...es beginnt mit dem Anruf an einem verkaterten Samstag und endet im okkulten Wahnsinn…
Anno 2008 steht Naturwissenschaftler Doktor Jonas Twelker auf der Sonnenseite des Lebens. Er befindet sich auf dem Weg zum Professor, die Heirat mit seiner intellektuellen Freundin steht unmittelbar bevor.
Diese Welt in Trümmer legt eine Postsendung, welche er in seinem Fach an der Bonner Universität findet. Sie enthält ein Erpresserschreiben samt Beweisen, die Jonas mit seiner unheilvollen Vergangenheit konfrontieren. Vor zwölf Jahren, als er in seiner Heimatstadt Bielefeld gerade sein Abitur hinter sich gebracht hatte, beging Jonas zusammen mit zwei Freunden aus einer perversen Laune heraus ein schier unfassbares Verbrechen.
Der Erhalt dieser Sendung bedeutet für Twelker den Abstieg hinab in die irdische Hölle, deren Dauer Jahre anhält und deren menschliche Abgründe immer tiefer und tiefer werden. Doch existiert gar eine noch wesentlich finsterere Welt dahinter?
Den Roman könnt Ihr kostenlos auf diesem Blog lesen. Einmal pro Woche werde ich ein neues Kapitel online stellen.
Ich wünsche Euch viel Spaß beim Lesen!
Die Nacht vor dem Finale
Für all jene, über welche du einst annahmst, sie seien wahre
Freunde, und deren tatsächliche innere Beschaffenheit du erst dann erkennst, wenn
es zu spät ist.
Und selbstverständlich
für all jene, deren volle menschliche Qualitäten du vielleicht registrierst, nachdem
sie längst aus deinem Leben entschwunden sind.
Koblenz, im Frühjahr 2023
Cover; Eigenproduktion, Bildquellen: Pixabay
Teil I
Die Postsendung
„Der ist ein
Menschenmörder von Anfang an und steht nicht in der Wahrheit, denn die Wahrheit
ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus dem Eigenen; denn er
ist ein Lügner und der Vater der Lüge.“
Johannes 8/44
Kapitel 1
(Bonn im Sommer 2008) Beim siebten
oder achten synthetischen, nervtötenden Heulton registriert mein benebelter,
schwermüder Geist, dass hier nicht die
elektrisch verzerrte Trompete des Jüngsten Gerichts pustet, sondern mich
schlicht und einfach meine Freundin Dilek anruft. Sie wollte sich melden,
sobald ihre erste Nacht in der Fremde vorüber und der Premierentag dort in Gang
gekommen sei. Meine Hand fährt unter der dünnen Sommerdecke aus und greift nach
dem schnurlosen Telefon auf dem Nachttisch, ertastet zunächst eine halbvolle Glasflasche, findet endlich aber das gesuchte
Objekt.
„Hallo!“
„Na, Süßer. Habe ich dich geweckt?“
„Nicht so wirklich. Ich bin schon
wach. Aber liege noch im Bett. Wie geht es dir?“
„Ausgezeichnet“, antwortet mir die
sinnliche Frauenstimme. „Ich habe wunderbar geschlafen und inzwischen
festgestellt, dass ich hier wirklich gut entspannen kann, Schatz. Ich glaube,
in diesem Landhotel werde ich richtig zur Ruhe kommen.“
„Das ist schön, Dilek“, sage ich
und merke, welche gewaltigen Mengen an Alkohol gestern konsumiert wurden. „Das
freut mich so für dich.“
„Und wie geht es dir?“, fragt die
süße Dilek, auf die ich eigentlich immer, nur im Moment, mein Zustand trägt die
Schuld, so überhaupt keine Lust verspüre.
„Ganz gut“, lüge ich. „Nur ein
wenig müde.“
Ich habe das Gefühl, dass mein Kopf
explodiert, gleich einfach in tausend Scherben zerspringt, wenn mein Magen ihm
in Punkto Zerstörung nicht zuvorkommt.
War es nicht schon im Voraus
klar, dass du, Freund Twelker, wenn Dilek ihre Erholungsreise antritt, derart
über die Stränge schlagen würdest? Selbstverständlich war das klar!
„Schön“, sagt Dilek. „Was hast du
gestern gemacht?“
„Ich war bis 21:00 Uhr im Institut.
Dann bin ich am Rhein spazieren gegangen und später konnte ich nicht schlafen,
weil du mir so fehlst wahrscheinlich. Ich bin bis drei, vier Uhr morgens durch
die Wohnung gelaufen, bevor ich endlich Schlaf finden konnte. Ich hoffe, du
bist bald wieder hier. Ich vermisse dich, Schatz.“
Meine Worte errichten ein
wundervolles Lügengebilde und eine lauwarme Halbwahrheit; auf der einen Seite
vermisse ich Dilek tatsächlich, auf der anderen ist es gar nicht verkehrt, dass
sie zehn Tage anderswo weilt. So kann der Mann des Hauses sich ganz ungeniert
bei sich bietender Gelegenheit dem Nachtleben hingeben, wie dieses zum Beispiel
gestern ausschweifend der Fall war.
„Ich vermisse dich auch. ` freue
mich schon, wenn ich dich wieder gut erholt in die Arme nehmen kann“, erklärt
meine Freundin.
Als legen zentnerschwere Gewichte
und nicht lediglich ein ausgiebiger Kater auf meinen schmalen Schultern, setze
ich mich im Bette auf und lasse den Blick durch das Schlafzimmer schweifen.
Auf dem Nachttischlein steht eine
halbleere Flasche Bitburger mit einer Zigarettenkippe im schalen Bier, eine geöffnete
Dose Jack Daniels Cola liegt achtlos auf den Dielen des Fußbodens vor dem
Kleiderschrank und der Fernseher dem Bett gegenüber zeigt stumme Bilder eines
Dokusenders, von dem ich mich nicht entsinnen kann, ihn eingeschaltet zu haben;
eine harte, wirklich ausgesprochen harte Nacht!
Ein bestialisch stechender Schmerz
in meinem Kopf unterstreicht die eiserne Härte des kürzlich Gewesenen.
Wollte Dilek mich in den Arm
nehmen bei ihrer Rückkehr? Wahrscheinlich...
„Ich werde dich nie wieder
loslassen, wenn das passiert“, murmele ich.
Gleich einer Teenagerin kichert
Dilek wohlwollend über meine Worte und während ich noch ihrer Gemütsäußerung
lausche, piept unter der Bettdecke das Mobiltelefon.
Wie kommt das Gerät bloß an
diesen Ort? Was hast du gestern in den letzten zwei, drei Stunden der Nacht
eigentlich genau gemacht, Freund Twelker?
Als ich nach meinem Samsung krame, ist Dilek noch immer positiv von meinen
Worten angeregt.
„Darauf freue ich mich schon“, sagt
sie schließlich.
Ich habe mein Handy gefunden,
klappe es auseinander und sehe auf dem Display, dass Markus Herbig mir eine
Textnachricht geschickt hat.
„Und wie ich mich freue“, antworte
ich ihr beiläufig. „Was hast du heute noch vor?“
„Ich gehe spazieren. Hier in den
fränkischen Wäldern. Ganz alleine. Aber ich werde an dich denken dabei.“
Hey Jonas,
war ein richtig geiler Abend gestern. Was? Wollen
wir heute wieder losziehen? Ich hätte schon richtig Lust. Ruf an, wenn du
ausgeschlafen bist. Gruß, Markus
Schon im Studium, wo Markus als
angehender Paläontologe Biologie als Nebenfach belegte, und wir uns in einem Kurs zur Stammesgeschichte
kennenlernten, nannte man ihn den Unverwüstlichen, wenn es um das Partymachen
ging; einen Spitznamen, den er bis heute voller Würde trägt. Während ich nach
einer Sauftour wie der gestrigen mit meinen fast dreiunddreißig Lebensjahren
mittlerweile zwölf bis zwanzig Stunden Erholungspause benötige, schläft der
gute Doktor Herbig vielleicht vier, um nach dem Aufstehen fröhlich weiterzuzechen.
„Schön, dass du an mich denkst. Ich
denke auch an dich“, murmele ich.
Dilek kichert erneut.
„Du, ich muss jetzt ciao sagen. `
bin praktisch schon auf dem Sprung nach draußen. Wir können heute Abend ja nochmal
telefonieren“, erklärt sie ganz entspannt.
„So machen wir ` s.“
„Ich liebe dich, Schatz.“
„Ich dich auch und wie.“
Aufgelegt.
Nachdem ich eine Weile dumm im Bett
gesessen und auf die Bilder einer Schiffstaufe, die tonlos über die Mattscheibe
flimmern, gestarrt habe, melden sich Nachdurst und eine ziemlich volle Blase
eifrig zu Wort.
Ich lege Handy und das mobile Teil
des Festnetztelefons auf die freie Seite der Matratze, dahin, wo Dilek
üblicherweise nächtigt, rappele mich auf und schleppe mich mühsam ins Bad.
Nach dem Pinkeln fällt mein Blick
in den Spiegel über dem Waschbecken.
Au weia!
