitte dafür sorgen, dass die Musik aus ist. Nichts gegen deinen Geschmack, aber ich bin wirklich nicht in der Stimmung, wie auf einer Party Musik zu hören, während wir diese ganze verfluchte Scheiße wieder aufwärmen müssen.“

Die Worte verfluchte und Scheiße spuckt Mark Wenzel förmlich aus.

Rassel zuckt die Achseln, dann greift er nach der ultraflachen Fernbedienung und die Stereoanlage, die mittlerweile Huey Lewis and The News spielt, verstummt.

Bisher kam es mir immer so vor, als sei ich die unsteigerbare Form der Angst. Mark jedoch hat es noch viel, viel arger erwischt. Er zittert am ganzen Körper, ein dünner Schweißfilm steht auf seiner Stirn und sein Blick wandert stets nervös von rechts nach links und von links nach rechts. Sein Teint ist seit seiner Ankunft in diesem Raum mit jeder Minute käsiger geworden.

„Verdammte Tat! Wie konnte das nur passieren? Was war damals bloß in mich, beziehungsweise in uns gefahren? Wie konnten wir sowas nur tun?“, murmelt er vor sich hin.

Jahrelang habe ich diese Fragen verdrängt, sie mir niemals aufrichtig gestellt. Wozu auch? Die Sache mit Opa Rainhard war ein Experiment oder wegen mir auch ein Unfall, von dem man nie wieder etwas hören würde.

„Ich denke, die Antwort darauf ist nun vollkommen unwichtig. Wir müssen nur noch sehen, wie wir diese Sache ein für alle Mal beenden können“, spricht Rassel.

Automatisch hat sich ein Jeder irgendeinen Punkt in dem großen Raum gesucht, den er immer wieder anfixiert. Ob wir wollen oder nicht, unsere Gehirne kommen in Fahrt und mit ihnen die Erinnerungen an jenen Sommer im Jahre des Herrn 1996. Wir denken alle dasselbe, wenn auch jeder auf seine ganz eigene Art und Weise.


Teil II

Die Tat

 

John stieg aus dem Auto aus, und ich hörte diese Stimme, die sagte: 'Tu es, tu es, tu es.' Wahrscheinlich war es meine eigene Stimme."

Mark David Chapman

  

Kapitel 25

(Halle in Westfalen im frühen Sommer 1996) Tief unter uns ertönt mit einem schrillen, an die Schmerzgrenze gehenden Ton die Sirene, welche die Arbeiter des Steinbruchs in ihr wohlverdientes Wochenende entlässt. Hoch über ihnen auf der Kante öffne ich mein zweites Herforder–Pils.

Mein Abitur wurde mit dem äußerst zufriedenstellenden Notendurchschnitt von 1,5 bestanden, was bedeutet, dass sogar ein Medizinstudium im Bereich des Möglichen läge, damit ich in die Fußstapfen meines werten Herrn Vaters treten könnte. Allerdings ist meine Entscheidung für den Studiengang Biologie und den Universitätsstandort in der Nochhauptstadt Bonn längst gefallen, so dass der Sohn endlich auf den Spuren der Frau Mutter wandelt. Doch bevor die schönste Zeit des Lebens, das Dasein als Student in einer fremden Stadt beginnt, gilt es eine letzte Hürde zu überwinden. Gute drei Wochen bleiben noch, bis ich bei der Bundeswehr anrücke. Der Einberufungsbescheid flatterte per Einschreiben ins Haus und besagt gnadenlos, dass ein gewisser Zivilist Jonas Twelker sich am 01. Juli 1996 bis spätestens 18:00 Uhr im münsterländischen Coesfeld bei der Ausbildungskompanie eines Instandsetzungsbataillon melden muss. Zehn Monate werden dann vor mir liegen, die unter dem Motto stehen, Augen zu und durch, denn danach wartet das süße Leben, das wahre Leben.

Rassel darf sich fertiger Bankkaufmann nennen, gehörte in seinem Ausbildungsjahrgang gar zu den drei besten Absolventen in Nordrhein–Westfalen. Weiterhin arbeitetet Andre hart an seiner großen Karriere, indem er tagsüber für die Bank schafft und abends daheim über den Büchern für sein Fernstudium in Informatik und Betriebswirtschaftslehre brütet. Nachdem die Deutschen Bank ihn fest eingestellt hatte, zog er bei seiner Mutter aus und suchte sich eine adrette Wohnung an der Hauptstraße von Brackwede und selbstverständlich musste zu diesem feierlichen Anlass eine neue Karosse her. Andre Faust ist nun stolzer Besitzer eines BMW, der erst dreieinhalb Jahre und lediglich vierzigtausend Kilometer auf dem Buckel hat; ein karminrotes Coupe der 3er Reihe, dem fast zweihundert Pferdestärken innewohnen.

Marks Zivildienst wurde nach Ablauf der Pflichtzeit beendet, worüber sich unser werter Herr Wenzel diebisch freute.

Nun müsse eine andere arme Sau die Zombies aus Bethel durch die Gegend kutschieren, waren seine erste Worte zu diesem beendeten Lebensabschnitt gewesen, bevor er sich genüsslich eine Dose Herforder aufriss.

Zum Herbst hin wird er in einem dualen Studiengang die schwere Ausbildung zum Diplom Finanzwirt (FH)  antreten. Dass dieses die Erfüllung seines finalen Traumes darstellt, kann nicht gerade behauptet werden, aber sein Vater wollte und will es so und, was Rassel und ich stark vermuten, ist, dass Sophia Wehmeyer ebenfalls hinter einer solch gehobenen bürgerlichen Ausbildung steht.

Ja, die zwei Turteltauben vom Grillplatz, dort wo alles begann, sind immer noch in glücklicher Zweisamkeit vereint und Rassel und ich können froh sein, dass Mark es heute geschafft hat, sich für ein paar Stunden abzuseilen.

Wir sitzen also auf dem Baumstamm in der Nähe der Aufschlusskante, trinken Bier und Pepsi und genießen das schöne Wetter, von dem es in diesem Frühjahr und Sommer bislang leider viel zu wenig gab.         

„Tja, Jonas. Noch etwas mehr als vierzehn Tage und dann bist du weg. Antreten beim Bund. Ich bin ja mal gespannt, wie du in deiner Paradeuniform aussehen wirst“, sagt Rassel mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

Der kleine Mann trinkt einen Schluck von seinem Bier, stellt die Falsche vor den Baumstamm ins Gras und zündet sich eine Marlboro an. Sichtbar genussvoll inhaliert er und pustet den Rauch in Richtung Mark, der mit dem Nichtrauchen beinahe ein Jahr durchhält; etwas weniger an Zeit, als Sophia und er nun ein Paar sind.

„Na wie sieht es aus, willst  du eine quarzen?“, fragt Rassel grinsend in Marks Richtung.

Rassel versucht immer wieder, ihn durch verführerische Angebote weich zu kochen, damit er wieder zur Kippe greift. Doch Mark bleibt eisern, lehnt auch diesmal mit einem Zuckerlächeln ab und so greife ich zur Schachtel und genehmige mir eine Zigarette.

„Ich bin wenigstens kein Vaterlandsverräter, so wie ihr beiden es seid“, erkläre ich.

Unabhängig voneinander tönen Andre und Mark: „Jawohl, Herr General!“

Wir lachen alle drei.

„Jetzt mal ernsthaft“, fahre ich fort. „Es sind tatsächlich keine drei Wochen mehr. Bis dahin werden wir es wohl unter übel noch ein paar Male richtig krachen lassen. Dazu läuft noch die EM in England. Du wirst deinen Durst echt steigern müssen, Mark. Dann kannst du mir nicht wie heute mit Fahren müssen und Pepsi kommen.“

Wieder lachen drei junge Männer und ihr Lachen schwebt über die Steinbruchkante.

Plötzlich, von einer Sekunde auf die nächste, legt Rassel eine sehr ernst wirkende Miene auf, wobei er wirkt wie eine Mischung aus Zirkusclown und Wahnsinniger.

„Wir werden es krachen lassen“, sagt er leise und eindringlich. „Richtig krachen lassen. Im PC 69. Nachdem wir den alten, versoffenen Arsch kaltgemacht haben.“

„Davon kriegst du wohl nicht genug, Mann“, stellt Mark lächelnd fest, während er die Rauchwölkchen, die Rassel zu ihm herübergepustet hat, mit der flachen Hand bei Seite fächert. „Wird dir der Scherz nicht irgendwann einmal langweilig?“

Rassels Blick verfinstert sich.

„Ich meine es so ernst wie nie, mein Freund. Ich meine es so ernst wie nie. Das hat überhaupt nichts mit Langeweile zu tun. Es ist ein ernsthaftes Unternehmen. Ein dreckiger Job, der getan werden muss“, lautet seine Antwort.

Auf welch schmalen Grad zwischen Normalität und Wahnsinn wandelt Andre Faust? Kann es sein, dass ihm diese fixe Idee, einen alten, alkoholkranken Mann zu massakrieren, tatsächlich ernst ist?

„Ach, komm!“, spreche ich mit schnippischen Unterton. „Davon erzählen und sich geniale Pläne über das sogenannte perfekte Verbrechen auszudenken, sind eine Sache. Aber den Plan dann, wenn du Opa Rainhard Auge in Auge im Wald gegenüberstehst, in die Tat umzusetzen, ist wieder eine ganz, ganz andere Hausnummer.“

„Ihr wette um alles, was ich habe, dass ich den alten Sack kaltmache. Und ihr könnt es auch“, erklärt Rassel leise.

„Das ist nicht so, wie eine Mücke zu zerschlagen oder einen Vogel mit dem Luftgewehr vom Baum zu schießen. Wir sprechen hier von einem Menschen. Sicherlich kannst du dich nachts im Wald an Opa Rainhard heranschleichen und wenn du besoffen genug bist, schaffst du es vielleicht, dich zu überwinden, ihm auf die Fresse zu hauen oder mit einem Arschtritt ins Unterholz zu befördern. Aber umbringen? Nein, das glaube ich nicht. Bei jedem von uns wird sich automatisch so eine Art Blockade einstellen. Schließlich sind wir ja keine Tiere oder durchgeknallte Soziopathen“, erkläre ich und schnippe die Zigarette über die Steinbruchkante.

Mark signalisiert Zustimmung durch ein Kopfnicken und starrt dezent, aber dennoch sichtbar sehnsuchtsvoll auf die Schachtel Marlboro neben Rassel auf dem Baumstumpf.

„In jedem von uns steckt ein Tier. Es wartet nur darauf, dass man es loslässt. Was meint ihr, was das für ein Machtgefühl ist, wenn man einen Menschen umlegt? Das kommt besser als jeder Drogenkick und jeder Orgasmus. Hundertprozentig“, erklärt Rassel leise und ruhig.

„Vielleicht hast du damit recht, Andre. Vielleicht bekommt man davon einen unglaublichen Kick, der seinesgleichen sucht. Man denke da nur an Brot und Spiele im alten Rom, daran, wie Gladiatoren und Zuschauer abgegangen sind. Doch was ist mit dem Gewissen? Was ist nach der Tat, wenn dir genau bewusst wird, was du getan hast?“, gibt Mark zu bedenken.

„Ach was. Das mit dem Gewissen ist doch Kokolores. Ein Gewissen kann man ausschalten und zum Schweigen bringen. Was ist denn mit den Mafiapaten? Die lassen hunderte von Menschen durch Fingerschnippen aus dem Weg räumen und genießen ihr Leben weiterhin in vollen Zügen. Oder die SS–Männer. Hat die nach dem Kriege irgendeines ihrer Verbrechen gereut? Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Sie haben schön ihre Kameradentreffen abgehalten, sich betrunken, alte Lieder gesungen und sich auch nach dem Krieg wie die Herren der Welt gefühlt. Meint ihr, die haben auch nur eine Sekunde an irgendeine Oma gedacht, die sie in die Gaskammer getreten haben? Nein! Die haben ihre Taten später kräftig gefeiert. Oder die Besatzungen von den Flugzeugen, die die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen haben? Zweihunderttausend Menschen auf einen Streich fritten, verdammte Tat! Hat die was gereut? Ich habe letztens noch ein Interview mit einem von der Besatzung gesehen. Der Typ war sogar stolz drauf“, redet Rassel mit einem Leuchten in den Augen.

„Es habe aber auch von Besatzungsmitgliedern der Bomber gelesen, denen es danach gar nicht gut ging. Die haben danach wohl kein richtiges Leben mehr leben können“, hält Mark dagegen.

„Und außerdem, die meisten Menschen, die du in deinen Beispielen genannt hast, können ihr Gewissen dadurch beruhigen, dass sie sagen, wir waren Soldaten. Die Befehle kamen von oben und als Soldat hat man sie nicht zu hinterfragen“, halte ich dagegen.

„Auf Befehlsnotstand haben die sich nur rausgeredet, wenn sie vor irgendeinem Gericht standen oder Interviews gegeben haben. In ihrem Inneren haben sie ihre Gräueltaten genossen. Jonas, du hast mir selber erzählt, wie du als Kind mitbekommen hast, wenn Försterfeld seine Kameradentreffen mit seinen alten SS-Freunden gefeiert hat und wie sie dabei die Lieder von damals gesungen haben. Du hast gesagt, die haben so laut gesungen, dass du es nachts in deinem Zimmer hören konntest. Meinst du, die hat irgendwas gereut? Einen Scheiß hat die irgendwas“, gibt Rassel sich nicht geschlagen.

„Aber unterbewusst konnten sie sich immer einreden, wenn das schlechte Gewissen kam, ich war Soldat und habe nur Befehle befolgt. Und das werden die sicherlich auch so gemacht haben“, sagt Mark.

„So ist es nicht. Du denkst falsch. Gehen wir mal eine Etage höher. Der Präsident, der die Atombombenabwürfe angeordnet hat, den hat nichts gereut. Oder die Spitzen-Nazis, die in Nürnberg vor Gericht standen. Keine Anzeichen der Reue, keine Andeutung einer Entschuldigung. Diese Menschen waren vollkommen mit sich im Reinen. Und warum? Weil sie wussten, wie geil es ist, dem inneren Tier zu folgen und ihm freie Bahn zu lassen“, argumentiert Rassel. „Weil sie wussten, dass sie zu den Menschen gehörten, die es gewagt hatten, diesem ganz natürlichen Trieb nachzugeben. Und dabei haben sie noch nicht mal selbst Hand angelegt, sondern sich nur die Art und Weise des Mordens erdacht und umsetzen lassen. Der Mensch ist kein von Natur aus gutes Wesen. Und gibt man sich dem hin, erlangt man eine neue Stufe der Erfüllung.“

„Okay. Wegen mir. Dann hat es also diese Menschen, die du eben aufgezählt hast, nicht gereut. Aber ich glaube, ich hätte mehr als ein schlechtes Gewissen, wenn ich den armen Opa Rainhard einfach so umlegen würde. Es wäre so sinnlos“, argumentiert Mark.

„Sinnlos wäre es ja keineswegs. Der alte Arsch hat uns ans Messer geliefert und es wäre nur die gerechte Rache für seinen widerwärtigen Verrat. Aber es geht hier auch um noch etwas anderes. Es geht um den Kick. Darum, die Bestie, die in jedem Menschen schlummert, sich einfach entfalten zu lassen. Dieses unglaubliche Gefühl, Herr über Leben und Tod zu sein. Wahrscheinlich haben wir es dabei mit der totalen Erfüllung zu tun. Jeder Mensch sollte das einmal erlebt haben. Und der Zeitpunkt könnte kaum besser sein, um dieses Erlebnis zu suchen. Lassen wir die angekettete Bestie frei und bringen unseren Geist dadurch auf eine andere Ebene. Wer wünscht sich nicht unterbewusst, genau das zu tun. Denkt immer an die angekettete, wilde Bestie und das Potential, welches in uns schlummert“, spricht Rassel ruhig und sachlich.                

„Du bist verdreht. Total verrückt“, antwortet Mark, aber recht überzeugt von seinen Worten, klingt er dabei nicht.

Auf eine gewisse Art und Weise besitzt Rassels Gerede, so schlimm sich das anhört, einen wahren Kern. Ich jedenfalls habe schon häufig in meinem Leben daran gedacht, die innere Bestie von der Kette zu lassen. Ich redete niemals mit anderen Menschen über diese Gedanken aus Angst, man könne mich für einen Psychopathen halten, aber Gewaltphantasien tauchten immer wieder auf, mal von intensiver, mal von weniger intensiver Natur. Mich fröstelt es trotz des sonnigen Wetters.

„Das mit dem Wunsch, die Bestie von der Kette zu lassen, kann ich nur bestätigen“, wird es kleinlaut durch mich eingeräumt und innerlich die Frage gestellt, warum ich ausgerechnet jetzt darüber reden will.

Wäre es nicht besser, einfach den Mund zu halten und das Thema am langen Arm verhungern zu lassen?