Die schwarzen Haare stehen wirr ab
vom Kopfe, mein eigentlich eher schmales Gesicht sieht ziemlich aufgedunsen aus
und das Weiß der Iris durchziehen rote Äderchen. Die dunklen Ringe unter den
Augen machen dieses Erscheinungsbild ebenfalls nicht besser und ich möchte gar
nicht daran denken, wie eine dritte Person meinen Mundgeruch wahrnehmen täte
oder den Schweiß, der in meinem weißen T-Shirt klebt.
Vorteilhaft, dass Dilek mich nicht
in diesem Zustand sehen kann. Da sie die feste Meinung vertritt, dass meine
Person über ein enormes Suchtpotential verfüge und sie persönlich fast keinen
Alkohol konsumiert, sieht sie es alles andere als gerne, wenn ich um die Häuser
ziehe. Okay, ich gebe zu, dass, nachdem ich das zweite, dritte Bier intus habe,
es mir schwerfällt aufzuhören und brav ins Bettchen zu gehen, aber ob das
gleich ein Zeichen für eine mögliche Sucht darstellt, sei mal dahingestellt.
Heraus aus dem Bad und ab in die
Küche.
Ich öffne den Kühlschrank und eine
kalte unsichtbare Wolke streift meine freie Haut an Beinen und Armen. Neben dem
Mineralwasser liegt eine Flasche Bier, lächelt mich förmlich an, scheint mir
zuzuzwinkern.
So ein Bierchen ist bestimmt
nicht verkehrt gegen den Kater, außerdem kannst du danach sicherlich noch ein
paar Stündchen weiterschlafen.
Nach langem hin und her denke ich
an Dilek und greife zum Mineralwasser.
Zisch, den Deckel abgedreht, die
Plastikflasche zum Mund geführt und einen gierigen Zug gegen den wütenden
Nachdurst genommen.
Das Wasser ist so kalt, dass mein
vom Alkohol geschundener Magen beinahe verkrampft und ich absetzen muss, bevor
in meinem Bauch eine wahre Rebellion stattfindet. An den Kühlschrank gelehnt
warte ich eine Minute und nehme dann vorsichtig kleinere Schlucke zu mir, was
wesentlich besser funktioniert.
Mit der Flasche in der Hand kehre
ich ins Schlafzimmer zurück und beschließe, vor dem Hinlegen lieber zwei
Kopfschmerztabletten zu konsumieren. Obgleich Dilek einen Teil an Arzneien in
ihren Erholungsurlaub mitgenommen hat, befinden sich extrem viele
Medikamentenschachteln in der Nachttischschublade auf ihrer Seite des Bettes. Die Geschichte ihrer seelischen Krankheit,
die partiell auf ihren hübschen Körper übergreift, reicht bis in ihre
Studienzeit zurück und die letzten Kapitel sind dahingehend leider noch lange
nicht geschrieben.
Andere Männer, so sagte Dilek mir
am Anfang unserer Beziehung, schrecke eine solche Tatsache ab, sie täten das
Weite suchen, sobald sie davon erführen und deshalb, das erklärte sie zu einem
späteren Zeitpunkt, liebe sie mich auch so sehr, weil ich ihre Person mit
dieser endlos andauernden Krankheit voll und ganz akzeptieren würde.
Ich finde die Kopfschmerztabletten,
genehmige mir zwei davon und lasse mich vorsichtig auf die Matratze
zurückfallen.
Ich merke, wie die Müdigkeit mich
wieder übermannt und meine Gedanken unzusammenhängender werden. Sie ziehen
plötzlich in seltsame, logisch wohl kaum zu erklärende Richtungen.
Bei Kennedy war doch ganz klar
eine Verschwörung am Werk und bei den Anschlägen des 11. Septembers ebenso.
Aber wie war das mit der Mondlandung? Wie wird das Wetter in den nächsten Wochen?
Im Finale der diesjährigen Euro besaß Deutschland nicht den Hauch einer Chance
gegen Spanien. Das 0:1 ist da noch ein schmeichelhaftes Ergebnis gewesen. Im
Internet schreibt so ein Kerl doch tatsächlich, dass die Erde hohl sei und aus
ihrem Inneren heraus eine Reptilienrasse von entsetzlicher Intelligenz den Planeten
hinter den Kulissen regiere. Dazu hat der Knilch, Landsmann sein Name, sogar
ein Video bei YouTube hochgeladen und vielleicht wohnt dort ja auch der Satan.
Hat John Lennon Anfang der 1960er-Jahre für den großen Erfolg seine Seele dem
Teufel verkauft? Geht so etwas? Und überhaupt…
Das erneute Heulen meines
Festnetztelefons reißt mich aus der Fahrspur, die auf dem direkten Wege ins
Reich der Träume führt.
Verdammter Mist!
„Hallo.“
„Jonas?“, fragt mich eine männliche
Stimme, die mir irgendwie vertraut vorkommt.
„Ja, Jonas hier. Wer ist da?“
„Andre aus Bielefeld.“
Mein alter Freund Andre aus
Bielefeld, welch seltene Ehre wird mir denn da unerwartet zuteil?
Das letzten Mal haben wir uns vor
fast genau sechs Jahren gesehen und schauten gemeinsam das Endspiel der
Fußballweltmeisterschaft in unserer Stammkneipe in Bielefeld-Brackwede;
Deutschland gegen Brasilien 0:2, eine gehörige Enttäuschung. Wobei es Andre
damals mehr ums Saufen als den Sport ging. Er ist wahrlich kein Fußballfan.
Danach riss der Kontakt wohl aus
beruflichen und aus Gründen der Distanz sowie einem Mangel an Zeit ab. In Bonn,
wo ich bereits seit Beginn meines Biologiestudiums lebe, ging meine Promotion,
in die ich sehr viel Arbeit und Ehrgeiz investierte, über die Bühne und Andres Firma
fing ungefähr zu diesem Zeitpunkt richtig zu blühen an. Von meiner Mutter und
aus dem weltweiten Netz weiß ich, dass sie aktuell bombastisch läuft und
tiefschwarze Zahlen schreibt. So sagt man in Brackwede, jenem Stadtteil von
Bielefeld, in welchem wir heranwuchsen, hinter vorgehaltener Hand, dass der
Faust, so Andres Familienname, mit Mitte dreißig bereits mehrfacher Millionär
sei.
„Andre. Schön, dass du dich mal
meldest. Wie geht es dir?“
„Schlecht, Jonas. Sehr schlecht.“
Seine Stimme klingt wahrlich jämmerlich,
das nimmt selbst ein Schwerhöriger mit defektem Equipment wahr.
Ob Andre Faust gestern Nacht
auch so gesoffen hat? Wenn dem so war, dann wahrscheinlich edelsten Champagner,
wo er doch mehrfacher Millionär ist.
„Das ist gar nicht gut. Woran liegt
` s?“
Seine Firma ist pleite! Seine
Firma ist pleite und jetzt will er sich bei dir ausheulen, Freund Jonas Twelker!
„Sag, hast Du heute schon in den
Briefkasten geschaut?“, kommt es nur als Antwort.
„Warum, hast du mir Post
geschickt?“
„Frag bitte nicht, Jonas. Sag mir
einfach, ob du heute schon in deinen Briefkasten geguckt hast. Bitte, es ist
sehr wichtig.“
Nun fällt mir auf, dass seine
Stimme nicht nur jämmerlich, sondern auch extrem besorgt bis an die Grenze zur Verzweiflung
heran in meine Ohren dringt.
„Nein. Habe ich noch nicht. Aber
warum das Ganze?“
„Bitte, Jonas, stell jetzt keine
Fragen. Guck nach der Post und dann ruf mich wieder an! Hast du meine Nummer?“
„Ja, ja. Wenn du sie nicht
unterdrückt hast, ist sie schon in meinem Telefon.“
Apropos Nummer! Woher hat Andre
Faust meine Nummer? Sie ist neu, erst drei Jahre alt und steht in keinem Telefonbuch
und im Internet kann man bei Eingabe meines Namens lediglich die Dienstnummer
an der Universität Bonn ersehen.
„Ach übrigens! Woher hast du meine
Nummer?“
„Ich habe vorhin deine Mutter
angerufen. Natürlich hat sie sie mir gegeben. Und meine eigene Nummer habe ich
auch nicht unterdrückt. Würdest du jetzt bitte nach der Post sehen“, lässt
Faust nicht locker.
Das Anliegen scheint ihm ernst zu
sein, sehr ernst, todernst!
Plötzlich geht es mir
hunderttausendmal schlechter, als das durch den Alkohol bereits der Fall ist.
Einhergehend mit einem Anfall von Schüttelfrost schlägt eine gewisse
Erinnerung, die ich zwölf Jahre meist erfolgreich unterdrückte, plötzlich mit
voller Gewalt zu, springt ins Licht eines gleißend hellen Scheinwerfers; Mark,
Andre und ich, Jonas Twelker, die drei alten, guten Freunde und ihr tiefdunkles
Geheimnis.
Kann es tatsächlich sein, dass nach all der
Zeit noch etwas nachkommt?!
„Sag mal, hat die Sache was mit
damals zu tun?“, frage ich und jetzt zittert sichtbar der mobile Hörer der
Telefonanlage in meiner Hand.
Schweigen in der Leitung, welches
sich endlos hinzuziehen scheint, bevor Andre die brutale Antwort von sich gibt.