„In der fünften und sechsten Klasse gab es einen Physiklehrer, der es auf mich abgesehen hatte. Er hat mich am laufenden Band gedemütigt. Mensch, was habe ich mir gewünscht, diesen Kerl langsam und qualvoll umzubringen.“

Der Name dieses Lehrers lautete Manfred Ellermann, ein Hurensohn der ersten Kategorie. Jonas Twelker war damals ein nervöser, ängstlicher Knabe, verspielt und mit dem Hang, im Unterricht zu träumen. Wenn mir ein Fach also keinen Spaß machte, wurden einfach die inneren Augen geöffnet und sich ins Wunderland geträumt. Gerade in Physik kam das häufiger vor. Als Ellermann merkte, was für ein Träumer dort unter seinen Eleven saß, beschloss er, mich zum Arbeiten zu motivieren, wofür der Mutterficker seine ganz eigenen Methoden besaß. Immer nahm er mich unaufgefordert dran und da ich fast niemals eine richtige Antwort auf die Kette bekam, machte er es sich zum Vergnügen, lächelnd vor versammelter Klasse eine Fünf oder eine Sechs in seinen roten Lehrerkalender einzutragen. Damit hörten die Demütigungen allerdings noch lange nicht auf. Häufig kommentierte er meine falschen Antworten durch Sprüche wie diese: „Falsch, falscher geht es nicht. Da habe ich schon von meinen Turnschuhen bessere Antworten gehört“, und: „Leider daneben getippt, Herr Twelker. Soweit daneben, dass man es nicht mehr in Kilometern messen kann. Dafür braucht man als Maßeinheit schon Lichtjahre.“

Viele Mitschüler aus der Klasse lachten, sie lachten mich aus und ich wünschte mir in jenen Momenten nichts sehnlicher, als dass Ellermann auf dem Heimweg ein Kampfpanzer plattwalzen täte. Statt eines Todes unter Ketten für ihn gab es leider weitere Demütigungen für mich. An einem Tag vergaß ich meine Hausaufgaben. Sie waren mir schlicht und einfach entfallen. Ein Klassenkamerad machte mich drauf aufmerksam und einer Panik nahe versuchte ich, diese Hausaufgaben während der Physikstunde unauffällig abzuschreiben, bevor Ellermann anfing, diese zu kontrollieren. Natürlich wurde der Lehrer auf die Aktion aufmerksam. Mit wenigen Schritten war er an meinem Platz, nahm mir das Hausaufgabenheft weg und verrieb die blaue Tinte, dort wo sie noch nicht ins Papier getrocknet war, mit seinen Fingern zu einem unleserlichen Geschmiere. Dann hielt er das Heft in die Höhe, so dass die ganze Klasse es sehen konnte.

„Jonas zeigt uns heute, wie man seine Hausaufgaben in keinem Fall machen sollte. Nämlich vor meiner Nase und während der laufenden Schulstunde. Ich kann nur hoffen, dass soviel Idiotie nicht ansteckend auf den Rest der Klasse wirkt.“

Er knallte das Heft auf meinen Tisch.

„Jonas, Jonas!“, sprach er herablassend. „Ich glaube, ich werde wohl einen netten, kleinen Brief an deine Eltern schreiben müssen. Es tut mir ja leid, aber du musst es eben lernen und anders kriegt man es wohl nicht in deinen Kopf rein. Wie gesagt, es tut mir ja leid. Es ist nur zu deinem Besten.“

Nichts tat diesem gottverdammten Hurensohn leid. Er tat das nur aus der Freude heraus, andere Menschen zu demütigen. In diesem Moment stellte ich mir vor, dass ihm von mir mit einem Baseballschläger die hässliche Rübe zu Mus geprügelt wurde. Dass ich ihn mit einer Motorsäge die Gliedmaßen abtrennte und seinen Torso anschließend mit Benzin überkippte und in Brand setzte. Das Verlangen, diesem Menschen massive Gewalt anzutun, loderte so stark in mir, dass ich mich mit beiden Händen in die Sitzfläche meines Stuhls krallte.

Jetzt, obgleich beinahe neun Jahre verstrichen sind, kommt über das Berichten dieser intensiven Erinnerungen die Wut mit voller Wucht zurück.

„Ich hätte den Typen bei lebendigem Leibe anzünden können. Da demütigt das Schwein ein elfjähriges Kind vor versammelter Mannschaft. Einen Elfjährigen, der sich keinen Deut wehren kann. Was für ein Hurensohn! Was für ein Mutterficker! Ich sollte jetzt gleich zu ihm nach Herford fahren und ihn und seine verfickte Hurenfamilie umbringen“, schimpfe ich vor mich hin.

 „Sehr schön, Jonas. Sehr schön“, sagt Rassel mit leuchtenden Augen. „Aber der Kerl hatte es auch auf dich abgesehen. Sei mal ehrlich, hattest du diesen Wunsch nicht auch bei Menschen, die dir gar nichts getan haben? Einfach mal so?“

Ich nehme eine großen Schluck Bier, worauf hin der Wutpegel etwas absinkt und denke über Rassels Frage nach.

„Doch. Könnt ihr euch noch an den peinlichen Karsten Passfall erinnern, der bei mir auf dem OS war und auch auf der Party auf der Fahnenspitze im letzten Jahr?“

Mark und Rassel nicken gleichzeitig.

„Als wir mit dem Oberstufen-Kolleg eine Partnerschule in Rumänien besucht haben, hatte Passfall einen riesigen Ghettoblaster dabei“, fahre ich fort. „Kaum hatten wir unsere Zimmer in der Jugendherberge bezogen, warf Passfall den CD–Spieler an und spielte dieses megapeinliche Lied Was wollen wir trinken sieben Tage lang. Er stand da neben seinem Ghettoblaster, grinste über seine behinderte Fresse und freute sich über das Lied. Er war fest der Meinung, dass seine Aktion lustig gewesen wäre und wollte uns mit der Musik wohl auf eine geile Partyzeit einstimmen. Er war fest der Meinung, wir würden es witzig finden, diese Musik zum Auftakt des Aufenthalts zu hören oder so. Dabei war es schlicht und einfach nur peinlich. Alle empfanden das als peinlich. Nach dem Lied legte Passfall eine CD von irgendeinem Schlagerfutzi ein, es gibt wohl keine peinlichere Musikrichtung auf diesem Planeten als Schlager, und spielte wieder einen abfuckenden Song über Saufen und Partymachen. Auch hier fühlte er sich  wohl als großer Stimmungsmacher. Doch auch hier war er nur noch peinlich, unterirdisch peinlich. Da hätte ich ihm am liebsten die Zähne aus der grinsenden Fresse geprügelt, den Ghettoblaster auf seinem Schädel zerschlagen und ihn angeschrien: >>Du dummes Schwein! Merkst du geistig behindertes Stück Scheiße eigentlich nicht, dass du nur noch peinlich bist und außer dir das hier keine Sau lustig findet?<< Ich musste damals hart dagegen ankämpfen, ihm nicht die Visage einzutreten.“

Rassel, der meinem Bericht aufmerksam gelauscht hat, schaut sehr zufrieden drein. Nun greift auch Mark das Thema auf.

„Gott bin ich froh, dass dieser Zivildienst zu Ende ist. Da war einer von diesen Behinderten, der hieß Roger, der ist mir so dermaßen auf den Sack gegangen. Ich habe bei dem immer das Gefühl gehabt, dass der gar nicht so übel dran ist wie die anderen. Häufig hat der auf der Fahrt zur Arbeit und zurück Lieder gesungen, die er sich selber ausgedacht hat. Irgendwas über die stinkende Scheiße meist. Dieses Gesinge hat die anderen Zombies dann immer vollkommen kirre gemacht. Es hat sie angesteckt und schon war in dem Kleinbus der Teufel los.“

Ich stelle mir vor, wie ein ganzer Bus voller behinderter Idioten Lieder über die stinkende Scheiße trällert und fange an, heftig zu lachen. Rassel schaut mit einem breiten Grinsen zu, lässt mich eine Minute lachen, bevor er mir mit einer Armbewegung zu schweigen gebietet, damit Mark ungestört weitererzählen kann.

„Jedenfalls kriegen dieses Spastis alle ihren Anfall. Nur weil dieser Typ immer singen muss. Und wenn du ihm sagst >>Lass das!<<, dann grinst er dich nur dumm an und zeigt dir so, dass er überhaupt nicht versteht, was du von ihm willst. Dabei versteht er dich ganz, ganz genau. Das siehst du ihm nämlich an. Er tut auf unverständig und singt dann einfach weiter. Er macht sich über dich lustig, weil er weiß, dass er auf Grund seiner beschissenen Behinderung unantastbar ist. Ihre Behinderung auszunutzen, lernen diese Schweine relativ schnell. Er hat einfach Spaß daran gehabt, mich und die anderen Personen, die sich um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er ein menschenwürdiges Leben führen darf, zu ärgern. Einmal habe ich ihn von der Werkstatt abgeholt und da fing er schon vor dem Einsteigen an, seine dummen Lieder zu singen. Ich habe ihm gesagt, er solle aufhören, aber er lachte nur blöde und sang weiter. An der Mauer der Werkstatt lehnte ein Spaten. Nur zwei Meter von diesem Irren und mir entfernt. Ich stellte mir vor, wie ich mir den Spaten schnappte und ihn Roger über den Kopf zog. Ich stellte mir vor, wie ich ihn wieder und wieder auf seinen Schädel mit der Schaufel einprügelte, bis sein krankes Gehirn durch die Gegend spritzte. Ich musste mich für einen Augenblick wirklich zusammenreißen, nicht zum Spaten zu greifen.“

„Ja, ja“, sagt Rassel und zündet sich eine neue Marlboro an. „Das Gefühl kenn` ich, das Gefühl kenn` ich. Was meint ihr, wie oft schon jemand in die Bank kam, Kunden mit viel Geld, die meinen, die Welt gehöre deshalb ihnen, und den kleinen Angestellten wie ein Stück Scheiße behandeln. Wie ein Stück Eigentum. Einen kleinen Hund, den sie tanzen lassen können, wann immer sie es wollen, nur weil sie einen goldenen Löffel im Arsch stecken haben. Ich sage euch, ich habe auf der Arbeit in der Bank schon so oft Blut und Hirn vor meinem inneren Auge gesehen und mir gewünscht, endlich einmal meine innere Bestie von der Kette zu lassen. Und jetzt werdet euch bewusst, dass Opa Rainhard uns bei Försterfeld verpfiffen und damit ans Messer geliefert hat. Wäre er nicht gewesen, hätten wir den ganzen Mist danach nicht gehabt. Nur wegen diesem alten Säufer haben wir damals einen Riesenanschiss bekommen, nicht wahr?“

„Oh ja“, murmelt Mark vor sich hin. „Wie könnte ich das vergessen, verdammt noch mal.“

Sicher haben wir alle einen auf die Zwölf bekommen, als wir einst betrunken über Försterfelds Auto gelaufen sind. Der Schaden belief sich auf fast 3500 DM. Mein Vater und meine Mutter hielten mir einen endlosen Vortrag über die Dummheit, so etwas direkt vor der eigenen Haustür zu machen, dem doch eigentlich recht guten Verhältnis zu Herrn Försterfeld und seiner werten Gattin, aber der Schwerpunkt dieser Standpauke lag ganz klar auf dem Geld. Dreitausendfünfhundert geteilt durch drei waren knapp 1170 Mark, die ein Jeder von uns zu berappen hatte. Meine Eltern hatten das Ganze zunächst so geplant: Sie legten das Geld vor und gaben es Herrn Försterfeld, nachdem dieser die Rechnung der Werkstatt vorgelegt hatte. Sie kürzten mein Taschengeld auf zweihundert Mark herunter, so dass ich auf diese Art und Weise die Schadenssumme in einer Art von Raten an meine Eltern zurückzahlen sollte. Nach Abzahlung der Schuld würde mein Taschengeld wieder auf den alten Betrag ansteigen. Doch meine Eltern zeigten sich gnädig. Nach vier Monaten erließen sie mir die Restschuld und stockten das Taschengeld wieder auf und damit war die Sache für sie vom Tisch.

Mark traf der Zorn des Vaters und wer Oberstudienrat Wenzel kennt, der weiß, wie sehr er ausgerastet sein muss, als er erfuhr, dass sein damals siebzehnjähriger Sohn in eine Straftat verwickelt war. Denn nichts anderes stellte das mutwillige Beschädigen eines Kraftfahrzeuges für ihn dar. Unsere Aktion war in seinen Augen entsetzlicher Vandalismus, den Herr Oberstudienrat  Wenzel eher mit linken Autonomen, gelangweilten Asozialen oder trinkenden Arbeitslosen in Verbindung brachte als mit seinem eigen Fleisch und Blut, welches nun aber unleugbar in ein solch schreckliches Kapitalverbrechen verstrickt war. Dementsprechend fiel dann auch die von ihm verhängte Strafe über seinen Sohn aus. Ursprünglich sollte Mark Rassel und mich niemals wiedersehen, weil nur Rassel und ich die Urheber einer solchen Katastrophe gewesen sein konnten. Offiziell wurden es dann drei Monate, während denen Oberstudienrat Wenzel sein einziges Kind von uns fernhielt und ganz inoffiziell stahl Mark sich hier und da zu Faust und mir davon. Die Kohle, die seine Eltern an Försterfeld vorgestreckt hatten, musste Mark über zwei Jahre in Haushalt und Garten abarbeiten, wobei der Fokus klar auf dem Garten lag; Rasenmähen, Unkraut jäten, Gras aus Ritzen zwischen Bodenplatten kratzen, Laub zusammenkehren. Oberstudienrat Wenzels Garten hatte und hat stets penibel gepflegt ausschauen. Endlich schuftete Mark so viel, dass der Schaden, wenn man die Arbeitsstunde mit nur zwölf DM ansetzte, doppelt und dreifach abgearbeitet war. Wahrscheinlich hätte sich Mark von seinem Arbeitsaufwand einen gebrauchten Kleinwagen leisten können und trotzdem hat er in unserer Gegenwart nie gegen seinen Alten gemeckert und die Strafe ohne zu murren Stunde um Stunde abgeleistet.

Bei Rassel gab es niemanden, der ihm seinen Anteil an dem Schaden hätte vorschießen können. Er musste während zwei Schulferien in die Fabrik – er war ohnehin auf Schülerjobs angewiesen, um halbwegs vernünftig leben zu können und sah sich nun gezwungen, noch mehr seiner Freizeit für niedere Tätigkeiten zu opfern - und außerhalb der Ferienzeit an Freitagabenden für ein Subunternehmen in Supermärkten Inventuren durchführen, bis endlich die Kohle auf Jägertals Tisch lag. 

Während dieser Zeit des Zurückzahlens machte Oberstudienrat Wenzel keinen Hehl daraus, was er von einem Andre Faust und dessen sozialem Status hielt.

In einem Telefonat mit meinem Vater, wo es um die Regulierung des Schadens ging, zog er ganz offen vom Leder, während ich über den Lautsprecher mithörte.

„Der Umgang mit Ihrem Sohn ist für Mark bereits problematisch genug, ich sage nur: das Trinken und das Rauchen und kann nur hoffen, dass die nicht heimlich Marihuana oder noch Schlimmeres konsumieren. Aber der Umgang mit diesem Andre Faust setzt allem die Krone auf. Der kommt aus einer zerrissenen Familie aus den Hochhäusern. Das Scheitern solcher Menschen ist vorprogrammiert, Herr Doktor Twelker. Sie haben Freude daran, andere Menschen mit sich immer wieder hinab in den Sumpf zu ziehen, in dem sie gefangen sind. Und ein solcher Sumpf beheimatet dann eben auch Straftaten wie Vandalismus. Ich würde mir an Ihrer Stelle überlegen, ob Ihr Sohn diesen Faust weiterhin sehen darf. Ein schlechter Umgang für Kinder aus Familien wie den unsrigen.“

„Es war eher meine Idee, Papa“, sagte ich kleinlaut, nachdem das Gespräch beendet worden war. „Rassel hat eher mitgezogen.“

„Ich weiß. Dieser Wenzel ist doch das größte Arschloch mit Ohren hier in der Nachbarschaft. Natürlich kannst du dich weiterhin mit Andre treffen. In meinen Augen ist er ein anständiger Kerl, der seinen Weg fleißig geht. Vielleicht ist er ein wenig verrückt, doch unterm Strich geht er in Ordnung. Er kann nichts dafür, dass er in eine Familie mit einer depressiven Mutter und einem gestörten Vater geboren wurde, der Frau und Kind vernachlässigt. Du zahlst Mutter und mir das Geld zurück und dann vergessen wir die ganze Sache. Okay?“

Mein Vater war und ist echt in Ordnung.

Oberstudienrat Wenzel hingegen ließ Andre Faust ab diesem Tag seine ganze Abneigung und Geringschätzung spüren. Er grüßte ihn nicht mehr, wenn er ihn auf der Brackweder Hauptstraße traf und warf  ihm abwertende Blicke zu. Außerdem ließ er nicht davon ab, in seinem Bekanntenkreis jeden davor zu warnen, was für asoziale Subjekte Andre Faust und seine Familie doch darstellten.

Das, die harte Arbeit bei Thyssen im Walzwerk und das Zählen von Konservendosen an Freitagabenden, der schönsten Zeit der Woche für einen volljährigen Schüler wie ihn; Rassel hatte sicherlich am meisten unter den Folgen der Aktion mit Försterfelds Auto zu leiden.

Eine kleine Wolke verdeckt die Sonne über dem Steinbruch, worauf unser bequemer Baumstamm in Schatten fällt.

„Juckt es dich nicht, es diesem alten Schwein heimzuzahlen? Er hätte es wesentlich mehr verdient als deine Behinderten, gegenüber denen du diese extremen Gewaltfantasien hast. Dieser alte Säufer hat dich doch tausendmal mehr geschädigt als deine Pflegefälle, die auch noch ein geistiges Handicap mit sich herumtragen“, zischt Rassel wie die böse Schlange Edens und hat dabei Mark im Auge.

„Ähm...ja...nun...wo du es sagst. Aber eigentlich habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Du bist verrückt, Rassel.“

Mark schaut zur Seite, als könne er Andres Blick nicht standhalten. Andre Faust scheint diese Tatsache zu freuen.

„Dieser verfluchte alte Bastard. Wie sieht es in der Sache mit dir aus, Freund Jonas?“

„Es ist eine Sache, große Sprüche zu reißen, aber eine ganz andere, tatsächlich Taten folgen zu lassen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass keiner von uns in der Lage wäre, einen Menschen aus einem solchen Grund heraus zu ermorden. Das gilt auch für dich, Rassel. Stehst du erstmal dort im Wald vor Opa Rainhard, dann wird von deinen großen Reden nicht mehr viel über sein. Du wirst gar nichts unternehmen, ihm einen schönen Abend wünschen und nach Hause gehen.“

„Nun aus deinem Mund in mein Ohr. Wir werden es sehen, wir werden es sehen“, spricht Rassel gedehnt.

In der gleichen Nacht.

Ich liege wach. Ich denke nach.

Rassel ist tatsächlich ein Demagoge allererster Klasse, der mich immer mehr an Doktor Goebbels erinnert. Während ich mich in meinem Verlangen nach Schlaf hin und her wälze, geistern Bilder durch den Kopf, wie wir Opa Rainhard im Wald auflauern. Ich denke daran, meiner Wut, die sich über all die Zeit angestaut hat, ein Ventil zu geben. Niemals zuvor habe ich dergleichen in meinem Leben in die Praxis umgesetzt. Es gab niemals Schlägereien, keine Randale, sieht man von der lächerlichen Schnapsidee mit Försterfelds Auto ab, nicht mal Sportarten, welche verdeckte Aggressionen lindern können. Nie erhielten mein Ärger und meine Wut die Möglichkeit, zu entweichen. In jedem Menschen, und in uns Männern umso mehr, schlummert Gewalt, die einfach raus muss. Ich stelle mir vor, dass ich dem alten Trunkenbold die Visage zu Brei kicke und mich einfach fallenlasse und meiner Wut freien Lauf lasse.

Trotzdem werden wir es nicht tun und unter Garantie sieht Rassel diese Pläne hinter ernster Miene wohl eher scherzhaft. Seine Fantasie ist rege, das wissen wir alle, und er arbeitet mittlerweile fünfzehn von vierundzwanzig Stunden. Tagsüber steht er in der Bank und nach Feierabend wird bis in den späten Abend hinein für sein Fernstudium gelernt. Und das alles, man sollte es immer vor Augen haben, schafft Andre mit gerade dreiundzwanzig Jahren, wo andere seines Alters damit beginnen, mit bewusstseinserweiternden Drogen zu experimentieren oder sich überlegen, das Studienfach zu wechseln. Da muss man ihm zur Ablenkung doch seine Spinnereien lassen.

Zufrieden mit dieser Feststellung überkommt mich endlich der Schlaf.

Am nächsten Tag hängen dunkle Wolken tief über ganz Ostwestfalen, aus denen unablässig Nieselregen auf das Land hinabfällt.

Ich sitze vor meinem Nintendo, spiele International Superstar Soccer Deluxe auf dem kleineren meiner zwei TV-Geräte. Immer näher rückt das Datum der Einberufung. Es ist bereits so nahe, dass ich bald an meinen Händen die Tage abzählen kann und meine Gedanken nun immer häufiger um die Armee kreisen. Immerhin lenkt mich die diesjährige Fußballeuropameisterschaft in England ein klein wenig ab. Auch heute führt für mich kein Weg an dieser sportlichen Großveranstaltung vorbei. Gerade eben wurde in Nottingham um 17:30 Uhr das Spiel Kroatien gegen Portugal angepfiffen, welches über die Mattscheibe meines zweiten Fernsehgerätes flimmert.

Die virtuellen Kroaten hingegen fahren einen schönen Angriff über die rechte Seite und ihre einzige Sturmspitze markiert das 0:1 in der 65. Minute. Meinen Italiener rund um Roberto Baggio droht das Aus im Viertelfinale. Ich habe mich nicht richtig konzentriert und muss nun einem Rückstand hinterherlaufen.

„Verdammte Bundeswehr. Nur wegen dir hat Suker jetzt dieses Scheiß-Tor geschossen. Ich habe keine Böcke auf diesen Wichsladen!“

Kurz vor Ende der regulären Spielzeit macht mein grauhaariger Mittelstürmer den Ausgleich.

Just in diesem Moment klingelt es an der Haustür, so dass ich das Spiel auf Pause drücke und öffnen gehe.

Rassel steht unten.

Er trägt einen dunkelgrauen Anzug mit hellem Hemd und Krawatte und hält in beiden Händen mehrere Plastiktüten, deren Gewicht der kleine Mann kaum alleine tragen kann. Aus diesem Anblick lässt sich schlussfolgern, dass er nach der Arbeit zum Einkaufen ging, um sich anschließend direkt hierher zu begeben; untypisch, denn normalerweise stürzt er sich unter der Woche nach einer Stunde Ruhepause direkt in sein Fernstudium.

„Was machst du denn hier?“, frage ich.

„Ich spiele Eishockey mit der kanadischen Nationalmannschaft. Was glaubst du denn wohl“, kreischt Rassel und meint es nicht ganz so ernst. „Würdest du jetzt die Freundlichkeit besitzen, mir welche von den Tüten abzunehmen!“

In meinem Zimmer stellen wir die Armada an Plastiktüten vor die breit ausgebaute Fensterbank und anschließend hängt Rassel sein Jackett ordentlich über die Rückenlehne meines Bürostuhles. Er fängt an, in einer der Riesentüten zu wühlen und zieht einen gebrauchten, ausgeblichenen Parka heraus.

„Hier!“, sagt er und hält ihn mir direkt unter die Nase. „Davon habe ich drei Stück gekauft. Für jeden von uns einen. Bar bezahlt im Army–Discount.“

„Häh?“, antworte ich, obgleich es auf der Hand liegt, warum Rassel diesen Krempel hier angeschleppt hat.

„Die ziehen wir an. Am Samstag. Vielmehr Samstagnacht, wenn wir uns in den Wald schleichen, um mit Opa Rainhard abzurechnen.“

Ein kurzes Lachen bricht aus mir hervor.

„Du bist total verrückt. Du gehst in die Stadt und kaufst diese Dinger. Was hast du noch in diesen Tüten?“

Er grinst und langt in eine dunkelblaue Tragetasche mit dem Aufdruck Karstadt, um kurz darauf ein flaches in Plastik eingeschweißtes Etwas ans graue Tageslicht zu ziehen. Ich nehme es in die Hand, sehe es mir genauer an und erkenne, dass auf der Verpackung eine Frau abgebildet ist, die mit einer Plastikhaube auf dem Kopf unter der Brause steht.

„Duschhauben. Davon habe ich ebenfalls drei Stück besorgt. Damit der Hurensohn uns nicht an den Haaren ziehen kann und diese Haare unter seine Fingernägel gelangen“, erklärt Rassel.

„Meine Herren, meine Herren.“

Wieder ein raschelnder Griff in eine der Tüten und kurz darauf kommt ein verblichener gebrauchter Militärrucksack ans Tageslicht.

„Davon haben wir zwei. Damit wir uns in aller Ruhe umziehen können nach der Tat. Alle Sachen, die wir brauchen, werden locker hineingehen.“

Er wirft den Rucksack zu den Parkas und den Duschhauben auf die Fensterbank.

Als nächstes zeigt Rassel mir eine durchsichtige Plastikverpackung mit drei Teppichmessern darin.

„Die Dinger werden zwar schnell stumpf, aber bei der ersten Benutzung sind sie noch sauscharf. Und mehr als einmal werden sie so oder so nicht benutzt.“

Während Rassel die Messer zu den anderen Gegenständen auf die Fensterbank befördert und erneut in einer der Tüten zu wühlen anfängt, bin ich vollkommen sprachlos.

Andre hält einen Schraubendreher hoch, über dessen Spitze noch der Plastikschutz steckt.

„Eine wirkungsvolle Stichwaffe falls die Teppichmesser versagen oder um ihm einfach nur so einen zu verpassen.“

Nachdem Rassel den Schraubendreher ebenfalls auf der Fensterbank platziert hat, kramt er aus einer der Tüten einen Pappkarton hervor.

„Das sind Einweghandschuhe. Damit hinterlassen wir keine Fingerabdrücke. Wir haben in der Bank im Putzschrank mindestens zehn Kartons davon. Fällt keiner Sau auf, wenn da einer von fehlt, und schon gar nicht dem Putzpersonal, so saublöd wie die sind.“

Auch der Karton findet seinen Weg zu den anderen bereits ausgepackten Gegenständen. Es folgen zwei kleine, aber starke Sägen, ein Beil, drei gebrauchte Armeehemden und die dazugehörigen Hosen in Oliv, drei paar Turnschuhe einer No Name-Marke, eine Rolle schwarzer Müllsäcke, drei Klappspaten. Eine große Flasche türkisches Eau de Cologne sowie eine Familienpackung Feuchttücher kommentiert Rassel mit den Worten: „Damit wir uns, wenn der Job erledigt ist, frischmachen können. Zudem nehmen wir auch noch stilles Wasser in Plastikflaschen mit.“

Von allen diesen Gegenständen, die nun hier auf der Fensterbank liegen, behauptet Rassel, dass man ihren Kauf nicht rückverfolgen könne.

„Mann oh Mann“, murmele ich. „Du bist unglaublich, Andre. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Du meinst es doch nicht wirklich ernst oder?“

„Ich meine es todernst! Diesen Samstag, Jonas, im Wald. Nur Opa Rainhard und wir. Sei dabei oder geh kacken“, zischt Rassel.

„Was sagt Mark dazu?“

„Mit dem müssen wir noch reden. Glaub mir, er wird dabei sein. Ich kenne ihn. Er hat dieses brave Antlitz, aber in ihm brodelt es. Am besten, reden wir noch heute mit unserem guten Freund.“

Irgendwie schaffen wir es an jenem grauen Sommertag tatsächlich, Mark aus den Klauen von Sophia zu befreien. Der Regen hat aufgehört und Andre Faust schleppt uns in den Wald, wo er uns seinen Plan zur Beseitigung Opa Rainhards genauer erörtern möchte. Weil das Spiel bereits zur Pause zugunsten Portugals entschieden zu sein scheint, kann ich Rassel diesen Spaß gönnen. Aber warum Mark und ich diese Sache überhaupt ansatzweise mitmachen, darauf wissen wir beide wohl selbst keine genaue Antwort. Nachdem Mark die Gegenstände auf der Fensterbank betrachtet hatte, schüttelte er nur lächelnd den Kopf.

Voller Überzeugung denken sowohl Mark als auch meine Person, dass Andre Faust uns einfach nur eine gruselige Show bieten möchte, um sich von der Arbeit, beziehungsweise der ganzen Büffelei abzulenken und um endlich vielleicht auch mir ein Abschiedsgeschenk zu machen, bevor es für mich zu diesem Verein geht, der sich Bundeswehr schimpft.

Mitten im Wald stehen wir auf einem breiten ansteigenden Weg.

Linker Hand befindet sich das Hexenhaus, was eigentlich nichts weiter als der Überrest eines alten Bunkers ist; ein graues, moosbewachsenes Betonquadrat, etwa fünf Meter abseits des Weges, den Rassel nun hinauf zeigt.

„Von da oben wird er kommen. Voll wie eine Haubitze wird er also den Weg heruntergeschwankt kommen und völlig guter Dinge sein. Wir werden ihn ansprechen und der falsche Hund wird so tun, als freue er sich, uns zu sehen. Ihr beiden werdet ein wenig Smalltalk mit ihm führen und in der Zeit werde ich mich hinter ihn stellen, einen Knüppel, den ich noch aus einem schweren Schaufelstiel sägen werde, aus dem Rucksack nehmen und ihm eines über den Schädel ziehen. Dann werden wir ihn schnell knebeln und vom Weg zum Hexenhaus tragen. Kommt mit rüber.“

Wir folgen Rassel hinüber zum Hexenhaus.

Inzwischen ist die Sonne durch die Wolken und einige ihrer Strahlen durch die majestätischen Baumkronen gebrochen, so dass auf dem Waldboden dort und hier goldene Lichtflecken tanzen. Die Vögel scheinen auf einmal lauter zu singen, ganz so, als wollten sie dem Sonnenschein einen Willkommensgruß machen. Die Szenerie wirkt einfach nur traumhaft schön und steckt voller süßer, friedlicher Harmonie und selbst der Ansatz einer Gewaltphantasie wirkt hier vollkommen fehl am Platze.

Am Rande des dachlosen  Hexenhauses stehen wir nun und schauen über diesen etwa zweieinhalb Meter hinab. Im dicken Beton existiert unterhalb unseres Standpunktes eine Art Loch, durch welches man ins Innere gelangt. Der eigentliche Boden bleibt verborgen, denn er ist bedeckt von Ästen, dem Laub vieler Jahre, menschlichem Müll wie Plastiktüten, Glasflaschen und Aluminiumdosen, von denen einige bereits durchrostet sind. Der Geruch schimmeligem Holzes schlägt uns entgegen. Natürlich tun wir diese Beobachtungen erst, nachdem wir uns vergewissert haben, dass kein Spaziergänger in unserer Nähe flaniert. Rassel besteht auf diese „präventive Vorsichtsmaßnahme“, wie er sie nennt.

„Nachdem wir Opa Rainhard am Hexenhaus kalt gemacht und seinen Kadaver zerlegt und in die Plastiksäcke verpackt haben, werfen wir seine Überreste hier hinein, kriechen durch das Loch und verscharren sie unter dem Zeug dort unten. Glaubt mir, es wird dauern, bis irgendein Schwein seine dreckigen Überreste findet, sofern das überhaupt passiert“, legt Rassel uns dar.

Mark und ich schauen einander an.

Obgleich wir die Sache wohl noch immer für einen Spaß halten, sind wir fasziniert von der Genauigkeit und der Boshaftigkeit, mit welcher der kleine Andre Faust uns seinen Plan voller Eifer vorstellt. Vielleicht schleppt er uns diesen Samstag tatsächlich hierhin. Denn Samstag ist mein vorerst letzter Samstag als Zivilist und wir wollen, da kann könnte der Sturz eines Supermeteoriten auf die Erde unmittelbar bevorstehen, in jedem Fall meinen Ausstand feiern, wofür Mark sogar von seiner Herrin freibekommen hat. Rassel möchte uns und vor allem mir ganz großes Kino bieten, wozu er uns in den Wald schleppen wird und wenn Opa Rainhard auftaucht, ruft er Buh und dann unterhalten wir uns ein bisschen mit ihm, um anschließend in die Stadt oder zurück zu mir zu ziehen und weiter Party zu machen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass dem so ist, blicke zu Mark und nehme an, dass mein Freund diese Sache ebenso sieht.

Wir verlassen den Wald nach einem kleinen Spaziergang nahe der Hochhäuser.

Zwanzig Meter hinter dem Waldrand läuft uns ein alter Bekannter über den Weg; Sascha Quermann. Er hat ein Fernglas  um den Hals, ein Buch für Vogelkunde in der Hand und einen Rucksack auf dem Buckel.

„Na, Sascha, gehst du wieder Vögel beobachten?“, fragt Rassel.

„Ja“, antwortet Sascha Quermann knapp, sieht keinen von uns dabei an und verschwindet zügigen Schrittes im Wald.

Ich blicke ihm nach und schätze, dass ihm langsam klar geworden ist, wie mies wir ihn über all die Jahre behandelt haben. Weshalb sonst sollte er gerade so kurz angebunden gewesen sein?

Wir passieren den Schulhof, wo übrigens bereits seit dem letzten Jahr keiner mehr von uns hingeht, nicht einmal, um auf dem Tartanfeld vor den Fußball zu treten. Irgendwann entwächst man schlicht und einfach dem Alter, in dem es noch okay geht, seine Freizeit auf Schulhöfen zu verbringen. Das erkennt man auch daran, dass sich dort mittlerweile ein neue Generation an Kids tummelt, die andere Musik hört, andere Kleidung trägt und über ganz andere Themen in einem ganz anderen Stil redet.

Unterhalb des Schulhofes trennen wir uns für heute.

Mark stapft zu seiner Sophia, Rassel zu seinen Lehrbüchern und ich heim zu meinem Nintendo. Im Moment sind meine Gedanken mehr bei der Bundeswehr als bei dem von Andre Faust geplanten perfekten Verbrechen. Daran ändert sich auch nichts, als ich in mein Zimmer zurückkehre und all die Dinge sehe, die Rassel mit den Worten „die bleiben bis zu ihrem Gebrauch am Samstag hier“ auf der Fensterbank zurückgelassen hat. Obgleich ich Rassels großen Plan lediglich für einen Jux halte, mache ich mir erstaunlich große Mühe, all den Krempel in einem meiner Kleiderschränke unter reichlich Bettzeug zu verstecken.

Anschließend befreie ich das Videospiel von der Pause und Italien schlägt Kroatien in der Verlängerung endlich doch noch deutlich mit 3:1. Im Halbfinale dieser virtuellen Weltmeisterschaft warten die Argentinier.

Kapitel 26

(Bielefeld im Sommer 2008) „Wie konnten wir es nur tun? Wie konnten wir es nur tun?“, jammert Mark. „Wie konnten wir nur so blöd sein, verdammte Tat? Wie konnten wir nur so blöd sein? Warum haben wir es getan? Warum?“

Seine Stimme befindet sich hart an der Grenze zur Hysterie, denn er sieht seine Felle davon schwimmen, sieht die drohende Strafe, den Verlust seines Beamtenstatus, sieht das Entsetzen in den Augen seiner Ehegattin, wenn sie erfährt, was ihr geliebter, perfekter Ehemann und Vater ihrer Vorzeigekinder einst getan hat. Er sieht sie weglaufen mit den Zwillingen im Schlepptau, sieht seine ach so heile Welt in Trümmern liegen, sieht kalte, graue Gefängnismauern.

Während ihm Tränen in die Augen steigen und über seine Wangen laufen,  krallen sich seine manikürten Fingernägel in den feinen Stoff des weißen Sofas.

„Wir Idioten! Wir gottverdammten Idioten!“, seine Stimme hat die Grenze zur Hysterie nun deutlich überschritten. „Ihr Schweine! Nur wegen euch beiden ist das passiert! Ihr gottverdammten Schweine! Nur wegen euch! Nur wegen euch! Ihr Bastarde! Nur wegen euch! Nur wegen euch!“

Rassel steht langsam und in aller Ruhe auf.