„Ja. In der Tat. Das hat es. Aber
darüber reden wir besser nicht hier am Telefon. Geh jetzt bitte nachsehen und
dann ruf mich kurz zurück und sag mir, was du in deiner Post gefunden hast.“
„Okay. Bis gleich.“
Ich suche den Schlüsselbund - ?wo
wurde der gestern nur hingelegt? - und mit jeder verstreichenden Sekunde
wird mir übler und übler und kälter und kälter der Sommerwärme zum Trotze. Als
ich ihn schließlich im Bereich der Eingangstür finde, müsste sich meine Haut
eigentlich in schmutziges Eis mit einer Temperatur nahe des absoluten Nullpunktes
transformiert haben.
Nur in Boxershorts, T–Shirt und
Badeschlappen verlasse ich meine Wohnung und schlurfe zitternd und gegen
Erbrechen ankämpfend die Treppen aus der zweiten Etage hinunter in der festen
Erwartung, eine Katastrophe, den Untergang der Zivilisation in meinem
Briefkasten vorzufinden. Ich rechne mit Post von der Polizei oder der
Staatsanwaltschaft.
Halt! Nicht von der
Staatsanwaltschaft. Weil es sich bei unserem Geheimnis nicht um ein paar
unbezahlte Strafzettel wegen Falschparkens handelt, hätten bei einer
Anklageerhebung schon längst der Handschellen geklickt. Wahrscheinlich will die
Bielefelder Kriminalpolizei die Herren Jonas Twelker, Andre Faust und Mark Wenzel zu einem
unverbindlichen Gespräch vorladen, nur ein paar Routinefragen zu einer
unschönen Sache, welche sich Ende Juni im Sommer 1996 zutrug.
Gepeinigt von heftigen
Magenkrämpfen und leichten Stichen - jedenfalls kommen sie mir so vor - in der
linken Brust nähere ich mich der Ansammlung von Briefkästen neben der gläsernen
Haustür.
Wir stellen Ihnen nur ein paar
lose Fragen, reine Routine natürlich. Niemand steht unter Verdacht, aber können
Sie sich noch erinnern, was sie am Samstag, den 29. Juni 1996 zwischen 22:00
Uhr und 03:00 Uhr morgens taten, Herr Doktor Twelker?
Unser Briefkasten liegt genau in
der Mitte; der dritte von oben, der dritte von unten.
Zitternd führe ich den kleinen
Schlüssel ins Schloss, was meines Getatteres wegen einer wahren
Geschicklichkeitsübung gleichkommt, aber endlich steht die kleine Klappe offen.
Im Inneren liegen zwei Briefe, von
denen einer meine Handy-Rechnung ist, der andere die Werbesendung eines großen
Energielieferanten, welche mich ermuntert, doch bitte die Bonner Stadtwerke zu
verlassen.
Erleichterung!
Ich spurte die Treppe hinauf, kehre
in die Wohnung zurück und rufe Andre Faust in Bielefeld an.
„Einmal Rechnung, einmal Werbung.
Sonst nichts“, erkläre ich meinem alten Freund.
„Sonst nichts?“
„Nein, Andre, sonst nichts.“
Schweigen in der Leitung.
„Sag mal, kriegst du auch Post zu
deinem Arbeitsplatz an der Uni?“
„Ja. Des Öfteren. Zumeist fachliche
Sachen“, antworte ich.
„Ist diese Adresse...“, Andre
zögert kurz. „...ist diese Adresse zum Beispiele im Internet einfach
herauszubekommen?“
„Ja, natürlich. Schließlich bin ich
wissenschaftlicher Mitarbeiter.“
„Dann solltest du auch dort einmal
nachsehen.“
Weil die Post also nicht von
offizieller Stelle kommen kann, da Behörden und Polizei meine Privatanschrift
spielend herausbekommen hätten, bleibt zunächst Verwirrung über, die allerdings
wieder äußerst zügig der Angst weicht; einer furchtbar intensiven Angst.
„Okay“, antworte ich. „Soll ich das
sofort machen?“
„Am besten ja. Am besten ja.“
Wir verabreden, später nochmals zu
telefonieren.
Schnell ziehe ich mir die gestrige
Jeans über, stecke die baren Füße in mein Paar Alltagsturnschuhe und im
Laufschritt geht es hinab in den Fahrradkeller, wo mein Mountainbike auf mich
wartet.
Auf meiner Fahrt durch die
Innenstadt stellt sich der Tunnelblick ein, lässt lediglich die zwanzig Meter
Straße vor dem Blickfeld erkennen und mich weder hübsche Mädels in luftiger
Kleidung noch all die anderen Menschen wahrnehmen, die an diesem netten
Sommertage flanieren.
Etwa zehn Minuten später sperre ich
mit zitternden Händen die Tür des Zoologischen Instituts an der Meckenheimer
Allee auf und eile von Krämpfen im Magendarmtrakt gepeinigt auf die Postfächer
unweit des Eingangs zu. In der für mich bestimmten Ablage befinden sich drei
Sendungen. Die erste ist ein großer, brauner Umschlag, der den Katalog einer
Spezialfirma für Laborartikel enthält, desweiteren eine handschriftliche
Nachricht von Professor Heribert Ruländer, meinem Chef, der einen inneren Groll
gegen die sich immer weiter ausbreitende digitale Kommunikation hegt.
Lieber
Herr Twelker,
das
wöchentliche Treffen muss wegen eines auswärtigen Termins meinerseits am
Mittwoch leider ausfallen. Als Ersatztermin schlage ich den kommenden
Donnerstag, 10.00 Uhr vor.
Ich
bitte um eine kurze Rückmeldung, wenn Sie diesen Termin nicht wahrnehmen
können.
MfG
Ruländer
Und schließlich ein kleines,
flaches Päckchen, das eigentlich mehr ein großer Umschlag ist, dessen
Adressfeld mit schwarzen Blockbuchstaben beschriftet wurde, die eindeutig
meinen Namen samt des akademischen Titels, die Anschrift und die Postleitzahl
bilden. Der Entwertungsstempel stammt aus Bielefeld und wirbt für eine
temporäre Ausstellung in der Kunsthalle. Nur einen Absender sucht der
aufmerksame Betrachter vergeblich.
Dein Todesurteil! Das Päckchen
aus der Hölle!
Ich entschließe mich, dass es
vorteilhafter wäre, dieses Schreiben in meinem Büro zu öffnen. Trotz des
Samstages besteht die Gefahr, mit einem übereifrigen Doktoranden zusammenzustoßen
und wer weiß, wie mein Erscheinungsbild rüberkommt, wenn ich den Inhalt des
Päckchens genauer in Augenschein genommen habe.
Mein Büro in der obersten Etage ist
klein, vollgestopft mit Büchern und der kantige Schreibtisch quillt über vor
Papieren.
Ich setze mich in den einfachen
Drehstuhl aus schwarzem Kunststoff. Beiläufig streift mein Blick über ein noch
unfertiges Skript, das für die Erstsemester im Oktober bestimmt ist. Zum Start
in ihr Studentenleben werde ich das Einführungsseminar abhalten, wenn, ja wenn,
der werte Dozent dann nicht aufgrund seiner Vergangenheit im Bau oder der
Forensik weilt.
Sofort sind meine Gedanken wieder
bei dem flachen Umschlag in den Händen, die mittlerweile derartig zittern, dass
sie mühelos mit denen eines Saufaus auf Entzug konkurrieren können. Ewigkeiten,
so scheint es, brauchen meine Finger, um die Vorgänge zu bewältigen, die von
Nöten sind, diese Postsendung zu öffnen. Endlich jedoch liegt der Inhalt auf
dem Schreibtisch im Sonnenlicht, welches schräg durch das kleine Fenster in den
Raum hineinfällt. Es erhellt einen zusammengefalteten Papierbogen und einen
silbernen CD–Rohling.
Ich falte das Papier auseinander und
lese die wenigen Worte in kindlichen Blockbuchstaben. Anschließend schließe ich
für etwa zehn Sekunden die Augen, als könne diese Aktion bewirken, dass beim
Wiederöffnen etwas gänzlich anderes in meinen Händen liegt; der
Donnerstags-Kicker oder eine Werbebroschüre der Metro etwa.
Doch die Worte auf dem schlichten
Bogen bleiben brutale Wirklichkeit.
Drei Junge Männer, 12 lange Jahre.
Eine ungehäure Tat. Beweise auf CD gebrant
Ich kenne Sie alle und ich kenne Ihre Namen.
Jonas Twelker
Andre Faust
Mark Wenzel
Mein Schweigen wird sein Preis haben. Was bleibd
sonst noch übig? Ihr werdet bezahlen ihr Hunde. Ich melde mich wider.
Darunter befindet sich eine
unleserliche Unterschrift, die alles und auch gar nichts bedeuten könnte; eine
Verhöhnung, ein Gefühl des nahen Triumphes, ein kleiner Scherz am Rande.
Der Brief gleitet mir aus den
Händen, segelt auf das graue Linoleum des Fußbodens hinab.
Während kalter Schweiß meinen
Körper bedeckt und die pure Todesangst in meinem Inneren wütet, fahre ich den
Dienstcomputer rauf und lege die CD ein, auf der nur eine einzelne Audiodatei
existiert.