„Ihr Bastarde! Nur wegen euch! Nur wegen euch!“

Er geht zu Mark hinüber und baut sich vor ihm auf.

„Mark, Junge, bleib ganz ruhig. Diese Tour nutzt jetzt keinem was.“

„Halts Maul, Andre! Es ist alles nur wegen dir geschehen! Du hast mich dazu angestiftet! Und Jonas! Du gehörst in den Knast und nicht ich! Ich gehe nicht für dich in den Bau! Ich gehe nicht für dich in den Bau!“, seine Stimme schraubt sich höher und höher. „Nicht für dich in den Bau! Nicht für dich in den Bau! Nicht für dich in den Bau!“

Rassel beugt sich leicht vor und knallt ihm eine; erst rechts, dann links. Von den tadellos weißen Wänden hallen die Backpfeifen wider.

„Reg dich ab, Mensch! Mit der Scheiße hier bringst du uns in keiner Weise weiter“, faucht Rassel.

Mark guckt schockiert, hört aber mit dem Geplärre auf. Er sagt nun nichts mehr, blickt lediglich geradeaus durch Rassel und die Wand hindurch in eine unendlich weite Ferne.

„Also Schluss jetzt mit solchen Aktionen!“, Andres Stimme klingt nun wesentlich sanfter. „Reden wir über diese Nacht. Fassen wir sie zusammen, um dahinter zu kommen, wer uns diesen Scheiß hier eingebrockt hat. Wer möchte anfangen?“
Keiner sagt was.

Ich spiele mit meiner leeren Flasche Herforder in der Hand und habe immer noch furchtbaren Durst auf was Alkoholisches.

„Okay. Dann fange ich an“, sagt Rassel schließlich. „Irgendwelche Einwände dagegen?“

Es gibt keinerlei Einwände, lediglich eine Frage meinerseits.

„Kann ich noch ein Bier haben?“

„Na klar. Hol dir, so viel du möchtest. Im Kühlschrank hinter der Bar.“

Ich stehe auf und schlendre hinter die Bar, öffne den großen sündhaft teuren Kühlschrank, dessen Innenraum mit Flaschen vollgestopft ist; westfälisches und lippisches Bier, Mineralwasser, Cola, Limonaden, Fruchtsäfte, Weißwein und Champagner der Marke Dom Perignon.

Plötzlich stelle ich mir Rassel als James Bond vor. Man sieht ihn durch den Lauf einer Pistole in einem seiner Anzüge aus der Savile Row.

„Dom Perignon, was. Wie James Bond 007“, scherze ich.

„Verdammt, Jonas! Bleib doch mal ernst!“, schimpft Mark.

Es ist das erste Mal seit den Ohrfeigen, dass etwas über seine Lippe kommt.

Zurück auf dem Sofa.

„Okay. Ich schildere jetzt in aller Ausführlichkeit, was sich damals ereignet hat. Sollten meinem Gedächtnis etwas entfallen sein, an das ihr euch erinnert, so ergänzt mich bitte“, beginnt Rassel seinen Vortrag.

Er referiert stehend. Während Andre spricht, fängt vor meinem inneren Auge ein gestochen scharfer Film zu laufen an.

 

Kapitel 27

(Bielefeld am 29. Juni 1996) An jenem Datum, der Nacht vor dem Finale der Fußballeuropameisterschaft, treffen wir uns bereits früh bei mir daheim in der Mansarde. Es ist der Abend meines Ausstandes aus dem zivilen Leben, den man eigentlich auch hätte im Pendel feiern können. Doch da gehen wir drei seit diesem Frühjahr nicht mehr hin, was weniger an der Kneipe selbst, als an den alten Bekannten liegt, die sich freitags und samstags dort wie eh und je einfinden. Es soll nicht arrogant klingen, allerdings haben wir eindeutig festgestellt, dass uns die Leute der alten Garde keinen Zentimeter im Leben voranbringen, da sie unübersehbar in ihrer geistigen Entwicklung stagnieren. Die von ihnen besprochenen Themen sind  immer die gleichen und selben und gleichen und selben. Alles dreht sich um Autos, Tuning und die Maloche. Mit dem Pendel ist es ähnlich wie mit dem Besuchen des Schulhofs. Manche Zeiten währen nicht ewig, gehen vorbei und mit ihnen schwinden alte Freunde und Bekannte.

Alkoholische Getränke habe ich reichlich besorgt. Mark, der als erster meiner zwei besten Freunde eintrifft, hat heute von Sophia tatsächlich soweit freibekommen, dass er offiziell feiern darf, bis der Arzt kommt.

Mit dem ersten Bier warten wir nicht auf Rassel.

Wir trinken, reden über alles Mögliche, nur nicht über Opa Rainhard. Mark hat sich bei einem Freund, der den Wehrdienst bereits seit zwei Jahren hinter sich hat, über Details aus der Soldatenwelt erkundigt und erzählt mir alle möglichen Horrorgeschichten über Dummfick der Vorgesetzten, Nächte ohne Schlaf und Schindereien unter Gasmasken. Grinsend macht Mark mich darauf aufmerksam, dass man auch nachträglich noch einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung stellen könne.

Es klingelt an der Tür.

Rassel erscheint und da fällt mir doch wieder ein, was heute für eine besondere Nacht sein soll; die Nacht der Abrechnung mit Opa Rainhard. Auf Rassels Kopf sitzt ziemlich schief ein rotes Barett. Nachdem er in der Mansarde angekommen ist und die Zimmertür hinter sich geschlossen hat, vollführt er einen Gruß, der nicht minder schief ist, als dass das Barett auf seinem Kopfe sitzt. „Herr Hauptmann, Schütze Twelker meldet sich zum Dienst. Darf ich ihren Offiziersarsch küssen und ihren Soldatenschwanz lecken?“, tönt er.

Wir alle lachen.

„Du hast eine ziemlich gute Laune dafür, dass doch heute die Nacht der Abrechnung sein soll. Eine todernste Sache also, Rassel“, kontere ich.

„Den Alten packen wir uns später. Dann wird es noch ernst genug werden. Doch nun ist der Abend noch jung. Erstmal wollen wir es richtig krachen lassen. Bier her!“, jubelt Rassel.

Ich lege Musik auf; Dire Straits.

Wir reden und lachen, ziehen über die alte Garde aus dem Pendel her, die wir intellektuell, das steht sicher fest, längst überholt haben. In deren Köpfen gibt es seit neustem nur noch Quads. Ein Quad ist ein Motorrad auf vier Rädern, welches man mit einem Führerschein der Klasse 3 fahren darf und ein solch unnützer Scheiß kostet dann knappe 14.000 Deutsche Mark. Wegen dieses Mistes haben Helge und Thomas, man muss sich derartig viel Idiotie vor Augen halten, tatsächlich Kredite aufgenommen. Bei Helge, der ohnehin nur mit dem Hirn eines Sonderschülers gesegnet wurde, war das abzusehen, doch bei Thomas überrascht eine solche Aktion schon wesentlich mehr. Nun ziehen sie sich an den Wochenenden im Pendel daran hoch, wie geil es doch sei, zu den Quadfahrern zu gehören, was für sie in ihrer ganzen primitiven Denkweise wohl eine Art Symbol für Männlichkeit darstellt. Sie hängen am Stammtisch, kippen sich Bier in die hohlen Köpfe und freuen sich wegen dieser Quad–Scheiße den Arsch ab, der allerdings voller Schulden hängt. All das wissen wir von Thomas Exfreundin Sandra. Weil diese junge Frau sich ebenfalls geistig weiterentwickelt hat und dieses dauerhaft flach bleibende Niveau nicht mehr ertrug, gab sie Thomas den Laufpass und bekräftigt somit unser Modell einer geistigen Überholspur.

Als es auf 23.00 Uhr zu geht, haben wir ein jeder an die drei Liter Herforder intus. Der Rauch in meinem Zimmer macht die Luft zum Zerschneiden dick, lässt sie eher einer viskosen Masse als einem Gasgemisch ähneln. Ich frage mich voller Bewunderung, wie Mark es auf die Kette bekommt, solche Mengen trinken zu können, ohne sich dabei wieder eine Zigarette anzuzünden zu müssen.  

„Es wird Zeit. Wir sollten uns auf den Weg machen. Auf zur Sparrenburg und von dort ab in den Wald“, sagt Rassel.

„Herrje. Du meinst es wirklich ernst oder?“, fragt Mark beinahe genervt klingend von diesem Thema.

„Wie oft soll ich es dir das noch sagen, dass ich es todernst meine. Kommt ihr jetzt mit? Sonst gehe ich allein und knöpfe mir den alten Hurensohn vor.“

Ich erhebe mich von der Fensterbank.

Mir ist bis zum heutigen Tag nicht klar, warum ich damals sagte, was ich sagte. Vielleicht weil ich Rassels Getöne noch immer für einen Scherz hielt, vielleicht, um ihm eine Art Gefallen zu tun, vielleicht, weil ich schlicht und einfach angetrunken war. Garantiert wählte ich meine Worte nicht in der Absicht, gleich ein bestialisches Gewaltverbrechen zu begehen.

„Okay. Dann gehen wir. Bringen wir Opa Rainhard um die Ecke und lassen ihn für seine Schuld bezahlen.“

„Ihr seid bescheuert. Total! Wollt ihr jetzt allen Ernstes durch den Wald schleichen, nur um einen alten Saufaus zu erschrecken?“, fragt Mark.

Genau wie ich hält er das Ganze für eine Art Abschiedsscherz, der sich an mich richtet.

„Na los, Mark. Tu Andre doch den Gefallen. Er will mir zum Ausstand aus dem Zivilleben eine gute Show bieten. Verderbe es ihm also bitte nicht.“

Mark stöhnt gedehnt, aber er steht aus dem Sessel auf.

„Na gut. Also gehen wir und machen einen Nachtspaziergang. Das soll ja immerhin gesund sein. Aber ein Bier wird man sich doch noch mitnehmen dürfen?“

„Na klaro“, antwortet Rassel und fängt an, die Armeekleidung zu verteilen.

„Packt eure normale Kleidung in diesen Rucksack hier mitsamt den Schuhen. Schließlich wollen wir ja noch feiern gehen, wenn die Rechnung beglichen ist“, erklärt Rassel mit leuchtenden Augen.

„Ach komm schon. Wer weiß, wer in diese Hosen schon alles reingefurzt hat“, stöhnt Mark.

„Mach es richtig oder lass es bleiben!“, zischt Andre seine Antwort.

Mark schaut etwas genervt. Doch endlich wechselt er wie wir alle seine Kleidung und streift auch die Turnschuhe ohne Namen über, die Rassel in den genau richtigen Größen gekauft hat.

„Parka und Duschhaube ziehen wir erst am Zielpunkt an. ` würde ja auch ein wenig Panne wirken, damit in der Bahn oder auf der Straße gesehen zu werden“, erklärt Rassel.

Zwanzig Minuten später sitzen wir unter Neonkunstlicht in einer Straßenbahn der Linie 1 in Richtung Schildesche mit Stationen in der Innenstadt.

Der Zug ist voller junger Menschen, die diese Nacht in der Bielefelder Innenstadt feiern und das Leben genießen wollen. Einige haben ähnliche Rucksäcke bei sich oder tragen Armeehosen und ich stelle mir die Frage, warum Menschen tatsächlich aus eigenen Stücken eine solche Pennerkleidung tragen.

Ausgemusterte Soldatenkleidung! Was läuft schief in diesem Land? 

Wir fallen also überhaupt nicht auf, sind lediglich ein kleiner Teil des Massengesichts.

Am Adenauer–Platz steigen wir aus und müssen einen steilen Berg hinauf zur Burg erklimmen, die dort oben von Scheinwerfern illuminiert über der Stadt thront. Um diesen hübschen Anblick zu genießen, haben wir keine Zeit. Rassel treibt uns über die Promenade in Richtung Wald davon. Ein Pärchen zieht engumschlungen an uns vorüber. Im Schutze der Nacht kann man nicht erkennen, ob sie jung oder alt, hässlich oder hübsch sind. Sie sind zwei Schatten, die so schnell wieder in der Nacht verschwinden, wie sie aus dieser auftauchten. Nach einer Weile weicht die gepflasterte Promenade erdigem Grund und die Grenze zum Wald ist überschritten.

Hier verflüchtigt sich mein Orientierungssinn, der doch eigentlich so gut funktioniert. Rassel hingegen scheint damit weniger Probleme zu haben. Ohne eine Lichtquelle, dem Einsatz von Taschenlampen hat er zunächst gnadenlos eine Absage erteilt, führt er uns voran, biegt links und rechts ab, tippelt geradeaus.

In einem Tal überqueren wir eine verwaiste Straße.

Wenn mich nicht alles täuscht, befinden wir uns nun wieder in Brackwede. Rassels Orientierungssinn muss phänomenal sein oder ist er in seiner Verrücktheit den Weg bei Nacht schon einmal abgegangen.

Wir steigen wieder einen Berg hinauf und kommen an eine Kleingolfanlage, die einsam und verlassen in der Dunkelheit liegt.

Ab hier kenne nun auch ich den Weg aus dem FF. Während der Marschzeit herrscht übrigens ein von Rassel angeordnetes Redeverbot und gesprochen werden darf nur das Nötigste und das am besten in Kurzform.

Es geht bergab und dann erreichen wir das Hexenhaus.

„So, halt! Genau hier warten wir!“, flüstert Rassel und blickt auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. „In etwa fünf Minuten macht die Spelunke in Gadderbaum dicht. Wir haben also noch reichlich Zeit. Los Mark, leg deinen Rucksack ab und verteil Parka, Einmalhandschuhe und Duschhauben!“

Mark tut, wie ihm geheißen wurde.

Ich ziehe die dicke Bundeswehrjacke über, bevor die Duschhaube über meinen Kopf wandert. In einer solchen Kleidung, in einer solchen Sommernacht, an einem solchen Ort komme ich mir schon ziemlich blöd vor, so blöd, dass ein herzliches Lachen aus mir hervorbricht.

„Psst!“, macht Rassel. „Leise Mensch!“

Mir gelingt es, das Lachen zu unterbinden und ich streife mir die Einmalhandschuhe über. Das Gummi fühlt sich widerwärtig auf meiner Haut an und mich überkommt das tiefe Verlangen, sie direkt wieder abzustreifen.

Sämtliche Gegenstände wie etwa die Umverpackung der Duschhauben wandern in die Rucksäcke zurück, wo auch die leeren Bierflaschen lagern, die wir auf unserem Wege leertranken. Anweisung von Rassel: Nur keinen Müll, äh, keine Spuren hinterlassen.

Schneller, als ich gedacht habe, sind wir fertig für das perfekte Jahrhundertverbrechen.

„Los, Rucksäcke aufnehmen! Wir warten hinter den Bäumen und Sträuchern am Wegesrand auf den alten Knacker“, erteilt Rassel weitere Anweisungen.

Da es nur zwei Rucksäcke sind, brauche ich keinen zu nehmen.

„Du wirst beim Bund noch genug schleppen müssen. Darum nehmen Mark und ich sie“, begründete er diesen Zustand, als wir noch daheim in meinem Zimmer saßen.

Der Weg wird verlassen, wir pirschen uns knirschend ins Unterholz.

„Los hinlegen!“, befiehlt Rassel. „Sollten andere Menschen als Opa Rainhard hier vorbeikommen, dürfen sie in keinem Fall bemerken, dass wir hier sind.“

Mark und ich tun Rassel auch diesen Gefallen und legen uns hinter einen Busch flach auf die Bäuche gleich Soldaten, die sich vor feindlichem MG-Feuer in Deckung bringen.

Zu warten, heißt es nun.

Wegen des Flackerns eines Feuerzeuges und des Glühens einer Zigarettenspitze hat Andre übrigens ein striktes Rauchverbot erlassen, was mir gerade gewaltig zu schaffen macht. Heldenhaft bekämpfe ich jedoch meine Sucht, wobei mir Rassel eine Hilfe ist, der ebenfalls nicht qualmt und was der als gnadenloser Kettenraucher schafft, schaffe ich doch schon lange.

Die Zeit verstreicht in einem nicht zu identifizierenden Tempo.

Alles wirkt plötzlich intensiver. Ich höre ganz genau, wie Mark sich seicht neben mir bewegt und ein Nachtvogel in der Ferne seine Geräusche ausstößt. Beim Hören dieser Laute geht mir nicht ganz unlogisch die Frage durch den Kopf, ob Sascha Quermann wohl in der Lage wäre, dieses Tier an Hand seiner Geräusche zu identifizieren. Eine ganz leichte Brise streicht durch die Baumkronen, lässt sie rascheln.

Ich komme mir auf einmal sehr komisch vor, so als stünde ich neben mir und beobachte eine andere Person, die in meinem eigenen Körper steckt.

Nun wird mir schlagartig bewusst, dass das hier nicht der harmlose Abschiedsspaß ist, den ich noch vor einer Minute erwartet habe. Dass diese Geschichte hier wird ganz, ganz übel ausgehen wird. Allerdings existiert da auch die Gewissheit, dass man die ganze Chose zu sofort beenden könnte. Niemand hält mich davon zurück, einfach aufzustehen und nach Hause zu gehen, morgen das Finale Deutschland gegen Tschechien zu schauen und endlich am Montag um 18:00 Uhr meinen Wehrdienst anzutreten. Rassel würde vielleicht keifen und zetern, mich einen Verräter und Kollegenschwein schimpfen, aber könnte – und würde es wahrscheinlich nicht mal versuchen -  er mich niemals dazu zwingen, hier mit ihm im Dreck liegenzubleiben.