Aus den kleinen Boxen im Chaos auf
meinem Schreibtisch ertönt:
„So, halt! Genau hier warten wir.
In etwa fünf Minuten macht die Spelunke in Gadderbaum dicht. Wir haben also
noch reichlich Zeit. Los Mark, leg deinen Rucksack ab und verteil Parka,
Einmalhandschuhe und Duschhauben!“
Plötzlich ist alles wieder bis ins
kleinste Detail präsent in meinem Kopf. Der Erinnerungsblitz hat brutal eingeschlagen.
Weil ich das Folgende unter keinen Umständen hören möchte, wird die Aufnahme
rasch gestoppt und plötzlich schmerzt da ein gemeines Stechen in der linken
Brust.
Ein Herzanfall! So fängt ein
Infarkt an!
Zudem füllt nun derartig viel
Schleim meinen Magen und steigt die Speiseröhre hinauf, dass ich ihn unmöglich
weiter in mir behalten kann, aber der Weg zur Toilette auf dem Flur ist gerade
unendlich weit, ein Fußmarsch bis an den Rand unseres Sonnensystems.
Die flache Hand vor den Mund
haltend stolpere ich zum Papierkorb hinüber, um mich auf allen Vieren kauernd
in diesen hinein zu übergeben.
Während ich würge, kotze und
krächzende Geräusche ausstoße, fangen mir die Tränen über die Wangen zu laufen
an wie bei einem Kleinkind, das unter einer schlimmen Magendarmgrippe leidet
und seinen Zwieback und seinen Kräutertee erbricht.
Irgendwann ist es vorbei. Nichts
kommt mehr aus meinem Magen hoch. Trotz der sommerlichen Temperaturen in meinem
kleinen Büro unter dem Dach zittere ich vor Eiseskälte. Ich drehe mich auf die
Seite, rolle mich zu einer Kugel zusammen, friere und kann einfach nicht mit
dem Weinen aufhören.
Weil die Last eines ganzen
Neutronensterns auf meinen Körper hinabdrückt, schaffe ich es nur unter größten
Kraftanstrengungen, mich wieder zu erheben und zu dem Bürodrehstuhl
zurückzukehren.
Hinter mir in dem vollgestopften
Bücherregal tickt jene schmucke schwarze Designeruhr, die Dilek mir geschenkt
hat.
Ich hätte ja gar keine Uhr in
meinem Büro, stellte sie einst bei einem Besuch fest und ließ auch meine
Argumentation nicht gelten, dass man die Zeit doch auch dem Handy oder der Uhr
im PC und dem Display des Diensttelefons entnehmen könne.
Eine Uhr, so fuhr sie fort,
benötige Zeiger, müsse dreidimensional sein und, am wichtigsten, ticktack,
ticktack machen.
Sie eilte umgehend in die nahe Stadt
und kehrte eine Stunde später mit eben dieser Uhr zurück, die sie mir feierlich
und mit einem dicken Kuss überreichte.
Oh, wie sehr sehne ich mich in
diese Vergangenheit zurück; Tage, an denen die Welt noch in Ordnung, noch in
ihrer Fugen war.
Ticktack, ticktack, ticktack...
Ich schließe die Augen, worauf
Dileks hübsches Gesicht vor meinem inneren Auge auftaucht, um kurz darauf in
tausend Scherben zu zerfallen.
Ticktack, ticktack, ticktack...
Tage, an denen die Welt noch in
Ordnung, noch in ihren Fugen war...
Ticktack, ticktack, ticktack...
Wer hat dieses Päckchen
gesendet? Wer hat dieses Päckchen gesendet? Wer hat dieses Päckchen
gesendet?
Jonas Twelker, Andre Faust, Mark
Wenzel.
Ticktack, ticktack, ticktack.
Ich höre die Uhr.
Ticktack, ticktack, ticktack.
Ich erinnere mich.
Kapitel 2
(Bielefeld im Sommer 1992) Als ich mitten
in der letzten Woche der Sommerferien den Schulhof betrete, scheint die Sonne
an diesem späten Nachmittag schräg und heiß vom wolkenlosen Himmel. Gegen ihre
intensiven Strahlen muss ich anblinzeln, bevor sich in dem typischen Licht, das
dem August zu eigen ist, Konturen abzeichnen.
Im Sand spielen eifrig tobende
Kinder, wobei ihre freudigen Laute zu mir herüberschweben und ihre jungen,
hübschen Mütter rauchend auf einer der Bänke sitzen, um über die Kleinen zu
wachen.
Auf dem Gummiplatz, so heißt das
Tartansportfeld auf dem Schulaußengelände umgangssprachlich, geht es unter
nicht minder intensiven Geräuschen höchst sportiv zur Sache. Die Jungs spielen
Zwei gegen Zwei-Fußball, was bei diesem Wetter extrem anstrengt, noch dazu in
Jeans und T-Shirt.
Über Betontreppen gehe ich hinauf
zum Platz, öffne die Tür in dem grünen Metallgitterzaun und knalle sie
geräuschvoll krachend hinter mir zu.
Das Fußballspiel ist in vollem
Gange und für eine Weile beobachte ich, wie der jüngere Martin sich gekonnt, elegant
an dem wesentlich älteren, größeren und kräftigeren Christopher – Brauni -
Braun vorbeidribbelt, bevor ich mich vorsichtig, um meine Kumpels in ihrem Tun nicht
zu stören, am Rand entlang zu einer kleinen Gestalt hinbewege, die rauchend auf
der anderen Seite des Platzes an einer orangenen Mauer lehnt.
„Rassel, warum spielst du nicht
mit?", frage ich grinsend.
„ Death, Mann!", kreischt er
direkt los und deutet mit seiner Hand auf eine Flasche Herforder Pils, die
verführerisch oben auf der Mauer steht. „Halt bloß den Rand! Sonst ziehe ich
dir mit der Pulle da oben einen Scheitel!"
Rassel, der Fußball auf den Tod
nicht leiden kann, meint es nicht so, sondern besitzt eine ganz spezielle Form
von Humor. Zur Begrüßung klatschen wir hoch miteinander ab.
Rassel kleidet sich gerne wie der
große Mann von Welt und trägt auch heute trotz der Spätsommerhitze dunkle
Anzugshose, weißes Hemd, graues Jackett, wobei die Kleidung allerdings mindere
Qualität besitzt und sicherlich aus dem Hause C&A oder gar dem
Textildiscount stammt. Weil er aus einer einkommensschwachen Familie stammt,
die in den nahen Hochhäusern wohnt, bleiben ihm beim Klamottenkauf nur wenige
Möglichkeiten. Wahrscheinlich gerade deshalb möchte Rassel, daraus macht er
keinen Hehl, eines Tages hoch hinaus und meiner Meinung nach befindet er sich dabei
auf einem guten Weg. Am kommenden Montag wird er das letzte Jahr auf der Höheren
Handelsschule angehen und danach, betont er stets, sei noch lange nicht das
Ende der Fahnenstange erreicht.
Ach ja, seinen Spitznamen verdankt
Andre Johannes Faust übrigens einem ehemaligen Grundschullehrer, der behauptet
haben soll, er sei eben mehr eine Babyrassel als eine Faust.
Ich wende meinen Blick die Mauer
hinauf, auf welcher ein molliges Mädchen sitzt, deren Gesicht eine große
Sonnenbrille verdeckt und die wirkt, als leide sie unter der Hitze.
„Hey, Tina!", grüße ich.
Tina erwidert meinen Gruß, indem
sie einmal kurz den Kopf senkt, die Hand hebt und danach weiter durch die
schwarzen Gläser ins Nirgendwo blickt.
Zwei der Jungs auf dem roten Tartan
fangen das Jubeln an. Ihr Team hat zuerst zehn Tore erzielt und somit das Spiel
gewonnen. Nach kurzer Freude, Enttäuschung und dem Händeschütteln ganz im guten
Sportgeiste streben sie der Mauer zu und greifen nach den Gegenständen, die
sich auf ihr und um Tina herum verteilen; Zigarettenpackungen, Wasserflaschen,
Coladosen, Bier.
Auch ich bekomme, als ich Sven
Vogel beim genüsslichen Schlürfen des Gerstensaftes beobachte, Durst auf ein
kaltes Herforder. Da mir allerdings keines zu eigen ist und außerdem die halbe
Welt um mich herum zu qualmen begonnen hat, stecke ich mir ebenfalls eine
Zigarette, blaue Gauloises, an und inhaliere genussvoll. Normalerweise rauche
ich als Schüler aus geldtechnischen Gründen halbschwarzen Drehtabak, aber meine
werte Großmutter, bei der ich zwei Wochen der Ferien verlebte, da mir nicht der
Kopf danach stand, mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Frankreich zu
fahren, gab mir ein großzügiges Entgelt mit auf den Heimweg nach Bielefeld.
Sven Vogel, neunzehn Jahre jung,
aber schon einen sichtbaren Bierbauch vor sich hertragend, kommt auf mich zu,
das Herforder in der einen, die brennende Lucky Strike in der anderen Hand
haltend. Er trägt ein schwarzes Metallica-T-Shirt und seine blonden Haare lang,
was ihm, ehrlich gesagt, überhaupt nicht steht.