Etwas, ich sehe es ganz genau, schwebt über dem Hexenhaus. In der Finsternis angedeutete Konturen bilden ein gehörntes Wesen mit menschlichem Oberkörper und dem Kopf eines Tieres, eines Ziegenbocks. Weil eine Fackel zwischen den zwei gebogenen Hörnern aus dem Kopf wächst und mit einem matten, grünlichen Feuer brennt, kann man diese Kreatur, die mich mit einer einladenden Geste seiner Hand zu sich zu rufen scheint, überhaupt erst sehen. Dunkelrot glühen seine zwei Augen dazu in der Finsternis.

Nachdem ich vor lauter Schreck zusammengezuckt bin und mir ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen ist, schließe ich meine Augen und zähle mit klopfendem Herzen und einem merkwürdigen Gefühl in der Magengegend stumm bis vier und als sich die Lider wieder öffnen, ist dort über dem Hexenhaus nichts weiter als schwarze Lichtlosigkeit.

Eine optische Täuschung und nichts weiter! Gerade an einer Stelle wie einem nächtlichen Wald kann das schnell passieren, mein Freund! Gerade wenn eine nicht unerhebliche Menge an Alkohol dabei im Spiel ist!  

Ein Licht, ein kleiner heller Kegel in der Finsternis, dieses mal äußerst real und keine optische Täuschung, tanzt auf der Kuppe des Weges, den wir vorhin hinunterstiegen. Opa Rainhard führt stets eine Taschenlampe mit sich, wenn er nach seinen Sauftouren durch den Wald nach Hause zurückgeht.

„Da ist er“, erklärt Rassel leise. „Los! Raus aus der Stellung!“

Er steht auf und tritt mitten auf den Waldweg. Mark und ich folgen ihm, wobei Mark nur zögerlich aus der Deckung kommt.

Wackelnd kommt Opa Rainhard näher. Er geht Schlangenlinien, was man unübersehbar deutlich am Lichtkegel der Taschenlampe erkennt, den er wie seinen Blick stur auf den Boden vor sich richtet. So bemerkt der alte Mann uns erst, als wir keine zwei Meter vor ihm stehen.

„Guten Abend, Opa Rainhard“, grüßt Andre Faust liebenswürdig.

„Wer...“, lallt der alten Mann und richtet seine Taschenlampe auf uns.

Langsam huscht der Schein über unsere Körper hinweg und Opa Rainhard erkennt uns der Reihe nach; zuerst den leicht vorne positionierten Rassel, dann mich und zuletzt Mark, der ein wenig, wenn man es so formulieren möchte, im Abseits steht.

Während er mir kurz ins Gesicht leuchtet, blinzele ich mit den Augen und bringe ein leises „Hallo, Opa Rainhard“ hervor. Mark hingegen nickt nur und sagt gar nichts.

„Ach, ihr seid es. Was macht ihr denn hier zu so später Stunde?“, er leuchtet uns noch mal kurz ab und fragt lallend: „Alles klar, Jungs? Wie seht ihr denn aus? Was habt ihr denn da auf den Köpfen?“

„Wir gehen auf eine Techno-Party in Gadderbaum. Da muss man ausgeflippt rumlaufen“, antwortet ihm Rassel freundlich.

„Na, für sowas bin ich wohl schon zu alt. Das verstehe ich einfach nicht mehr. Nun gut. Ich wünsche euch eine schöne Party. Ich muss jetzt heim, habe etwas zu viel getankt. Ihr wisst ja, wie das so ist“, lallt er.

Plötzlich geht alles ganz schnell, läuft in Lichtgeschwindigkeit und gleichzeitig in einer Superzeitlupe ab.

Woher der Schaufelstiel in Rassels Hand auf einmal kommt, vermag ich bis zum heutigen Tage nicht genau erklären. Wahrscheinlich hielt er ihn unter seinem Parka versteckt.

Von der Seite her kommend erwischt er Opa Rainhard voll am Kopf, worauf dieser recht laut aufstöhnt und wie ein nasser Kartoffelsack auf den Waldweg plumpst.

„Du alter Bastard!“, zischt Rassel.

Ich bin vollkommen unfähig mich zu bewegen oder etwas zu denken und glotze hinab, wo sich Opa Rainhard, schemenhaft zu erkennen, stöhnend auf dem Waldweg windet. Rassel beugt sich leicht vor und verpasst ihm den nächsten Knüppelhieb auf den Kopf, der klingt, als schlage man mit dem Griff eines Buttermessers gegen eine reife Wassermelone.

„Du alter Bastard!“, faucht Andre erneut.

Opa Rainhard liegt nun still dort vor uns.

Rassel geht in die Knie und fasst das Opfer mit seiner von Gummi behandschuhten Hand an den Hals, was ihn absurderweise mit eben diesen Einmalhandschuhen wie einen Ersthelfers am Ort eines Unfalls wirken lässt.

„Keine Sorge. Der alte Knacker ist noch putzmunter. Los! Schaffen wir ihn vom Weg und bringen ihn rüber zum Hexenhaus. Dort geben wir ihm den Rest.“

Mark und ich rühren uns nicht.

Ich komme mir original wie in einem Kinofilm vor. Ich bin der Zuschauer und betrachte das Geschehen eines spannenden Psychothrillers mit gruseligen Elementen auf einer Leinwand. Fast kann ich dabei den Projektor rattern hören.

„Na los! Schleppen wir den Alten hier weg!“, wiederholt Rassel sich energischer.

„Du hast es wirklich getan“, bricht Mark leise sein Schweigen. „Du hast ihn wirklich niedergeschlagen. Oh mein Gott!“

„Was meinst du denn, warum wir hier sind. Wir haben das doch alles genaustens abgesprochen. Und jetzt helft mit, den Alten zum Hexenhaus zu schleppen!“, keift Rassel leise.

„Ich dachte, du machst nur Spaß“, spricht Mark ebenfalls leise. „Ich habe gedacht, alles wäre nur Spaß.“

„Jetzt spiel nicht den Dummkopf, Mann!“, zischt Andre. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich den ganzen Krempel hier gekauft und angeschleppt hätte, das alles geplant hätte, wenn ich zum Scherzen aufgelegt wäre. Und nun fass mit an, Mensch!“

„Ich bin ` s nicht gewesen“, flüstert Mark. Du warst es! Ich habe nichts gemacht! Ich werde jetzt einfach nach Hause gehen und...“

„Das glaubst du vielleicht“, raunt Rassel. „Der Alte hat uns alle drei gesehen. Und so stark, dass er sich nicht erinnert, war der Schlag vor den Kopf auch nicht. Wenn wir jetzt gehen und Opa Rainhard zu sich kommt, wird er schon noch wissen, was abgelaufen ist. Was willst du machen, wenn sie dich fragen, warum du in diesem Outfit mit uns durch den Wald gelaufen bist? Wegen einer Technofete? Wohl kaum. Gut, ich alleine habe zugeschlagen. Also wird es mir nicht mehr drauf ankommen, was ich alles erzähle. Dann bist du wegen Beihilfe zur schweren Körperverletzung dran. Vielleicht auch wegen versuchten Mordes. Und mich daran gehindert, das hast du ebenfalls nicht. Nicht mal im Ansatz, mein feiner Freund. Auch das erfüllt den Straftatbestand. Weißt du, was das heißt? Beamtenkarriere ade! Auf Nimmerwiedersehen! Und was meinst du, was dein gnädiger Herr Vater dazu sagen wird? Oder noch besser, deine süße Sophia?“

Andre Faust erscheint es sehr wichtig, bei seinem letzten Satz eine besondere Betonung auf den Namen von Marks Freundin zu legen.

„Ich war es nicht! Ich war es nicht!“, jammert Mark.

„Rassel hat Recht“, erkläre ich. „Wir hängen da jetzt mit drinnen. Wir haben bis hier mitgemacht und jetzt gibt es kein Zurück mehr. Also fass mit an, Mark!“

Es scheint, dass ich meine Worte nicht selbst wählen würde, als täte das irgendwer anderes, nur nicht ein Jonas Albrecht Twelker, geboren am 06. August 1975 in Bielefeld-Brackwede.

„Da siehst du es. Auf Jonas kann man sich verlassen“, raunt Andre Faust.

Rassel packt Opa Rainhards Arme und ich greife nach dessen rechtem Bein.

„Nimm das andere Bein, Mark! Hilf uns endlich!“, befehle ich oder irgendwer.

Mark brummelt etwas Unverständliches leise vor sich hin, aber er kommt herüber und fasst mit an. Wir schleppen Opa Rainhard vom Weg zum Hexenhaus hinüber und legen ihn in einer Senke nahe des Lochs im Beton ab.

Rassel greift in den Rucksack und holt den Knebel hervor, den er nach eigener Angabe daheim an seinem Schreibtisch angefertigt habe. 

„Was machst du?“, fragt Mark leise, aber schrill klingend.

„Ich knebele ihn, damit wir ihn in aller Ruhe kaltmachen können, ohne dass seine Schreie uns verraten“, erklärt Andre Faust so sachlich, als lese er aus der Bedienungsanleitung für eine Küchenmaschine vor.

Während Rassel das Lederband des Knebels hinter Opa Rainhards Kopf zuzieht, kommt dieser langsam zu sich.

Rassel greift erneut in den Armeerucksack. Der Schraubenzieher kommt zum Vorschein. Opa Rainhard registriert seine Situation und  beginnt zu zappeln und fängt hinter dem Knebel an, unidentifizierbare Laute von sich zu geben; seltsame, gedämpfte Geräusche der puren, ungefilterten Furcht.

Rassel holt weit aus und rammt das Werkzeug Opa Rainhard in den Bauch. Es tut ein schmatzendes Geräusch, das mich irrerweise an Geschlechtsverkehr denken lässt. Der alte Mann bäumt sich auf, aber der Knebel erfüllt seinen Zweck und erstickt den Schrei und wir bekommen nur ersticktes Gewürge zu hören.

Rassel reißt den Schraubenzieher aus dem Körper und sticht erneut zu, wobei seine Bewegungen in der Dunkelheit roboterhaft kontrolliert wirken. Ich kann Andres Gesicht nicht wirklich erkennen und wüsste nur zu gerne, was ihm jetzt durch den Kopf geht. Rassel belässt das Werkzeug einen Augenblick in Opa Rainhards Bauch und fixiert dessen sich windenden Körper mit seinem rechten Knie auf dem Waldboden, so dass er in Seelenruhe den Schraubendreher aus der Wunde ziehen kann. Nachdem Faust sich aufgerichtet hat, dreht er sich mechanisch auf der Stelle, um mir im Anschluss das Werkzeug mit dem Griff voran unter die Nase zu halten.

„Los, Jonas, it ´ s your turn!“, sagt er klar und ruhig.

Traumgleich greife ich nach dem Plastikgriff, der sich sehr, sehr merkwürdig durch das Gummi des Handschuhs und sehr, sehr schwer, als wöge er etliche Kilos, anfühlt. Für einen Moment geht mir der unerklärliche Gedanke durch den Kopf, einen Gegenstand in der Hand zu halten, welcher ganz sicher nicht von dieser Welt stammt. Auf dem Metall haftet etwas Schwarzes und ich weiß nur zu genau, dass es Menschenblut ist.

Ganz langsam nähere ich mich Opa Rainhard.

Endlos kommen mir die wenigen Meter vor, so als befände ich mich auf einer Reise durch die Weiten des Sonnensystems; unterwegs von der Erde zu den eiskalten Objekten des Kuipergürtels. Irgendwer steuert mich dabei fern, lenkt Jonas Twelker von einem entfernten geheimen Ort aus, der vielleicht nicht in dieser Galaxie, diesem Universum, sondern weit darüber hinaus entfernt liegt.

Das bin nicht ich. Das kann unmöglich ich sein. Oder vielleicht doch?!

Ich beuge mich hinab, hole weit aus, steche zu und ramme das Werkzeug in Opa Rainhards Bauchgegend. Als das spitze Metall durch den Stoff des Hemdes und des Fleisches darunter in die Eingeweide dringt, tut es ein erneut schmatzendes Geräusch und wieder muss ich an eine Vagina denken, die heftig von einem Penis genommen wird. Vor Qualen zuckt der alte Körper auf dem Waldboden zusammen.

Das Gefühl ist überwältigend. Adrenalin schießt durch meine Adern und mein Gehirn, durchflutet mich von den Zehennägeln bis hinauf in die Haarspitzen unter der Duschhaube.  Die Macht, die ich jetzt gerade verspüre, hat grenzenlose Größe, lässt sich in keine Worte fassen, bildet einen eigenen Kosmos.

Ich bin der Herr über Leben und Tod! Ich darf Gott spielen!

Opa Rainhard würgt heiser hinter dem Knebel.

„Halt ´ s Maul, Scheißkopf!“, zische ich und trete ihm mit dem rechten Fuß vor die Brust, um direkt im Anschluss erneut mit voller Gewalt in Bauch und Gedärme zu stechen.

Das helle Hemd des alten Mannes färbt sich peu a peu schwarz.

Thomas Harris schrieb in seinem Buch Roter Drache, dass Blut im Nachtlicht tiefschwarz wirke.

Ich merke, dass ich eine Erektion habe. Mir geht es wunderbar, unbeschreiblich.

Ich reiße, wobei ich mir fast auf die Zunge beiße, den Schraubendreher aus der Wunde und will einen erneuten Stich landen, da hält Rassel mich zurück, in dem er nach meinem Arm greift.

„Halte ein, Kamerad!“, befiehlt er freundlich. „Lass noch was für unseren Freund über!“

Rassel deutet mit dem Daumen der freien Hand auf Mark, der etwa zwei Meter starr abseits steht. Man kann gerade noch erkennen, dass er beide Hände vor den Mund geschlagen hat. In dieser Geste und besonders mit den Einweghandschuhen ähnelt er einem Chirurgen, der eine Operation versaubeutelt hat und endlich erkennt, dass es keine Möglichkeit mehr gibt, den Patienten zu retten.

„Genau. Jetzt bist du dran“, jubele ich in meiner Erregung euphorisch.

„Ich...ich...ich...“, stottert Mark.

„Komm schon! Zeig ` s ihm!“, befiehlt Rassel freudig.

„Nein...nein...bitte...nein...“

„Na los, du Pfeife! Du hängst da mit drinnen. Also zeig uns, dass du kein Waschlappen bist!“, sage ich kichernd.

Mark kommt langsam näher. Er zittert am ganzen Körper.

„Nimm das Ding und stich zu!“, zische ich und halte Mark den Schraubenzieher unter die Nase.

Mark steht neben uns, macht aber noch immer keine Anstalten, es Opa Rainhard zu zeigen.

„Na los, Mann! Schwing den Arsch, Keule! Zeig uns, was in dir steckt! Lass dem inneren Tier freien Lauf!“, redet Rassel ihm gut zu.

Noch immer halte ich Mark den Schraubenzieher unter die Nase und noch immer zeigt der keine Reaktion.

„Komm schon! Tu es!“, flüstere ich sanft.

Langsam, als liefe auf einmal alles wieder in Superzeitlupe ab, greift Mark nach dem Werkzeug, welches nach der Übergabe in seiner Hand stark zittert. Schwerfällig geht er ein paar Schritte, beugt sich nicht minder schwerfällig zu Opa Rainhard herab und holt langsam aus, als sei sein Arm mit Gewichten belastet. Dann sticht der zukünftige höhere Finanzbeamte Mark Wenzel zu und treibt den Schraubendreher ins Bein; nicht besonders hart, jedoch stark genug, dass das Werkzeug stecken bleibt. Opa Rainhard zuckt und krümmt sich, greift automatisch nach dem Gegenstand in seinem Körper. Rassel tritt Opa Rainhards Hand beiseite und faucht: „Los, Mark! Jetzt nimm das Teil und ramm es ihm richtig in die Wampe! Du sollst ihm nicht ins Beinchen pieken!“

Mark zieht das Werkzeug aus dem Oberschenkel und sticht drei oder vier Mal auf Opa Rainhards Bauch ein, wobei er längst nicht soviel Kraft aufwendet wie Rassel oder ich zuvor. Schließlich lässt er den Schraubendreher neben dem alten Körper auf den Boden fallen und tritt ein paar Schritte zurück.

„Mark, jetzt nimm das Scheißteil und zeig es dem alten Hurensohn richtig! Du stichst ja lascher zu als meine Großmutter. Bist ` ein Mädchen oder was?“, spreche ich hämisch.

„Ach, lass ihn!“, sagt Andre, während er im Rucksack wühlt und die Packung mit den drei Teppichmessern herausnimmt. „Komm Jonas, geben wir es dem alten Knacker richtig!“

Rassel reißt die Plastikverpackung auf und reicht mir eines der Messer, bei denen man die Klinge mit einem seitlichen Schieber aus dem Plastikblock herausrattern lassen kann.

Diesen Arbeitsschritt vollführt Rassel lange vor mir.

Er nimmt sich Opa Rainhards Gesicht an, schneidet tief in dessen rechte Wange, wobei ein langer, gerader Schnitt entsteht; ein Schmiss, worauf manch schlagender Student stolz wäre.

Opa Rainhard würgt hinter dem Knebel und zappelt, wobei es jedoch nicht mehr zu übersehen ist, dass seine Bewegungen bereits deutlich an Kraft eingebüßt haben. Ein brutaler Handkantenschlag von Rassel auf dessen Hals lässt all das wieder ersterben.

Währenddessen schneide ich Opa Rainhards linken Hemdsärmel auseinander.

Schräg, nachdem der Stoff entfernt wurde, dringt meine Klinge in seinen Arm ein, so tief, bis der Knochen ein Weitereindringen unmöglich macht. Also ziehe ich das Messer nach unten hin, was ziemlich schwer vonstattengeht, da Muskeln und Gewebe recht zäh sind, und die Klinge endlich abbricht.

Unser Opfer zittert in Todesqualen, was mich kurz an die Kriegszitterer des I. Weltkrieges denken lässt, die ich einst in einer Dokumentation sah.

„Rassel, was für einen Schrott hast du da gekauft?", frage ich oder irgendwer mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

In Opa Rainhards Nase führt Rassel die Klinge ein und zerschneidet ihm die Nasenwand.

„Das habe ich in dem Film China Town gesehen und wollte sowas immer schon in Echt machen", erklärt Andre dämonisch grinsend.

Opa Rainhard bäumt sich ganz schwach auf. Wäre der Knebel nicht, der Wald würde wahrscheinlich von kläglichem Gewimmer erfüllt werden, weil meinem Nachbarn zum Schreien bereits die Kraft fehlt. Rassel schlägt Opa Rainhard volles Pfund mit der Faust auf die Nase und jault kurz auf, schüttelt seine rechte Hand und zischt: „Verdammte Arschgeburt! Was hast du für eine Fresse? Meine arme Hand! Das wirst du Hurensohn mir büßen!“

Er macht sich an Opa Rainhards Jeans zu schaffen, öffnet den Gürtel.

„Ich werde die Sau kastrieren! Meine arme Hand! Das wird er mir büßen!“

Ich lache kurz und zerschneide Opa Rainhard die andere Gesichtshälfte, wobei der Schnitt sich vom Auge bis hinab zum Halse zieht.

Ich bin total im Rausch, nehme nichts mehr außer der geilen Gewalt wahr, habe den Tunnelblick des totalen Mordrausches, könnte vor Hochgefühl in die höchsten Sphären mühelos hinaufschweben.

Das ist das reine Glück! Jetzt weißt du, wie es sich anfühlt! Sei stolz, Freund Twelker! Nur ganz wenige Menschen kennen es!

Rassel hat den Gürtel und die Hose geöffnet und zieht nun unter einigen Mühen die Jeans herunter. Die Unterhose, ein weißer Liebestöter, wird von ihm mit wenigen Bewegungen sauber zerschnitten. Schlaff und verschrumpelt hängt das Glied auf den Waldboden hinab, bevor Rassel dessen Spitze mit der linken Hand ergreift und es brutal stramm zieht.

Opa Rainhard versucht die letzten Kraftreserven zu mobilisieren und windet sich panisch in dem Bewusstsein dessen, was nun Unbeschreibliches mit ihm geschieht. Jedoch stellt auch dieses Winden mehr ein Zittern dar.

Mit beiden Händen und aller Kraft drücke ich seinen Kopf förmlich in den Waldboden hinein.

„Keine Angst. Es macht doch nur schnipp“, kichere ich.

Rassel schneidet Opa Rainhard den Penis und die Hoden direkt am Ansatz ab, wofür er nur wenige Schnitte benötigt. Noch einmal windet sich unser Opfer in seinen Teufelsqualen. Noch einmal tut er den letzten verzweifelten Versuch des Aufbäumens, welcher einhergeht mit einem unmöglich zu beschreibenden Geräusch hinter dem Knebel. Endlich erlöst das Koma Opa Rainhard von seinen Schmerzen und er bleibt reglos liegen.

Rassel erhebt sich langsam und hält triumphierend seine blutige Trophäe hoch.

„Oh mein Gott!“, jammert Mark leise. „Was tut ihr da?“

Wieder hat er beide Handflächen vors Gesicht geschlagen, aber Rassel und ich nehmen ihn kaum wahr.

„Der ist platt! Alle!“, gibt Rassel mir zu verstehen und legt Penis und Hoden auf Opa Rainhards Brust. „Schneiden wir ihm die Kehle durch und verklappen ihn.“

Rassel hat es kaum ausgesprochen, da zieht er schon das Teppichmesser quer über Opa Rainhards Hals. Ein tiefer Schnitt entsteht, der bald stark zu bluten anfängt.

Apropos Blut; es ist überall, Opa Rainhards Hemd ist damit getränkt, sein Körper badet förmlich darin, es klebt überall auf unseren Klamotten und dem Waldboden.

„Das wars, Alter!“, sagt Rassel ganz ruhig und steht langsam auf. „Na los! Entsorgen wir den Alten und machen uns vom Acker.“

Aus dem Rucksack holt er das Beil, die zwei Sägen und die Müllbeutel aus schwarzem Plastik.

„Ich trenne zunächst den Kopf ab. Jonas, du sägst ihm danach die Arme ab und Mark, du fängst mit dem rechten Bein an und ich übernehme das linke. Wer zuerst fertig ist, unterstützt die anderen. Aber erst kriegt der Alte die Rübe ab."

Rassel hebt das Beil, holt hoch über seinen gnomenhaften Kopf aus. Die Klinge saust hinab und trifft den Hals der Leiche. Es benötigt fünf oder sechs kräftige, maschinenhaft ausgeführte Hiebe, bis der Schädel vom Rumpf abgetrennt ist. Rassel fasst den Kopf bei den wenigen Haaren, hält ihn, so wie einst die französischen Revolutionäre die Häupter der guillotinierten Adeligen dem nach Gerechtigkeit schmachtenden Volke präsentierten. Anschließend legt er Opa Rainhards Kopf etwas oberhalb der Leiche ab und fängt an, diese zu umschreiten, wobei er Arme und Beine der Leiche bewegt, sie penibel auszurichten scheint, als folge er irgendeinem Scheme.

„Was machst du da, verdammte Tat?", frage ich leise.

Er hat einen fünfzackigen Stern gelegt oder, wenn man es anders bezeichnen will, ein Pentagramm. Sieh doch, Freund Twelker, sogar in der Dunkelheit kannst du es erkennen. Der Kopf oben ist die hohe Spitze, die zwei horizontal ausgerichteten Arme bilde jene der Seiten und die zwei Beine, die Rassel V-förmig angeordnet hat, symbolisieren jene Zacken, die bei einem Pentagramm  nach unten zeigen. Oder nach oben, je nachdem wie man es sehen möchte. Es ist immer nur eine Frage der Perspektive. Aber dir, Freund Twelker, der nichts weiter liest als seine Formatlehrbücher und ein paar Durchschnittsromane, brauche ich nicht mit Symbolen wie dem Pentagramm zu kommen.

„Ich mache nur ein wenig moderne Kunst", antwortet Rassel freundlich und sehr entspannt. „Aber jetzt hat es sich für mich ausgekünstelt. Die Zeit drängt. Wir werden jetzt genauso verfahren, wie ich das vorhin gesagt habe. Also auf, auf!"

Meine Person, oder wer auch immer, hat die Säge schon ergriffen und macht sich daran den Arm abzusägen, während Rassel das Beil wieder aufgenommen hat und sich am linken Bein zu schaffen macht. Mark steht immer noch wie angewurzelt dort und hat die Hände vor den Mund geschlagen.

„Nimm die Säge und fang an, Mann! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit“, faucht Rassel. „Alles muss jetzt Hand in Hand gehen.“

Mark bewegt sich noch immer nicht, sondern murmelt lediglich etwas vor sich hin. Es könnte durchaus sein, dass er betet.

Rassel lässt sein Beil auf den erdigen Waldboden plumpsen, geht zu Mark herüber und knallt ihm die flache Hand ins Gesicht. Der Gummihandschuh ist so voller Blut, das ein Teil davon schwärzlich auf Marks Wange haften bleibt. Dann packt er Mark am Kragen des Parkas.

„So! Du gehst jetzt dort rüber und fasst mit an! Wir brauchen dich. Also reiß dich endlich am Riemen!“, schnauzt er leise, aber deutlich.

Er zieht Mark mit sich zu dem Toten und drückt ihm die zweite Säge in die Hand.

„Jetzt fang endlich zu sägen an!“, mault er.

Mark steht einfach nur dort, hält die Säge, die heftig hin und her zittert, und macht keine Anstalten, Rassels Befehl in die Tat umzusetzen.

„Ja, Mark! Fang an! Tu es! Trenn ihm sein Scheiß–Bein ab! Wir sind auf dich angewiesen“, gebe ich meinen Senf dazu und versuche gutmütig dabei zu klingen.

Mir wird erst sehr viel später bewusst, dass Mark in dieser Nacht unter Schock stand. Etwas Unverständliches murmelnd geht Mark neben Opa Rainhards Leiche auf die Knie und fängt mechanisch langsam an, an dem Oberschenkel des Toten herumzusägen.

„Na also. Es geht doch. Los, Jonas. Fang auch du an!“, sagt Rassel ruhig.

Ich nehme mir den linken Arm zuerst vor und säge ihn, als sei er ein Stück Kantholz und merke, dass Knochen zu durchtrennen ganz gehörig anstrengt.

Während ich meine schwere kraftzehrende Arbeit ausführe, lassen mich der in meinem Körper kreisende Alkohol und das ausgeschüttete Adrenalin die Strapazen recht gut ertragen.

Als der Job getan ist, packe ich den Arm in einen der Müllbeutel und mache mich daran, Opa Rainhards zweite Gliedmaße abzusägen, während Rassel Mark zur Hand geht, der noch immer vollkommen apathisch an dem Bein herumwerkelt.

„Jetzt schau mal, wie man so eine Arbeit richtig ausführt!“, spricht Rassel und beginnt, wie der berühmte Berserker auf das andere Bein einzuhieben. Die Arbeit dauert wesentlich länger, als das beim Kopf der Fall war, und Rassels Atemzügen gleichen dabei dem Schnaufen einer Dampflokomotive.

Inzwischen bin ich mit dem zweiten Arm durch.

Rassel hat den apathischen Mark beiseite gedrängt, um sich um das letzte verbliebene Glied an Opa Rainhards Körper zu kümmern.

Endlich sind sämtliche Teile der Leiche im schwarzen Plastik verpackt.

„Los, verklappen wir den Scheißkopf im Hexenhaus!“, befiehlt Andre Faust.

Wir verscharren die Müllsäcke etwa einen Meter tief unter Laub, Geäst, Erde und Unrat des alten Bunkers, wobei die Klappspaten zum Einsatz kommen und ausgezeichnete Dienste leisten.

Nachdem alles erledigt ist, greift Rassel nach der Taschenlampe, deren Besitzer bereits tot und begraben ist, und leuchtet von oben in das Hexenhaus hinab. Ich stehe neben ihm und meine Augen folgen dem Lichtstrahl.

Mark hält sich derzeit im Abseits auf. Beim Graben half er mechanisch wirkend mit. Jetzt hat er sich wohl endgültig ausgeklinkt.

„Perfekt! Alles schaut aus wie zuvor. Man müsste schon ganz genau hinschauen, um zu sehen, dass hier gegraben worden ist. Eine sehr gute Arbeit“, lobt Andre Faust.

Anschließend leuchtet Rassel kurz zum Platz des Verbrechens hinüber. Die Erde schwimmt und klumpt vor Blut. Mit den Füßen verteilen wir Laub und frische Erde darüber, was raschelnde, schmirgelnde Geräusche erzeugt.

„Bei Sonnenaufgang ist das Blut eh nicht mehr zu sehen“, erklärt Rassel. „Los, packen wir zusammen, ziehen uns um und machen uns sauber!“

Wir schlagen uns hinter die Büsche.

Alles, was mit der Tat zu tun hat, wandert in die Rucksäcke. Wir reinigen uns mit Feuchttüchern und Wasser aus Plastikflaschen, reiben uns mit dem türkischen Eau de Cologne ein und schlüpfen anschließend in unsere Stadtklamotten. Gelegentlich blitzt die Taschenlampe kurz auf, um den Fortschritt der Transformation zu kontrollieren. Nachdem alles getan wurde, brechen wir in aller Ruhe vom Tatort auf.

Rassel bleibt plötzlich stehen, dreht sich um und starrt den Weg hinab in die Dunkelheit.

Er flüstert: „Ist da was?“

„Wo?“, frage ich ganz leise.

„Den Weg da runter. Wenn man Richtung Spielstraße geht.“

Er zeigt mit seinem dünnen Arm in die Finsternis.

„Nein...bitte...“, stöhnt Mark.

„Ich glaube, da ist nichts“, sage ich, könnte es aber nicht hundertprozentig schwören.

Bewegt sich weiter den Weg hinab jemand in der tiefsten Nacht? Ein menschliches Wesen vielleicht oder der Satan, der sich vom Tatort hinfortstiehlt?

Ich zucke heftig über diese Gedanken zusammen.

Wir stehen alle in einer Reihe und starren gebannt in die Nacht hinein.

„Ach was! Da war und ist bestimmt nichts. ` habe mich wahrscheinlich nur getäuscht. Das kann des nachts schon mal passieren. Oder es war nur ein Tier. Ein Fuchs oder ein Vogel, der über den Weg gegangen ist. Kommt, Jungs, kratzen wir die Kurve!“, sagt Rassel bemüht lässig, doch Überzeugung in der Stimme klingt anders.

Synchron drehen wir uns um und gehen weiter, ohne noch einen Blick zurück zum Weg oder Tatort zu werfen.

Als wir die Straße erreichen, die den Teutoburger Wald in einem Tal teilt, und diese passieren, ohne dabei ein Auto gesehen zu haben, erfolgt der letzte Teil der Transformation, indem wir das Schuhwerk wechseln.

Wortlos stapfen wir weiter durch den Wald und erreichen schließlich wieder die Promenade nahe der Burg, auf der selbstverständlich keine Seele mehr unterwegs ist.

Wir kommen an einem Ausflugslokal vorbei, vor dessen Toren ein großer, schwarzer Müllcontainer einsam in der Nacht steht.

Schnell streift Rassel OP-Handschuhe über und öffnet den Abfallbehälter. Bis fast zum Rand türmen sich Plastikmülltüten voller Speiseresten, Zigarettenkippen und klumpigem Kaffeesatz. Er wühlt einige der Tüten beiseite und vergräbt den Rucksack mit den blutigen Klamotten, den erdrückendsten Beweisstücken, tief unter ihnen.
Wir lassen das Lokal hinter uns und steigen in die leuchtende Stadt hinab.

Die ersten Menschen begegnen uns auf der breiten Detmolder Straße in Gestalt von vier betrunkenen Männer, die schief ein Fußballlied grölen, welches sich eindeutig auf das Halbfinale am vergangenen Mittwoch bezieht. Sie würdigen uns keines Blickes.

„Schade England! Alles ist vorbei! Alles ist vorbei! Alles ist vorbei! Schade England! Alles ist vorbei! Alles ist vorbei! Alles ist vorbei!“, tönt es im Takte von Yellow Submarine, um sich bald in dieser Sommernacht zu verlieren.

Über Seitenstraßen ziehen wir am städtischen Krankenhaus, ein hoher Turm aus Stahl, Beton und Glas in der Dunkelheit, vorbei in Richtung PC69.

In einem Gully verklappt Rassel die Allzweckmesser. Er lässt sie grinsend zwischen die Metallstreben fallen und wir hören sie plumpsend ins Wasser der Kanalisation eintauchen. Zweihundert Meter weiter und in einer anderen Querstraße verschwindet die Axt in einem Siel.

 An verschiedenen Mülltonnen, die überall vor den Häusern an den Straßen stehen, werden die Sägen, Klappspaten und die Schuhe entsorgt. Rassel vergräbt sie tief unter dem Unrat der Zivilisation. Bevor Andre eine der Mülltonnen berührt, zieht er sich stets Einmalhandschuhe an und putzt über die zu entsorgenden Gegenstände mit einem Feuchttuch. Am Montag wird die Müllabfuhr den ganzen Dreck dann nach Heepen in die Verbrennungsanlage karren.

Kurz vor unserem Zielort wird der letzte Rucksack, dessen Inhalt lediglich noch aus den leeren Bier- und Wasserflaschen, sowie dem Karton mit den Einmalhandschuhen besteht, in einer schwarzen Tonne vergraben und verklappt. Nun sind alle Beweise von uns gewichen.

Fünf Minuten später stehen wir vor der großen, flachen Halle, die das PC69 beheimatet.

Die Stunde ist bereits derart fortgeschritten, dass Eintritt nicht mehr bezahlt werden muss, aber drinnen steppt noch der Bär.

Menschen zwischen achtzehn und dreißig zappeln schwitzend auf der Tanzfläche zu den Beats von The Writings On The Wall, frisch gefundene Paare knutschen in den zahllosen dunklen Ecken und Winkeln, machen sich heiß für das noch Kommende. Einige verstrahlte, schwer angeschlagene Gäste sitzen auf den Barhockern oder einfach nur auf dem Boden, haben die Hände vor ihre Gesichter geschlagen und versuchen, wieder klarzukommen, kämpfen einen verzweifelten Kampf gegen den Cocktail aus Alkohol und Drogen in ihrer benebelten Gehirnmasse. Über all dem hängt ein schwerer Schleier aus Zigarettenrauch, der Duft von ranzigem Bier und Menschenschweiß, während die Lautstärke nur knapp unterhalb der absoluten Schmerzgrenze liegt.

Unser erster Weg führt zu einer der Bars.

Beim Bestellen spricht Mark die ersten Worte, seit wir vom Tatort aufgebrochen sind, in dem er Whiskey-Cola ordert und reicht der jungen Dame hinter der Theke mechanisch einen Zwanzigmarkschein. Im schummrigen Licht der Diskothek scheint all das Engelhafte von ihm gewichen und er selbst um Jahre gealtert.

In Rekordtempo kippt er sich zwei dieser Drinks, bevor er das leere Longdrinkglas auf den Tresen knallt.

„Ich geh ` tanzen“, sagt er, ohne einen von uns dabei anzusehen.

Mark verschwindet rasch zwischen den anderen Körpern auf der vollen Tanzfläche.

Rassel sieht nicht besser oder schlechter aus, als an all den Tagen dieses Jahres zuvor und trägt ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Entschlossen nimmt er sein Bierglas in die Hand.

„Ich gehe mal ` ne Runde und schaue, was hier noch so an weiblichen Mitmenschen rumläuft. Kommst du mit?“

Ich verneine knapp, worauf Rassel verschwindet und mich allein an der Bar zurücklässt.

Und plötzlich schlägt es mit einer solchen Wucht in meinem Schädel ein, dass es mich beinahe vom Stuhl haut.