„Ey, Jonas, hast du den Film
gesehen, von dem ich dir gestern erzählt habe?", fragt er mich.
„Ja, habe ich. Voll langweilig,
Mann!"
Der Film, um den es geht, heißt
Heinrich V. und ist die Verfilmung irgendeines Shakespeare-Stücks. Ich habe
etwa zehn Minuten versucht, ihn mir anzusehen, bevor meine Geduld am Ende war
und ich auf einen anderen Sender umschaltete.
„Du verstehst ihn wohl nicht,
schätze ich", lautet Svens Reaktion.
„Will ich auch gar nicht!
Shakespeare ist doch schon lange tot und begraben. Ich lebe im Jahr
Neunzehnhundertzweiundneunzig und nicht Sechszehnhundertirgendwas. Was kümmert
mich also dieser Typ und seine Werke."
Ab dem kommenden Montag bricht für
mich mit dem Start meiner Ausbildung am Oberstufen-Kolleg des Landes Nordrhein
Westfalens an der Universität Bielefeld eine neue Ära an. Dort werde ich in
vier Jahren hoffentlich die erweiterte Hochschulreife erworben haben;
Schwerpunkt Biologie und nicht etwa Anglistik oder Geschichte, wo es um tote
Hornochsen wie Shakespeare geht.
Was kümmert mich der Kerl also?
„Das ist kulturelles Erbe, Jonas.
Du bist ein Kulturbanause und nichts weiter", sagt Vogel leise und
vorwurfsvoll.
„Also ich habe ihn mir angeguckt
und muss sagen, dass er gar nicht verkehrt war", schaltet sich ein
blonder, hübscher Junge in den Dialog ein, der auf den Namen Mark Wenzel hört. „Ich
finde schon, dass man, ob man das nun mag oder nicht, sowas mal gesehen oder
vielleicht sogar gelesen haben muss."
„Wegen mir bin ich eben ein
Kulturbanause. Ist mir vollkommen Latten. Ich sehe nur, dass Shakespeare und Goethe,
und wie sie alle heißen mögen, den II. Weltkrieg nicht verhindert haben und den
I. Weltkrieg auch nicht und den Golfkrieg und..."
„Halt den Rand!", kreischt
Rassel dazwischen. „Rauch deine Kippe auf und mach dich bereit fürs nächste
Fußballspiel! Aber hör auf, hier gottverdammt rumzuheulen!"
„ Ich habe heute irgendwie keine
Lust zu spielen. Lasst uns lieber zur Tanke und ein paar Bier holen",
lautet mein Vorschlag.
„Da kommt der Asi“, ruft Brauni,
den Blick in Richtung der Hochhäuser gewandt.
Der Asi kommt einen Fußgängerweg
hinab und bewegt sich schnellen Schrittes auf den Schulhof zu. Er ist etwas
älter als ich, schon über achtzehn Jahre, trägt einen Fußball unter dem Arm und
dass seine Kleidung billig und verschlissen ist, kann selbst ein Halbblinder
aus der Distanz erkennen.
Ich grinse breit.
„Ich glaube, wir sollten doch noch
ein Spielchen austragen, bevor wir uns ein paar Bierchen zischen“, sage ich und
klatsche hoch mit Sven ab.
Wir alle grinsen mit Ausnahme von
Tina, die weiter hinter ihren schwarzen Brillengläsern ins große Nichts zu
blicken scheint.
Vom Ostzugang her, jener Seite, auf
der sich die orangen Hochhäuser erheben, betritt der Asi den Schulhof. Er geht
an der Tischtennisplatte vorbei, läuft über grauen Beton, erklimmt die Treppen,
erreicht den Tartanplatz. Sein T–Shirt ist weißgrau, seine kurze Jeans
verwaschen blau. Das straßenköterblonde Haar wird von einer Fettschicht bedeckt
und er kommt geradewegs und dämlich grinsend auf uns zu. Als der Asi den ersten
der Unsrigen, Martin, erreicht hat, streckt er seine Hand schräg gehalten aus,
den Daumen dabei abgespreizt. Seit jeher besitzt dieser Kerl die nervtötende Angewohnheit,
unschuldige Menschen mit diesem nervtötenden Prollhandschlag zu grüßen.
„Hallo Jonas“, sagt er, als ich an
der Reihe bin.
„Hallo Sascha“, entgegne ich und
merke, dass er etwas stinkt, was ebenfalls häufiger vorkommt.
Sein voller Name lautet Sascha
Quermann. Vor einem Jahr hat er die Hauptschule in Brackwede beendet und macht
nun eine Ausbildung zum Elektroinstallateur oder, um es genauer zu formulieren,
er macht diese Lehre noch. Quermann spielt schon mit dem Gedanken, die Sache
abzubrechen und im Herbst einen LKW–Führerschein zu erwerben. Berufskraftfahrer
wie sein Onkel zu werden, gehört zu den größten Träumen Sascha Quermanns.
Allerdings fragen wir uns allesamt interessiert, woher ein Sascha Quermann das
Geld für einen solchen Führerschein auftreiben will, denn ein Sascha Quermann
verfügt niemals über Kohle. Das ist ein Naturgesetz.
Quermann reicht Tina die Hand, die
angewidert zurückzuckt, worauf dieser nur dämlich grinst. Nun liegt seine
Begrüßungsorgie hinter uns.
„Ich war heute bei Motobecane und
wollte eine Ersatzbirne für mein Moped holen. Die Alte, die da arbeitet, ist ja
wirklich saublöd. Am liebsten hätte ich die drei Meter hinter dem Tresen
genagelt“, fängt er an.
Quermann redet gerne über
Lastwagen, große Fahrten und sein Moped oder vielmehr das, was er so Moped
nennt. Ein Alkoholiker namens Frank Engel, derzeit Saschas bester Freund, hat
es ihm geschenkt, wahrscheinlich, um sich die Entsorgungsgebühren zu sparen.
„Die Alte ist so blöd! Wühlt da in
ihrer Kiste rum und findet nichts. Ich sage ihr, lass mich mal dahinter. Sie
sagt, ne. Sie können da nicht hinter. Das hat der Chef verboten. Also sage
ich...“
„Hast du deine dämliche Birne
bekommen oder nicht?“, unterbricht Rassel ihn giftig gereizt und diesmal liegt
kein spaßiger Unterton in seinen Worten, wie das eben bei mir der Fall war.
„Ja. Hab ich. Nachdem...“
„Dann bau sie ein und halts Maul!
Verdammt noch mal“, schreit Rassel und Martin kichert.
Quermann schaut beleidigt drein und
für eine Weile wirkt es gar, dass er sich verbal verteidigen wolle, aber
endlich bleibt es bei dem beleidigten Blick. Quermann ist es wahrscheinlich
gewohnt, von den meisten Menschen wie der letzte Dreck behandelt zu werden.
Manchmal, ich gebe es zwar nicht offen zu, doch stimmt es, tut er mir wirklich
leid.
Warum ziehe ich dann immer mit,
wenn die anderen ihn runterputzen?
Quermann greift in seine
Gesäßtasche und zieht eine Packung Karo-Zigaretten hervor, widerliches
Stinkkraut, das er irgendwo für ein paar Mark fünfzig stangenweise von einem
Ossi aus ehemaligen DDR–Beständen erworben hat. Als sei Sascha der Star eines
Kinowerbespots, zündet er sich im Stile des Marlboro-Mannes mit einem
Streichholz eine filterlose Zigarette an. Der Qualm riecht bestialisch und erbringt
den ultimativen Beweis dafür, dass Passivrauchen gefährlich ist, aber er
überdeckt immerhin Quermanns Körpergeruch ein kleines Quantum.
Während Mark, Sven und Brauni über
den neuen Ford Escort diskutieren, Martin alleine mit dem Ball an seinen
Freistoßkünsten feilt, Tina weiter ins Nirgendwo blickt und Sascha Quermann mit
seiner Karo und seinem Körpergeruch rumstinkt, unterhalte ich mich mit Rassel.
„Dieser Quermann geht mir so auf
den Piss!“, raunt Andre mir zu. „Dem müsste man es mal so richtig zeigen.“
„Ach was. Der ist doch schon
gestraft genug. Guck ihn dir doch an“, sage ich.
„Darum geht `s nicht! Darum geht `
s nicht!“, keift er plötzlich los und zeigt mit dem Finger auf Quermann. „Der
Typ ist eine Beleidigung für die Menschheit. Seine Fresse ist zum Kotzen. Mir
wird jedes Mal schlecht, wenn ich diesen Arsch mit Ohren sehe. Außerdem
verstößt er ständig gegen ungeschriebene Gesetze des Schulhofs.“
Andre Faust weiß, dass Quermann ihn
hören kann, denn er bringt seine hasserfüllte Litanei laut genug unters Volk. Doch
Sascha steht weiterhin dumm grinsend umher und raucht.
Rassel ledert weiter. Er ist jetzt
stinksauer.
„Quermann verstößt dauernd gegen
Schulhofgesetze. Immer und immer wieder. Alleine der Gestank! Pfui!“, Rassel
rümpft die kleine Nase, verzieht sein gnomenhaftes Gesicht zu einer Fratze und
sieht dabei furchtbar hässlich und eigentlich noch viel schlimmer als Sascha
Quermann aus. „Und dann dieses Gesülze. Truck hier, Truck dort, Moped hier,
Moped dort. Das ist kein Moped. Ein gottverdammter Schrotthaufen ist das! Mehr
nicht. Und überhaupt. Warst du schon mal bei dieser Missgeburt zu Hause? Das
ist kein Zuhause, sondern der letzte Saustall. Da stinkt `s wie auf ` m
Scheißhaus. Eine Müllkippe ist das! Eine gottverdammte Müllkippe!“
Rassel feuert wutentbrannt die
Zigarettenkippe durch den grünen Gitterzaun, während Quermann, der einen
letzten Zug von seiner Karo nimmt, weiterhin dumm aus der Wäsche grinst und ich
mir einen wegkichere.
„Das ist nicht zum Lachen, Jonas“,
keift Rassel weiter. Das ist zum Heulen. Guck ihn dir doch an. Zum Heulen ist
das. Während du lachst, übertritt der Asi da hundertmal...“
„...die ungeschriebenen Gesetze des
Schulhofs“, beende ich den Satz für Andre und biege mich vor Lachen.
Ungeschriebene Gesetze, die Wut in
seinen Worten; manchmal habe ich den Eindruck, dass bei Rassel irgendeine
Sicherung durchgeknallt ist.
„Hey, was ist?“, ruft Brauni.
„Wollen wir langsam mal die nächste Partie in Angriff nehmen?“
„Endlich mal ` ne gute Idee“, johlt
Quermann los.
„Ich spiele nicht mit Quermann in einer
Mannschaft“, wirft Mark ein. „Sonst habe ich keine Chance.“
Auch darauf geht Sascha nicht ein.
Er grinst, raucht nicht mehr und freut sich einfach, dass es gleich losgeht.
Später, im Verlauf meines Studiums,
werde ich oft darüber nachdenken, wie ein einzelner Mensch nur eine solche
Menge an Demut ertragen konnte, warum er nicht einfach den Schulhof verließ und
nie wiederkam, sich vielleicht Freunde in irgendeiner Trucker-Kneipe suchte
oder permanent mit Frank Säufer Engel seine Zeit verbrachte.
Doch heute, anno 1992, verschwende
ich an derartige Überlegungen keinen Funken meiner jugendlichen Energie. Nur,
wie bereits erwähnt, manchmal tut mir Sascha Quermann irgendwie leid.
Weil keiner mit ihm in einer
Mannschaft spielen möchte, geht es für eine Weile hin und her, aber ihn nicht
mitspielen lassen, möchte endlich auch niemand. Es könnte ja rein zufällig
passieren, dass er einen Ball in die Visage bekommt oder einen Turnschuh vors
Schienbein, was sicherlich einen hohen Unterhaltungs- und Belustigungswert
besitzt. Schließlich erklärt Sven sich bereit, sich an Saschas Seite zu
stellen.
„Na los, Jonas, dann werden wir es
dem Deppen zeigen", raunt Brauni mir zu und gibt mir einen
kameradschaftlichen Klaps auf den Rücken.
Quermann und Sven stoßen an. Das
Spiel ist eröffnet.
Schnell merke ich, dass meine
Kondition in den Sommerferien arg gelitten hat und, was noch viel gravierender erscheint,
Sascha Quermann ordentlich spielt, viel besser als der Gelegenheitskicker
Brauni. Er verfügt über eine gute Grundschnelligkeit, führt das Leder technisch
versiert und gelegentlich sorgt er für elegant anzusehende Abschlüsse. Das eine
oder andere Mal lässt Quermann Brauni, der dafür bekannt ist, rigoros in die
Zweikämpfe zu gehen, und mich durch raffinierte Finten und Übersteiger recht alt
aussehen. Obendrein erzielt er noch drei Tore. Wenn wir ihn am ausgeblichenen
T-Shirt ziehen, wegschubsen oder gar von den Beinen zu holen versuchen,
reklamiert er nicht herum, sondern kämpft verbissen weiter. Und so kommt es,
dass, obgleich ich einen wundervollen Lupfer zum zwischenzeitlichen Ausgleich
fabriziert habe, beim Stand von 3:5 für das Duo Quermann, Vogel die Seiten
getauscht werden. Unser aller Gesichter leuchten in einem Rot, das den blonden hellhäutigen
Sven gar wie eine Leuchtboje aussehen lässt. Schwer gehen unsere Atemzüge
während der kurze Zigarettenhalbzeitpause, in der mir Martin gnädigerweise ein
paar Schlucke von seinem Mineralwasser spendiert.
Zweiter Durchgang.
Ich überwinde den inneren
Schweinehund und komme immer besser klar, spiele mich mit Brauni wahrlich ein,
so dass wir uns gelegentlich durch wundervolles Kurzpassspiel über den
Gummiplatz kombinieren.
Beim Stand von 8:8 umdribbelt
Quermann sowohl mich als auch Brauni und kommt über den Flügel weit in unsere Hälfte
hinein. Sven ist zentral mitgelaufen und
steht nun gefährlich frei vor unserem leeren Kasten.
„Spiel in die Mitte! Gib ab!",
ruft Vogel keuchend aus.
Quermann ignoriert seinen
Mitspieler und zieht aus spitzem Winkel flach aufs Tor. Jämmerlich kullert der
Ball zwei Meter vorbei, prallt gegen das grüne Gitter der Seitenbegrenzung und
rollt ins Spielfeld zurück. Auch wenn Quermann sicher was drauf hat; Roberto
Baggio ist er nicht.
Svens Gesicht scheint nun noch röter
zu leuchten und er vollführt eine kurze, wütende Geste mit beiden Armen.
Weiter geht’s.
Fünf Minuten später lautet der
Zwischenstand 9:9, was bedeutet, dass das nächste Tor entscheidet. Es kommt zum
Thriller–Finale.
Brauni legt den Ball aus der eigenen
Hälfte hoch vor, worauf ich diesen mit
einem artistischen Fallrückzieher perfekt erwische. Das Leder rauscht durch die
Luft und knallt an die Torlatte.
„Scheiße!“, schreie ich auf dem
Boden liegend. „Verdammter Mist!“
Mein Ehrgeiz ist jetzt voll geweckt
und ich will nur eines; dieses verdammte Spiel gewinnen.
„Weiter, Jonas! Weiter! Wir haben
sie gleich, Mann! Nochmal die letzten Kraftreserven einsetzten!“, feuert Brauni
mich an.
Weil wir alle immer erschöpfter
werden und die Kugel deswegen langsamer in den eigenen Hälften laufen lassen,
vergehen ein paar Minuten, ohne dass etwas Erwähnenswertes geschieht. Dann
dreht der technisch starke Sven auf, lässt Brauni in der gegnerischen Hälfte stehen.
Wenn er nun noch an mir vorbeikommt, bin ich der Verlierer. Er umspielt mich
mit einer lässigen Finte, so dass mir keine andere Wahl bleibt, als ihn mit
beiden Händen zu klammern und somit auszubremsen; Siebenmeter, klare Sache!
Hätte ich die Aktion bei Quermann
gebracht, wäre das Spiel ganz sicher weitergelaufen, aber bei Sven Vogel, der
einer von uns ist, gibt es kein Vertun.
Um meinen Schaden wieder
wettzumachen und da Brauni einen wahrlich lausigen Torhüter darstellt, stelle
ich mich zwischen die Pfosten.
Die Stirn in Konzentrationsfalten
gelegt, als ginge es um den entscheidenden Elfmeter in einem WM-Finale, legt
Quermann den Ball auf den Punkt. Er wartet einen Augenblick, läuft an, täuscht
mit einer kurzen Verzögerung, schließt mit dem Vollspann ab.
Besser kann man es nicht machen.
Hart und präzise schlägt die Kugel von mir aus gesehen links unten neben dem
gelben Pfosten ein und mein Abwehrversuch mit dem Bein muss dabei recht hilflos
wirken.
„Scheiße! Fuck!“, schreie ich, gehe
langsam vor Erschöpfung und Enttäuschung in die Knie.
Quermann führt einen obszönen
Freudentanz auf, bewegt höchst widerwärtig seine Hüften und sein Grinsen ist
doppelt breiter als üblich. Er genießt, das kann ein blinder mit Krückstock
erkennen, diesen kurzen Moment des Triumphs, was wiederum mein Blut zum Kochen
bringt.
Noch nie konnte man mich einen
guten Verlierer nennen, doch jetzt diesen Deppen dort wie einen geistig
Behinderten tanzen zu sehen, treibt mir die Zornesröte auf das ohnehin schon
von der Anstrengung eingefärbte Gesicht.
Ich rappele mich hoch, nehme den
Ball auf. Etwa drei Meter vor mir tanzt Sascha Quermann, zappelt sich immer
weiter einen ab.
„Was haben wir, Jungs? Wir haben
gewonnen, gewonnen, gewonnen!“, jubelt er herum.
Ich ertrage diesen Affen und die
Niederlage nicht. Dieser kleine, unterprivilegierte Asoziale, das ist
unübersehbar, macht sich über mich lustig. Aber nicht mit mir, nicht mit Jonas
Twelker, Sohn eines Zahnarztes und Kieferchirurgen sowie einer promovierten Molekularbiologin!