Was haben wir getan! Was habe ich getan! Die Sache wird früher oder später ans Licht kommen! Ich werde für den Rest meines Lebens in den Knast wandern oder in der Irrenanstalt für geisteskranke Straftäter landen! Aus die Maus und aus auch das schöne Leben! Keine Bundeswehr, keine Universitätsausbildung danach mit dem schönen Sein eines Studenten! Fünf Quadratmeter Zelle und unter der Dusche eine Horde tätowierter Schwerverbrecher, die dich in deinen schönen Arsch ficken wollen, Freund Twelker!

Ich springe von meinem Barhocker, spurte um zwei, drei Ecken und eine Treppe hinunter, weil sich im PC69 die Gästetoiletten im Keller befinden.

Ob sich jemand in dem WC-Bereich aufhält, kann man in meiner Lage unmöglich sagen. Gerade noch rechtzeitig poltere ich in eine der Kabinen und knalle die Tür hinter mir ins Schloss. Über die versiffte Schüssel gekrümmt, erbreche ich Schleim, Alkohol und Galle. Mir kommt es vor, an all dem Schleim, der sich plötzlich in meinem Magen, der Luft- und der Speiseröhre befindet, zu ersticken. Es sind brutale Würgevorgänge von Nöten, um meinem Körper von diesem Berg an Sekreten zu befreien, damit ich weiter zum Atmen fähig bin.

Opa Rainhard atmet gar nicht mehr, mein Bester!

Immer heftiger werden meine Würgeanstalten und nachdem der gesamte Mageninhalt in und auf die Toilette erbrochen wurde, bin ich ein Wrack. Mir ist eiskalt, Schüttelfrost peinigt mich, alle meine Gliedmaßen zittern sichtbar.

Nach zehn Minuten Gezittere auf dem Boden neben der Toilette stolpere ich aus der Kabine und wanke zu einem der Waschbecken.

Obgleich sich einiges in mir dagegen sträubt, fällt mein Blick in den Spiegel. Der mich draus anblickt, hat, es muss ehrlich gesagt werden, lediglich noch Ähnlichkeit mit einem Zombie oder einem schwerkranken Mann; die Haut schimmert käsig weiß, eine Schweißschicht bedeckt sie und den ganzen übrigen Körper, die Augen sind vom Erbrechen brutal gerötet und tiefschwarze Ringe untermalen sie.

Ich werfe mir Wasser ins Gesicht, was leider nicht viel an diesem Bild des Jammers verändert, und kehre an die Bar zurück.

Rassel sitzt in aller Ruhe dort und hat sich ein neues Bier, ein Hefeweizen, bestellt. Mark zappelt noch immer auf der Tanzfläche umher. Da es sich inzwischen ganz entschieden geleert hat, kann man ihn jetzt deutlich dabei beobachten, wie er sich zu den Klängen von Depeche Modes Behind The Wheel bewegt.

Als Rassel mich nahen sieht, grinst er mich breit an.

„Du siehst scheiße aus“, erklärt er mir lachend.

„Lass mich bloß in Ruhe!“, lautet meine Antwort.

Rassel beugt sich zu mir herüber und flüstert mir mit einer Verschwörerstimme ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen! Ist doch alles okay gegangen. Niemals wird uns jemals auf die Sache ansprechen. Ehrenwort.“

Darauf entgegne ich nichts, sondern ordere lieber einen Bacardi–Cola. Der DJ spielt Friday I ` m In Love von The Cure und Mark tanzt dazu, als befände er sich im Wahn. Sein Replay–Hemd klebt ihm auf dem Leib und er scheint alles um sich herum nicht mehr wahrzunehmen mit Ausnahme der aus den Boxen hämmernden Musik.

Ich stürze den Bacardi–Cola auf ex und bestellte direkt den nächsten.

Die Angestellte guckt mich an, als wolle sie sagen „so wie du aussiehst, bekommst du von mir keinen Tropfen mehr“, aber natürlich schüttet sie nach. Egal, ob ein Mensch kurz vor der Alkoholvergiftung steht, wenn die Türsteher ihn reinlassen und er zudem Zahlungskraft besitzt, dann darf er im PC69 nach Herzenslust weitersaufen.

Ich kippe den zweiten Drink.

Auf den völlig leeren Magen und den bereits vorhandenen Blutalkoholspiegel kommt das echt hart. Ich ordere und bekomme den dritten Bacardi–Cola. Rassel nippt an seinem Bier und blickt dabei auf die Ansammlung von Flaschen hinter der Theke, so als überlege er in Seelenruhe, welchen Drink er sich als nächstes gönnen wolle. Ich habe schon wieder ausgetrunken und langsam lähmt die Masse des Alkohols meine Ängste, die aber nach dem Schlafen irgendwann am frühen Abend doppelt so hart zurückkehren werden. Trotzdem steht nun ein vierter Longdrink vor mir auf der Theke.

Mark, mit dem sich höchstens noch ein halbes Dutzend Menschen auf der Tanzfläche befinden, zappelt sich weiter einen ab. Er befindet sich in diesen Momenten sicherlich ganz woanders und wahrscheinlich ist das seine Art, das Geschehene und die möglichen Folgen dessen vorübergehend zu verdrängen.

Einem Hammer gleich schlägt der Rum in meinem Kopf ein. Trotzdem exe ich auch das nächste Glas.

Was dann noch passiert, hat sich verloren.

Die Erinnerungen setzen erst fragmentarisch wieder ein, während wir drei uns in einem Taxi befinden. Mark und ich sitzen hinten. Er ist vollkommen ausgepumpt, platt und weggetreten, sagt kein Wort, starrt nur geradeaus auf die Lehne des Fahrersitzes.

„Er hat solange getanzt, bis ein Türsteher ihm sagen musste, dass Schluss für heute ist. ` wollte einfach nicht runter von der Tanzfläche. Gut, dass er keinen Kreislaufkollaps bekommen hat“, erklärt Rassel mir.

Es ist nur dieser eine Augenblick, der von einer Taxifahrt durch die halbe Stadt zurück nach Brackwede in meinem Gedächtnis übrig geblieben ist.

Sehr ausführlich hingegen erinnere ich mich an die Sache mit Opa Rainhard, als ich am Sonntag um 17:15 Uhr in meinem Zimmer erwache und nicht mehr genau weiß, wie ich dorthin gekommen bin und wer das Taxi bezahlt hat.

Kapitel 28

(Bielefeld im Sommer 2008) „Ihr seid ausgerastet und habt es dem Alten gezeigt, verdammte Tat! Und das kann man auch auf der CD hören. Ich stecke da nicht richtig mit drinnen. Ich habe Opa Rainhard nur gepiekt. Ich gehe nicht für was ins Gefängnis, das ich nicht getan habe.“

Marks Stimme klingt fruchtbar weinerlich.

„Mark, darum geht es nicht. Du warst dabei, du hast zugestochen, du hast mitgeholfen, den Alten zu zerstückeln und zu verklappen. Du hast es nicht verhindert oder gar die Polizei gerufen. Auch das geht alles aus den Aufnahmen von der Disk hervor. Selbst wenn du beweisen könntest, dass deine Stechaktionen nicht unmittelbar zum Tode von Opa Rainhard geführt haben, so reicht alleine aus, dass du Mittäter gewesen bist, um dein Leben auch nach all den Jahren noch gänzlich zu zerstören. Denn alles, was mit Mord zu tun hat, verjährt nicht“, erklärt Rassel ruhig.

Mark schlägt die Hände vors Gesicht und beginnt, bitterlich zu weinen.

„Aber“, fährt Rassel fort und legt Mark väterlich den Arm um die Schulter, „wir brauchen überhaupt keine Sorgen zu haben, wenn wir jetzt schlicht und einfach einen kühlen Kopf bewahren.  Also tun wir erstmal Folgendes: Stellen wir uns jetzt vor, wer uns bei der Sache gesehen und belauscht haben könnte. Wer hat diese Schreiben verfasst und die Rohlinge gebrannt? Wer kam nach all der Zeit auf den Gedanken, uns endlich doch zu erpressen? Warum das Ganze?“

Mark hört langsam auf mit dem Schluchzen. Seine geröteten Augen starren ins Leere. Er überlegt. Wir überlegen alle auf unsere eigene Art und Weise.

Während Mark einfach nur da sitzt und ich meine leere Bierflasche zwischen den Handflächen drehe, geht unser Gastgeber auf und ab in seinem luxuriösen Wohnzimmer. Unsere arbeitenden Gehirne scheinen in der Luft ein elektrisches Knistern zu verursachen.

„Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich nicht. ` bin auch im Moment nicht in der Lage, richtig nachzudenken“, antwortet Mark mit matter Stimme.

„Jonas, was meinst du?“

„Ich habe mir lange den Kopf zerbrochen. Auch schon, bevor wir uns hier getroffen haben. Ich schließe mich Mark an. Keine Ahnung, kein Plan! Vor allem warum der Typ erst jetzt aus seiner Deckung tritt, will nicht so ganz in meinen Kopf. Vielleicht hat er es auf dein Geld abgesehen“, lautet meine Antwort.

Darauf herrscht Schweigen, bis Mark die Frage stellt: „Was meinst du, Andre, wer steckt deiner Meinung nach dahinter?“

Rassel steht langsam auf und geht zur Bar, wo er wie aus dem Nichts ein goldenes Etui herbeizaubert, diesem eine Zigarette entnimmt, welche komisch aussieht, weil sie einen goldenen Filter hat und in schwarzem Papier eingeschlagen ist. Rassel entzündet die Zigarette mit einem Feuerzeug aus Platin, um genüsslich den Rauch mit geschlossenen Augen zu inhalieren, bevor er ihn in kleinen Wolkenschüben auspustet, die Augen wieder öffnet und spricht: „Quermann! Es ist Sascha Quermann!“

Mark und ich starren ihn mit offenen Mündern an.

„Wie?“, frage ich, als hätte ich seine Aussage nicht verstanden.

„Es ist Sascha Quermann. Ganz einfach, ganz logisch“, wiederholt Rassel das eben Gesagte.

„Warum Quermann? Und warum erst nach all den Jahren?“, hakt Mark, der inzwischen aufgestanden ist, schwer gereizt nach.

„Immer mit der Ruhe. Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Alles...“

„Immer mit der Ruhe?“, unterbricht Mark Rassel. „Langsam? Du bist gut. Du...“

„Setz dich wieder hin!“, faucht Rassel und Mark hört augenblicklich mit dem Sprechen auf, worauf Andre wieder einen sanfteren Tonfall wählt. „Niemand wird in den Bau gehen. Das verspreche ich hoch und heilig. Gib mir eine Weile Redezeit. Danach wird einiges klarer sein. Geht das okay, Mark?“

Mark nickt nur und setzt sich wieder hin.
„Also, mir war doch in jener Nacht, als hätte ich etwas auf dem Weg gesehen, eine Art Bewegung oder so", greift Faust das leidige Thema wieder auf. „Damals waren wir uns nicht sicher, ob da tatsächlich was war oder auch nicht. Heute wissen wir, dass wir uns getäuscht haben. Da war also jemand und dieser jemand kann mit ziemlicher Sicherheit nur Sascha Quermann gewesen sein. Wir wissen, dass er häufig in den Wald gegangen ist, um Vögel zu beobachten und andere Tiere. Das hat er uns höchstpersönlich selbst erzählt, als wir kurz vor der Tat unseren Testrundgang gemacht haben. Warum sollte er zufällig nicht diese Nacht im Wald gewesen sein, um nachtaktive Tiere zu beobachten oder etwas in dieser Richtung. Und wir wissen außerdem, dass er ein Richtmikrofon besessen hat, um damit Vogelstimmen aufzuzeichnen. Das hat er Mark damals erzählt, als er ihn zufällig in der Stadt getroffen hat und Quermann gerade auf dem Weg war, sich den Bastelsatz dafür zu besorgen.  Wahrscheinlich hat er damals die ganze Chose auf Band aufgenommen und es kürzlich dann einfach digitalisiert und auf CD gebrannt. Das ist doch heute alles gar kein Problem. Mit den PCs und Programmen, die aktuell auf dem Markt sind, schafft selbst ein Sascha Quermann das. Fragen bis hier her?“

„Ich meine, du hast mir damals was von der Sache mit dem Richtmikrofon erzählt. Das war in der Nähe vom Conrad in der Marktpassage“, sage ich gedankenverloren und eher zu mir selbst.

Mark spricht hingegen wesentlich entschlossener, hat klar an Fassung zurückgewonnen.

 „Gut, du hast eine alte Aussage, wo Quermann zu mir gesagt hat, er wolle oder habe sich ein Richtmikrofon gekauft, um damit Vogelstimmen aufzunehmen. Aber was beweist das? Vielleicht hat Quermann mir ja was vom Pferd erzählt und er hat niemals so ein Teil besessen. Und selbst wenn er es geschafft hat, was ich doch arg bezweifele, das Richtmikrofon zusammenzubauen, ist das noch immer kein Beweis dafür, dass er ausgerechnet in dieser Nacht ausgerechnet an diesem Ort gewesen ist. Du hast nur eine nicht ganz unlogische Vermutung, aber keine Beweise. Nicht mal ansatzweise hast du die.“

Nur auf eine solche Aussage scheint Andre Faust gewartet zu haben.

„Oh doch, mein Freund, die habe ich.“

Er drückt seine komische Zigarette in einem Kristallaschenbecher auf dem Tresen der Mahagoni Bar aus und geht quer durch den Raum zu einem Regal. Auf einer der Reihen von Platten und CDs liegt ein dünner violetter Pappordner, den Rassel ergreift und mit ihm in der Hand zum Sofa hinüberkommt. Er setzt sich hin, öffnet den Ordner und legt ein Dina4–Blatt vor uns auf den Sofatisch.

„Beweisstück a. Ein hinlänglich bekanntes Erpresserschreiben in Blockbuchstaben verfasst. Und nun seht mal her.“

Wieder wandert seine Hand in den Ordner und zieht ein weiteres Dina4–Blatt hervor, welches er genau neben dem Erpresserschreiben ausrichtet. Es handelt sich um den jämmerlichen Versuch einer Geschichte, die Quermann vor so vielen Jahren zu schreiben versuchte und die wir damals zwischen seinen kläglichen Resten im Sperrmüll vor dem Apartmenthaus fanden.

„Vergleicht die Buchstaben! Die Größe und ihre Art. Es sind die gleichen. Sie stammen von ein und demselben Verfasser. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Sie stammen von Sascha Quermann“, erklärt Andre Faust.

Gebannt blicken wir auf das, was vor uns liegt.

 Ich bin vollkommen sprachlos. Mark nimmt die von Rechtschreibfehlern wimmelnde Geschichte und hält sie sich direkt vor die blauen Augen, so als könne er das alles ganz und gar nicht glauben.

„Du hast sie behalten“, sagt er verständnislos. „Du hast sie über all die Jahre behalten. Warum?“

„Nun, sie hat mich immer an früher, an die schönen Zeiten mit euch erinnert. Ich hatte sie im Keller gehabt. Nachdem ich das Schreiben und die CD bekommen hatte, habe ich es lange und intensiv unter die Lupe genommen. Und je länger ich auf dieses Schreiben starrte, je mehr kamen mir diese Blockbuchstaben bekannt vor. Dann fiel mir, ich hatte sie lange vergessen, diese Geschichte wieder ein. Also bin ich in den Keller runter und habe sie gesucht. Das hat Stunden gedauert, aber ich fand sie tatsächlich wieder hinter einem Stapel Aktenordnern aus der Gründungszeit meiner Firma. Ich legte sie nebeneinander und Bingo, ein klarer Fall.“

„Es sind Blockbuchstaben“, sagt Mark nüchtern. „Die ähneln einander immer. Woher willst du wissen, ob sie tatsächlich von ein und derselben Person stammen?“

„Ich gebe zu, dass es aus Blockbuchstaben wirklich schwer ist, hundertprozentige Klarheit zu erhalten. Also habe ich die Schreiben einer Privatdetektei, die einen Experten für Schriftanalysen in ihren Reihen hat, vorgelegt. Dazu muss noch gesagt werden, dass dieser Experte weltweit als erstklassig gilt.“

Ich schlage die Hände vor das Gesicht.

Nein! Das kann Rassel unmöglich getan haben. So saublöde ist er nicht.

Mark fällt fast von seiner Sitzgelegenheit.

„Du hast das Erpresserschreiben einem Detektiv gezeigt!“, brüllt Mark, dessen Gesicht knallrot lodert. „Wie blöd bist du eigentlich? Dann hättest du auch gleich zu den Bullen rennen können und alles gestehen.“

Rassel legt den Zeigefinger auf die Lippen und macht: „Psst!“

Mark möchte eigentlich noch etwas sagen, aber er schweigt artig.

„Natürlich habe ich weder das Schreiben noch die Geschichte einem Detektiv vorgelegt, sondern nur einzelne Wörter daraus. Ich habe es auf dem besten Farbkopierer meiner Firma fotokopiert und die einzelnen Wörter ausgeschnitten. Das habe ich in der Detektei vorgelegt. Aber auch wenn ich ihm das Original gezeigt hätte, wäre aus dieser Kanzlei nichts nach außen gesickert. Sie gehört zu einer  Sozietät von Anwälten, die meine Firma bereits seit langem vertritt. Sie ist eine der besten Kanzleien in ganz Deutschland. Die dazugehörige Detektei arbeitet stellenweise mit verschwörerischen Methoden weit jenseits von geltendem Recht. Diskretion wird da größer geschrieben als bei den Nachrichtendiensten. Kein Wort dringt von dort nach außen. Schon gar nicht über zahlungskräftige Klienten. Also lasst Ruhe einkehren und entspannt euch.“

„Und dieser Schriftexperte hat dir bestätigt, dass die Blockbuchstaben von ein und derselben Person stammen?“, frage ich.