„Was haben wir, Jungs? Wir haben
gewonnen, gewonnen, gewonnen!“
Quermann braucht dringend eine
Abreibung! Ja, die braucht er ganz entschieden!
Hoch in die Luft werfe ich den
Fußball. Die Lederkugel steigt auf, erreicht ihre Gipfelhöhe und strebt zurück
in Richtung Erdmittelpunkt. Mein starkes rechtes Bein saust durch die
Augusthitze und es erwischt den Ball perfekt mit dem Vollspann, was ihn zu
einem Projektil werden lässt, welches Quermann genau auf die Stirn trifft.
Plopp!
Volltreffer!
Augenblicklich erstirbt das
Getanze. Quermann torkelt zwei Schritte rückwärts und geht zu Boden.
KO in der erste Runde!
Da liegt er nun gleich eines Käfers
auf dem Rücken und stöhnt jämmerlich, wobei seine Augen leicht verdreht sind
und hinauf zum wolkenlosen Himmel schielen.
Um mich herum ist eine derartige
Heiterkeit ausgebrochen, dass sogar die eher emotionslose Tina geiert.
„Oh, Entschuldigung, Sascha. Das
war Absicht“, sage ich, bevor mich ein Lachanfall heimsucht.
Mark sitzt auf der Mauer, schlägt
die Hände auf die Schenkel und brüllt vor Lachen.
Hoch klatschen Rassel und ich ab.
„Bingo! Der hat gesessen. Ein Millionentreffer.
Du hast die Macht, Jonas“, freut Andre Faust sich.
Sven kommt zu mir, um mir seine Anerkennung
für diese Volleyabnahme auszusprechen. Brauni tätschelt mir kameradschaftlich den
Rücken und hat von seinem heftigen Freudenausbruch gar feuchte Augen bekommen.
Ich nehme meine Zigaretten von der
Mauer und zünde mir eine an.
Der Ball, der Sascha Quermann zu
Boden schickte, rollt noch immer über das Spielfeld, bis Mike ihn grinsend mit
dem Fuß aufnimmt und hochzuhalten beginnt.
Quermann kommt stöhnend auf die
Beine. Seine blauen Augen funkeln wahrlich böse, was man so zuvor noch nicht
gesehen hat. Er fährt sich unbewusst durch die fettigen, verschwitzten Haare
und fixiert mich mit einem Blick, der, wenn er töten könnte, mir auf der Stelle
einen Herzstillstand bescheren täte. Auf seiner Stirn prangt eine kreisrunde
rote Stelle.
„Ich hau dir gleich eine rein, dass
du Rad schlägst“, fängt er an. „Ich hau dir eine rein, dass du hier dreimal
über den Platz gehst.“
Ob es an dem Kopftreffer liegt?
Oder daran, dass ich etwa anderthalb Jahre jünger bin?
„Ich box` dich weg, Jonas. Ich mach
dir die Eier breit“, faucht er weiter.
Nachdem Quermann ganz nah an mich
herangekommen ist, verpasst er mir mit beiden Armen einen anständigen Schubser
vor die Brust. Ich stolpere einige Schritt nach hinten und kann froh sein, dass
Gleichgewicht dabei halten zu können.
Das geht gar nicht! Das wird er
mir büßen! Der Hurensohn!
Ich greife in die Gesäßtasche
meiner Diesel-Jeans und hole mein Butterfly–Messer hervor, welches mein
volljähriger Cousin mir in diesen Ferien gekauft hat und welches dieser Tage mein
stetiger Begleiter ist. Ich habe lange damit trainiert, so dass die Klinge
einen sauberen Tanz hinlegt und metallisches Klirren über den Gummiplatz schwebt.
„Pack mich noch einmal an und ich
stech` dich ab, Quermann.“
Es ist natürlich nur scherzhaft
gemeint, denn niemals, so glaube ich in diesem August des Jahres 1992
jedenfalls, könnte ich tatsächlich auf einen Menschen einstechen, selbst wenn
dieser Mensch Sascha Quermann heißt.
Sämtliche Anwesende grinsen und
beobachten das Geschehen aus großen Augen heraus, aber es ist und bleibt
lediglich eine Show, ein klein wenig Unterhaltung im Sommertheater.
„Wenn du das Ding nicht wegsteckst,
wende ich Karate an“, droht Quermann, der immer mal wieder vorgibt,
fernöstliche Kampfkünste zu beherrschen.
Er baut sich breitbeinig vor mir
auf und blickt dann zu Rassel herüber, der lässig an der Mauer lehnt.
„Faust, sag ihm, dass, wenn er mich
mit dem Messer bedroht, ich Karate anwenden darf.“
Rassel zieht an seiner Marlboro und
bläst rhythmisch roboterhaft kleine blaue Rauchwölkchen aus.
„Halt die Fresse, Mann! Kannst du
nicht einmal dein beklopptes Maul halten?“, fährt er Quermann grob an.
„Komm her! Ich stech ` dich ab,
Alter“, rufe ich und kann einen Lachanfall kaum noch unterdrücken.
Das Balisong klirrt.
„Ich warne dich, Jonas. Tust du
einen Schritt mit dem Spielzeug auf mich zu, dann mache ich einen Karatetritt.
Das ist kein Spaß mehr! Wenn du mich mit einem Messer bedrohst, wende ich
Karate an. Das ist Selbstverteidigung. Das darf ich dann.“
Uns trennen etwa anderthalb Meter
freier Raum voneinander, in welchen nun Sven Vogel tritt, dessen Gesicht noch
immer rot wie eine reife Tomate leuchtet.
„Ey, Quermann! Da oben ist deine
Schwester“, sagt Sven und deutet mit dem ausgestreckten Arm in Richtung der
Hochhäuser.
Quermann dreht reflexartig den Kopf
und just in diesem Moment tritt Sven ihn voller Gewalt mit dem rechten Fuß
zischen die Beine. Quermanns Hände fahren an seine Hoden, sein Gesicht wird zu
einer extrem hässlichen, kaum näher zu definierenden Grimasse. Er röchelt. Er
bricht zusammen.
„Das ist dafür, dass du vorhin im
Spiel nicht abgegeben hast, du dummes Schwein“, brüllt Vogel.
Quermann krümmt sich auf dem roten
Tartan, rollt sich auf die Seite. Während er weiter röchelt und nach Luft
japst, fangen Tränen über seine rechte Wange zu laufen an.
Alle lachen, amüsieren sich
königlich und klatschen mit Sven hoch ab, um ihm dadurch Respekt und
Anerkennung zu zollen.
Quermann, der nun endlich wieder
Luft bekommt, fängt das Schreien an und windet sich dabei weiter auf dem
Spielfeld.
„Oh verdammt! Tut das weh! Mann!
Ahhhh!“
„Ich setze mich unten auf die Bank.
Das Gejaule von dem Kerl geht mir tierisch auf den Sack. Kommt wer mit?“, fragt
Mark.
„Eine gute Idee. Ich habe eh keine
Lust mehr, zu spielen“, sage ich.
„Gerade jetzt sollten wir spielen.
Wo er doch so gut hier in der Mitte liegt. Gerade richtig“, erklärt Sven.
„Oh! Das willst du deinen Schuhen
wirklich antun?“, gibt Brauni grinsend zu bedenken.
„Ahh. Scheiße! Wie weh das tut!“,
brüllt Quermann.
Quermann windet sich in einem fort.
Seine heiseren Schmerzensschreie sind eine durchgehende Litanei in der Wärme
des beginnenden Abends. Die Sonne scheint auf ihn herab und in ihrem Licht
glänzen seine Tränen silbern.
Wir gehen an Quermann vorbei; erst
Sven, dann Brauni, Mark, ich, Tina, Martin, der die ganze Zeit schadenfroh vor
sich hin grinst. Als Rassel zuletzt vom Feld geht, wirft sein gnomenhafter
Körper einen langen Schatten, der unheilvoll über den sich windenden und
weinenden Quermann hinwegzieht. Kurz vor der Gittertür bleibt Andre jedoch
stehen und beginnt, sich langsam und roboterhaft auf der Stelle zu drehen,
bevor sein Weg ihn zu Sascha zurückführt, der noch immer vor Schmerzen brüllend
auf der Seite liegt.
„Hör auf zu jaulen, du Missgeburt!“,
keift Rassel.
Der Aufforderung leistet Quermann
keine Folge.
„Aua!! Ahhh! Das tut so weh! Ahhh!“
„Verdammt noch mal! Ich habe
gesagt, du sollst mit dem Gejaule aufhören!“
Bis auf die Protagonisten stehen wir
jenseits des Zauns und betrachten durch das Gitter gespannt, was nun geschieht.
„Du sollst dein gottverdammtes Maul
halten! So schlimm ist es nicht gewesen. Was sollen unsere Großväter an der
Ostfront gesagt haben, als ihnen die Bolschewisten die Glieder abgeschossen
haben auf dem Schlachtfeld“, faucht Rassel.
Quermann brüllt und brüllt und
brüllt und brüllt immer weiter, wobei seine Tränen unversiegbar erscheinen.