„Das hat er eindeutig. Es bestehen überhaupt keine Zweifel. Der Verfasser dieses Erpresserbriefs ist Sascha Quermann. Hundertprozentig und Punkt.“

Jetzt herrscht Schweigen.

Ich stehe auf, gehe hinter die Bar und besorge mir noch ein Herforder Pils.

„Warum tut er das nach all den Jahren?“, fragt Mark. „Warum hat er uns nicht damals schon ans Messer geliefert?“

Rassel greift auch diese Frage geduldig auf.

„Ich denke, es verhält sich so: Quermann ist nach allgemeinen Maßstäben bemessen zwar blöde, jedoch verfügt er über eine bestimmte Bauernschläue. Er hat schön abgewartet, hat mal geschaut, was so alles aus uns wird. Er braucht heute nur noch ins Internet zu schauen und ein wenig recherieren und sieht schon unsere Namen auf der Seite des Finanzamtes oder der Universität Bonn oder im Impressum meiner Firma. Und siehe da, schon weiß der Idiot, dass wir alle es zu etwas gebracht haben und somit auch ein gutes Leben ohne finanzielle Sorgen führen müssen. Quermann will nun seinen Teil von einem solchen Leben abhaben.“

„Du meinst, er will Geld“, bringe ich es auf den Punkt.

„Das ist offensichtlich. Ich habe die Detektei, von der ich bereits erzählt habe, beauftragt, ein wenig über das aktuelle Leben eines Sascha Quermanns herauszubekommen. ` hat nicht länger als zwei Tage gedauert und ich hatte meine Informationen. Quermann ist ein Sozialfall. Er lebt von Hartz IV in einem schäbigen Apartment in Heepen. Ein für ihn hoher Schuldenberg hat sich aufgetürmt, das meiste davon bei fraglichen Kreditinstituten. Er sammelt Pfandflaschen und -dosen, um besser über die Runden zu kommen.“

„Warum fordert er dann nicht sofort Geld, wo es ihm doch ach so dreckig geht? Warum diese Spielchen?“, frage ich.    

„Weil er seinen Triumph auskosten und sich nebenbei an uns rächen will“, antwortet Rassel wie aus der Pistole geschossen. „Sich rächen für all die Demütigungen von damals. Endlich einmal ist er am Drücker. Endlich einmal hat er Macht in seinen kümmerlichen Händen. Dieses Gefühl will er auskosten. Er will uns quälen, bevor er irgendwelche Forderungen stellt.“

Alles klingt sauber und unendlich logisch.

Vor meinem inneren Auge tauchen Bilder längst vergangener Tage auf; ich mit dem Butterfly-Messer vor ihm tanzend, nachdem ich ihm den Ball in die Visage geknüppelt hatte, Rassel, der den am Boden liegenden Quermann ins Gesicht spuckte, nachdem Sven Vogel ihm die Eier zu Mus getreten hatte, wie wir alle ihn auslachten.

„Du meine Güte!“, sage ich schließlich. „Was wollen wir jetzt tun?“

„Wir sollten erstmal abwarten, was passiert“, schlägt Mark vor. „Er hat doch in seinem Schreiben angekündigt, dass er sich wieder melden will. Wir sollten warten, bis er das tut und dann...“

„Und dann was?“, faucht Rassel dazwischen. „Ihn bezahlen? Und hoffen, dass er alles vergisst? Dieser Arsch wird weitere Forderungen stellen und uns quälen, quälen, quälen und nochmals quälen.“

„Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun?“, frage ich und füge nicht ganz ernst an: „Uns für alles entschuldigen?“

„Wir sollten handeln. Das Heft in die Hand nehmen und handeln. Ich habe da jemanden an der Hand, der das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen kann“, erklärt Rassel dermaßen ruhig, als erörtere er, was zu beachten ist, wenn man ein Girokonto zu eröffnen gedenkt. 

Synchron fallen mir und Mark die Kinnladen herunter.

„Du willst einen Killer anheuern. Du willst einen Killer anheuern, der Quermann aus dem Weg räumt“, bringt Mark es nach einer Minute Schweigen auf den Punkt.

„Genau. Und das besser gestern als wie heute. Er nimmt Quermann das belastende Material ab und danach: Kurzen Prozess! Kurz und schmerzlos.“

„Du bist übergeschnappt!“, schimpft Mark. „Vollkommen! Du willst Sascha Quermann umbringen lassen. Einfach mal so, als gingst du in den Supermarkt, um Zwiebelsuppe aus der Tüte zu kaufen. Ich fasse es nicht! Ich kann es einfach nicht fassen!“

Als er wieder spricht, klingt Rassels Stimme sehr freundlich.

„Mark, ich bin mehrfacher Millionär. Wenn man soviel Geld hat, dann ist es so einfach wie Zwiebelsuppe zu kaufen, einen Menschen umbringen zu lassen. Gerade so einen wie Quermann, der überhaupt nichts, aber auch rein gar nichts darstellt. Geld regiert die Welt. Mit Geld ist alles möglich.“

Mark schüttelt den Kopf. Er lacht, das erste Lachen seit jenem Wochenende im Sommer 1996, welches nun an meine Ohren dringt; ein verächtliches, spöttisches Lachen.

„Was bist du nur für ein Arschloch, Mann! Was bist du bloß für eine Mensch!“, sagt Mark kopfschüttelnd.

„Ich erkläre dir nur, wie das echte Leben außerhalb deines Beamtenelfenbeinturms so läuft und das vollkommen ungeschönt“, antwortet Andre Faust ganz ruhig und gelassen. „Übrigens machen wir das ja nicht aus Jux und Dollerei. Wir wehren uns dagegen, dass man uns übel erpresst. Das alles hier ist längst kein Spaß mehr.“

„Kein Spaß, was!“, sagt Mark noch immer verächtlich. „Aber das mit Opa Rainhard, das war ein Spaß. Ein Spaß, den du dir ausgedacht hast. Mann, Mann, Mann, war das ein Spaß, Alter!“

Plötzlich springt Rassel auf und brüllt: „Du hättest ja nicht mitmachen brauchen. Wir haben dich nicht gezwungen. Du warst von der ersten bis zur letzten Minute dabei. Also spiel hier nicht den Moralapostel. Von dir habe ich übrigens auch noch nichts gehört, was irgendwie zur Lösung des Problems beitragen könnte.“

„Lasst uns hier nicht streiten. Das bringt uns keinen Millimeter weiter“, gehe ich verbal dazwischen. „Wir sind in einer harter Situation, die wahrscheinlich eine harte Lösung erfordert. Ich glaube auch, dass Quermann Forderung um Forderung stellen wird und uns endlich doch in den Bau schickt. Ich denke, wir sollten Rassels Idee ernsthaft in Betracht ziehen.“

Mark schüttelt den Kopf, sagt aber nichts mehr und auch das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht ist verschwunden.

„Rassel hat nun mal das Geld und die Kontakte, um eine solch eklige Sache auf eine solch eklige Art und Weise zu lösen“, fahre ich fort. „Warum sollten wir uns dieses Vorteils nicht bedienen und das Problem damit ein und für alle Mal aus der Welt schaffen?“

„Die Stimme der reinen Vernunft“, stellt sich Rassel auf meine Seite. „Die Stimme der reinen Vernunft.“

„Ich macht es nur noch schlimmer. Dann gehen zwei Morde auf unser Konto. Und was ist, wenn Quermann nicht alleine agiert? Was ist, wenn er einen Komplizen hat? Dann gehen endgültig alle Lichter aus! Und zwar für immer!“, warnt Mark leise und sachlich.

„Der Privatdetektiv, der seit Sonntag an Quermanns Arsch klebt, hat mir erklärt, dass Quermann beinahe keine sozialen Kontakte hat. Lediglich einmal traf er sich mit einem Mann auf einer Bank in einem Park. Der Kerl, mit dem Quermann sich dort getroffen hat, soll sehr ungepflegt und heruntergekommen gewesen sein; fast wie ein Penner. Das ganze Treffen hat nicht mal eine halbe Stunde gedauert. Sie haben ein Bier getrunken und über, so der Detektiv, Belangloses geredet. Quermann war schon immer ein Einzelgänger, das wisst ihr. Und auch diesmal agiert er alleine. Dass er damals bei dieser älteren Frau eingezogen ist, hatte rein ökonomische Gründe. Und auch mit Frank Engel war das damals nicht so dicke. Quermann ist lieber alleine durch die Spielhallen gezogen, anstatt mit Engel durch die Gegend zu ziehen. Er agiert alleine. Das ist mal sicher. Und die Erkenntnisse der Observation belegen das eindeutig“, legt Rassel uns dar. „Sollte sich daran was ändern, wird es der Detektiv direkt an mich melden. Denn selbst im Moment hält die Überwachung an.“

„Und wenn nicht? Was ist wenn es trotz allem einen weiteren Erpresser im Bunde geben sollte?“, wiederholt Mark seine Ängste.

„Sollte dieses tatsächlich der Fall sein, so wird es dem möglichen Komplizen Warnung genug sein, wenn Quermann plötzlich den Löffel abgibt. Er wird erkennen, dass er sich entschieden auf einen Idioten eingelassen und mit den falschen Leuten angelegt hat“, kontert Rassel.

Dass wir einen Berufsmörder anheuern, gilt längst als eine beschlossene Sache.

„Meinst du nicht, es fällt der Detektei auf, wenn sie einen Mann beschatten, der plötzlich aus dem Leben scheidet?“, frage ich.

„Erstens ist die Detektei, wie bereits erwähnt, sehr verschwiegen. Deshalb ist sie spitzenklasse, extrem teuer und wird ausschließlich von vermögenden Menschen frequentiert. Zweitens ist der Kerl, der Sascha Quermann ins Jenseits befördern wird, ein absoluter Profi. Es wird ganz klar so aussehen, als habe Quermann seinem armseligen Leben im Schuldensumpf selber ein Ende bereitet. Es kommt jeden Tag vor, dass vereinsamte, verschuldete Menschen Schluss machen. Selbst in den Akten der Polizei wird Quermanns sogenannter Suizid untergehen und vergessen werden. Wir haben es hier mit einer wahrlich todsicheren Sache zu tun“, erklärt Rassel lächelnd.

„Darf ich fragen, woher du diesen Profi kennst?“, kommt mir eine interessante Frage über die Lippen.

Rassel grinst kurz; ein kleines, unheimliches Aufflackern in seinem gnomenhaften Gesicht.

„Natürlich darfst du fragen, wirst aber leider keine Antwort bekommen. Betriebsgeheimnis“, lautet die Antwort.

„Aber man kann sich hundertprozentig auf ihn verlassen?“, hake ich nach.

Jetzt grinst Rassel breit.

„Todsicher verlässlich. Ich habe ausführliche Recherchen, was extrem schwierig und teuer war, über diesen Mann angestellt und weiß, dass die Mächtigsten dieses Landes auf seine Dienste vertrauen. Er ist der Beste in einem ungewöhnlichen Geschäft.“

„Oh mein Gott!“, jammert Mark. „Das Ganze ist ein Scherz und ein schlechter Film. Ich glaube es nicht. Ich kann es einfach nicht glauben.“

Rassel beachtet Mark nicht und redet im Tonfall eines Verschwörers: „Dann sind wir uns ja einig darüber, dass Sascha Quermann diese Welt verlassen muss, weil er sich ganz entschieden mit den Falschen angelegt hat.“

Er blickt mich an.

„Gilt es, Jonas?“

„Sicher. Es gibt keine andere Möglichkeit.“

Er wendet sich zu Mark hin.

„Habe ich eine andere Wahl?“, murmelt er leise vor sich hin. „Also soll es so gelten!“

 

Kapitel 29

(Bielefeld im Sommer 2008) Vor gut einer Stunde hat Mark den Heimweg angetreten.

Als er Rassels Villa verließ, sah er müde, alt und abgekämpft aus. Seine letzten Worte uns gegenüber lauteten: „Macht es gut, Jungs. In dieser Sache wird uns Gott ganz sicher nicht beistehen. Irgendwann kriegen wir all diese Taten doppelt und dreifach zurück.“

Rassel und ich sitzen nun an der Mahagoni Bar und haben direkt nach Marks Abgang die Musik wieder eingeschaltet.

Message In A Bottle spielen The Police.

„Ich kann nur hoffen, dass Mark nicht die Nerven verliert“, erklärt Rassel und spielt mit der Bierflasche in seiner Hand.

Ich habe bereits das fünfte Herforder geöffnet und mir die erste Benson & Hedges des Tages angezündet. Der Rauch lässt mich ein wenig schwindeln.

„Was meinst du genau damit, wenn du sagst, er könnte die Nerven verlieren?“

„Dass er bei Sophia quatscht und sich ausheult. Ich glaube, er hält dem Druck nicht mehr Stand. Er könnte einbrechen.“

Eine äußerst unangenehme Vorstellung; Mark auf den Knien vor seiner Alten daheim und dabei unter Tränen all das Unschöne am Ausposaunen, angefangen von der Sache mit Opa Rainhard bis hin zu dem Beschluss, einen Berufsmörder zu beauftragen, um Sascha Quermann das armselige Lebenslicht auspusten zu lassen.

„Wie geht es jetzt weiter?“, erkundige ich mich.

„Nun, wir hoffen einfach mal, dass Mark stabil bleibt. Morgen werde ich dem Killer Anweisungen erteilen und übermorgen hat sich der Fall dann wahrscheinlich schon erledigt und alles ist vom Tisch.“

„Oh Mann. Ich hoffe, du behältst Recht, Andre.“

„Mach dir keine Sorgen. Wenn Mark dicht hält, geht alles glatt. Schon nächstes Wochenende wird es dir so vorkommen, als habe es all diesen Mist nicht gegeben.“

„Deinen Optimismus müsste man haben“, sage ich leise.

Wir schweigen einen Augenblick und lauschen der Musik.

Nachdem The Police zu Can`t Stand Loosing gewechselt hat, stellt Andre seine leere Flasche Detmolder auf den Tresen.

„So, ich werde mich Schlafenlegen. Trotz all des Trubels müssen meine Geschäfte spätestens morgen früh um neun weitergeführt werden. Du kannst dich gerne noch im Wohnzimmer aufhalten. Schnapp dir noch ein paar Bier, hör Musik und fühl dich wie zu Hause.“

Nach dem obligatorischen Gruß zur guten Nacht tippelt Rassel mit dem violetten Pappordner unter dem Arm aus dem Raum und ich bleibe zurück, fühle mich verwirrt, verunsichert und unendlich einsam.

Auf dem Sofatisch piept mein Handy und signalisiert eine eingehende Kurznachricht. Gedankenverloren gehe ich hinüber, klappe es auf und als ich den Inhalt gelesen habe, breitet sich ein sanftes Lächeln auf meinem Gesicht aus.

 

Mein lieber Jonas,

ich kann nicht schlafen und muss andauernd an Dich denken.

Wie geht es Dir denn so?

Ich vermisse Dich und habe Dich unendlich lieb!!

Deine Franziska

 

Plötzlich vergehe ich in einer Art brennender Sehnsucht nach ihr, denn ihre positive Lebensenergie würde mir jetzt, in diesen schwersten Stunden meines Lebens, zweifelsohne gut tun.

Ich drücke auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer, so dass das Gerät ihre Nummer direkt anwählt. Beinahe zu sofort dringt ihre dynamische Stimme an mein Ohr, ganz als sei es halb zwei am Nachmittag und nicht halb zwei in einer Nacht unter der Woche.

„Jonas! Du kannst also auch nicht schlafen. Schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?“

„Bis auf die Tatsache, dass ich dich gerade unendlich vermisse, geht es mir gut“, lüge ich sie an. „Und dir?“

„Genau das gleiche. Wann kommst du wieder nach Bonn?“

„Morgen. Am Nachmittag oder am frühen Abend. Genau weiß ich das noch nicht.“

„Ich muss bis 20:00 Uhr arbeiten. Kommst ` mich abholen und wir kochen bei mir zusammen?“

Eine sehr gute Idee, die mich einen Moment vermuten lässt, Franziska könne über eine Distanz von zweihundertfünfzig Kilometern Gedanken lesen, denn das Letzte, was ich morgen will, ist, alleine zu sein.

„Klar doch. Ich hole dich ab und dann gehen wir zum Rewe. Der hat ja bis zehn Uhr auf. Wir kaufen in aller Ruhe ein und kochen danach.“

„Super. Ich freue mich so“, jubelt Franziska.

„Ich mich auch, Franziska. Und wie.“

 „Wie ist der Workshop von der Uni Münster?“

„Sehr interessant von der Thematik her und auch wie das Ganze aufgezogen ist. Und die Kollegen sind ebenfalls total okay. Wir haben bis gerade eben noch zusammengesessen und uns ausgetauscht. Doch jetzt bin ich auf meinem Zimmer. Ich werde mich noch unter die Dusche schwingen und dann Schlafengehen“, lüge ich, dass sich die Balken von Rassels schicker Villa biegen.

„Das freut mich für dich. Jetzt, wo du mich angerufen hast, werde ich sicherlich prima schlafen können.“

Zärtlich verabschieden wir uns und ich bin wieder ganz allein in Rassels luxuriösem Wohnzimmer.

Ich würde ihr so gerne alles erzählen und mich daheim bei ihr ausheulen, ihr von meinen Sorgen berichten. Der Drang danach ängstigt mich beinahe.

Was tut Mark wohl gerade bei Sophia??!!

Schnell hinter die Bar gesprungen und ein kaltes Herforder gegriffen.

Ich setze mich wieder auf den Hocker zurück, zünde mir eine Zigarette an, rauche und trinke das Bier in kleinen, hektischen Schlucken. Mein Gesicht wird von dem Spiegel hinter den Spirituosenflaschen reflektiert und meine Gedanken ziehen davon, während die Stereoanlage von The Police zu Chris Rea wechselt.