Rassel holt aus und tritt Quermann
in den Hintern. Obgleich der Tritt schon recht heftig daherkommt, scheint Sascha
ihn kaum wahrzunehmen, da die Schmerzen in seinem Hoden ihm wahrscheinlich noch
immer gewaltige Pein bereiten.
Rassel verzieht das gnomenhafte Gesicht,
spuckt Quermann in die Visage; volle Breitseite. Der Speichel folgt der
Schwerkraft, läuft Quermann über die Wange und vermischt sich dabei mit seinen
Tränen.
Rassel ist vollkommen
durchgeknallt. Die Szene eben hat es bestätigt.
Plötzlich tut mir Quermann
unendlich leid. Etwas in mir schreit auf, Rassel zu sagen, wie abartig es sei,
was hier gerade ablaufe, aber ich tue es, warum auch immer, nicht, schwimme mit
dem Strom, lache mit meinen Freunden im Chor.
„Du alter Bastard, du! Geh doch
heim und fick deine pferdegesichtige Mutter. Dein Arsch steht auf meiner
Liste“, faucht Rassel, wendet sich von Quermann ab, verlässt den Gummiplatz.
„Mann, Mann, Mann!“, macht Rassel,
nachdem er das Eingangstor krachend hinter sich zugeschmissen hat. „Hab ich einen
Durst. Wer kommt mit zur Tanke?“
Tina schüttelt nur den Kopf.
„Ich nicht. Ich gehe jetzt duschen
und wollte nachher noch kurz mit Thomas ins Pendel“, antwortet Sven.
Das Pendel nennt sich unsere
Stammkneipe an der Hauptstraße im Herzen von Brackwede. Thomas macht eine
Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann und hat daher meist sehr spät Feierabend.
„Ich muss morgen früh raus und mit
dem Gesellen weiter an dem Sierra rumschrauben. Außerdem habe ich Terminator
II auf Video und den wollte sich mir heute Abend noch reinfeiern“, erklärt
Brauni.
„Ich muss rauf“, sagt Martin.
„Vielleicht komme ich später nochmal runter.“
Martin, fast vierzehn Jahre alt, wohnt
in einem der Hochhäuser, die dem Schulhof direkt gegenüberliegen. Er will
seiner Mutter zuvorkommen, bevor diese das Küchenfenster im vierten Stock
öffnet und herausruft: „Martin! Komm nach oben! Essen ist fertig.“
Das tut sie nämlich oft und Martin
sind diese Aktionen dabei stets ziemlich peinlich. Seine Mutter, tief in der
Sekte der Zeugen Jehovas steckend, ist ihm im Großen und Ganzen peinlich, weil
er, obgleich aus seinem Mund niemals ein negatives Wort über diese
Religionsgemeinschaft kommt, insgeheim die Zeugen Jehovas hasst. In ein paar
Jahren, wenn er alt genug ist, um seinen freien Willen ausleben zu können, wird
Martin aus dieser Sekte austreten, was dann unweigerlich zur Trennung zwischen
Mutter und Sohn führt.
„Also, ich bin dabei“, ruft Mark
begeistert.
Genau wie Rassel und ich befindet
sich Mark auf der Zielgerade der Ferien. In ein paar Tagen startet die
Sekundarstufe II ebenfalls für ihn. Sein Vater, ein schwer konservativer
Oberstudienrat, plant dessen Zukunft akribisch und hat für den Sohnemann eine
Laufbahn im höheren Finanzwesen vorgesehen. Die Sache zwischen Mark und seinem Erzeuger besitzt gar seltsame
Züge. Auf der einen Seite vergöttert er seinen Alten, hat aber
komischerweise, jedenfalls kommt es mir
so vor, auch Angst vor ihm.
„Ich komme auch mit. Ein paar Bier
sind immer gut“, sage ich grinsend.
Wir verabschieden uns vom Rest und
verlassen den Schulhof. Hinter uns liegt Quermann noch immer auf dem Tartanfeld
und weint vor Schmerz und Demut. Sein Schluchzen verfolgt uns über die Grenzen
des Schulhofes hinaus.
Die Tankstelle trägt das gelb-blaue
Westfalen–Logo und liegt stadtauswärts an einer stark befahrenen Straße , die
mittig vom Schienenstrang der Straßenbahnlinie 1 zweigeteilt wird.
In der relativ kleinen Station
säuselt die Klimaanlage und es ist im Vergleich zu draussen schier eisig kalt.
Patrick Steinmann, ein junger,
schwerer Mann aus der Umgebung, steht hinter dem Verkaufstresen. Über ihn geht
das Gerücht um, er könne drei Bratwürste auf einmal verdrücken. Persönlich
gesehen hat das freilich noch niemand. Wir dürfen ihn bei seinem Spitznamen
Pätti nennen, aber man sollte dringend drauf achten, dass einem nicht aus einem
Versehen heraus das Wort Fetti über die Lippen kommt. Denn dieses kleine Wort
löst bei Steinmann schwere cholerische Anfälle aus, die noch viel schwerer als
er selber sind, was ich mit dreizehn Jahren mal habe erleben müssen.
Kurze Begrüßung.
„Hey, Pätti!“
„Ihr schon wieder! Gut, dass ich
gerade Bier nachgefüllt habe.“
Einen Großteil des Shops nehmen
Kälteschränke mit gläsernen Türen ein. Links vom Kunden aus gesehen stehen die
Softdrinks, die uns keines kurzen Blickes würdig sind, so dass wir uns
entschlossen nach rechts orientieren, wo verführerisch schön die gekühlten
Contis lagern. Contis lautet der umgangssprachliche Begriff für Trägerpackungen
eines lokalen Bieres; zehn Flaschen herrliches Herforder, in meinen Augen eines
der besten Biere der Welt, wenn nicht gar das beste überhaupt.
Rassel öffnet die Schiebetür. Ich
klemme mir einen Container unter den Arm.
„Was! Ein Conti für drei Leute. Wir
brauchen zwei, verdammte Hacke“, tönt Rassel und es gibt weder von Marks noch
von meiner Seite Einspruch.
Zurück auf dem Schulhof setzen wir
uns auf eine Bank unterhalb des Tartanfeldes. Die Kinder aus dem Sandkasten
sind samt ihrer hübschen Mütter verschwunden, Quermann ebenfalls und auf dem
Gummiplatz spielen nun technisch gute, türkische Jungs, gegen die wir schon so
manche Schlacht auf dem Fußballfeld ausgefochten haben.
„Wie sieht es aus? Ein kleines
Spiel vier gegen vier. Ich spiele dann bei euch mit", ruft Adnan zu uns
herab.
„Wir haben schon gezockt. Jetzt
wollen wir etwas saufen zur Belohnung. War echt heiß heute. Sorry", lautet
meine Antwort.
"Okay. Lasst mir aber eine
Pulle über für später", fordert Adnan grinsend und erntet von uns drei
nach oben gereckte Daumen.
Ich frage mich, wo Sascha Quermann
wohl stecken mag. Wahrscheinlich wird er zu seinem Kumpel Frank Säufer Engel
gelaufen sein, der keine dreihundert Meter von hier entfernt in einem Haus
voller schäbiger Einzimmerappartements haust; jenen Absteigen, die dem Bewohner
einen jeden Tag aufs Neue in Erinnerung bringen, dass man fast ganz unten
angelangt ist.
Rassel reißt den ersten Container
auf. Er öffnet drei Flaschen und verteilt das Bier. Wir stoßen an.
„Wisst ihr, was ich morgen mache?“,
wirft Rassel ein.
„Quermann treten und in die Fresse
spucken?“, fragt Mark grinsend gegen.
„Verdammte Hacke!“, nöhlt Rassel.
„Könnt ihr nicht einmal diesen gottverdammten Hurensohn aus dem Spiel lassen.
Das Thema ist für mich durch heute. Nein. Ich werde mir einen PC kaufen.“
„Einen richtigen PC? Nicht einen
Amiga 2000 oder so?“, frage ich.
„Was soll ich denn damit? Ich will
nicht spielen, sondern mit dem Teil arbeiten. Nein, einen richtigen PC. Mit
Tower, Drucker, Monitor und allem, was dazu gehört.“
Weil wir alle noch auf Commodore
Amiga - ich persönlich habe gar noch den guten, alten Brotkasten C64 neben dem
Amiga stehen – oder gar wie Thomas und Sven auf Schneider Amstrad herumreiten,
wäre Rassel nach einem solchen Kauf ein wahrer Pionier.
„Die Teile kosten richtig Asche“,
wirft Mark ein.
„Dafür habe ich auch fast die
ganzen Ferien gekeult. Die letzten Wochen sogar Nachtschicht. Bei Thyssen
Bleche auf die verfluchte Stanze legen. Ist eine Heidenschinderei. Geht mächtig
auf die Knochen. Aber die Kohle stimmt. Von dem restlichen Geld mache ich dann
noch den Führerschein. Jedenfalls einen Teil davon.“
„Und was willst du eigentlich nach
der Höheren Handelsschule machen? An die FH gehen und BWL studieren oder doch
erst eine kaufmännische Ausbildung?“, wechselt Mark durch eine Frage das Thema.
„Ich will eine Ausbildung zum
Bankkaufmann machen. Das steht jetzt mehr oder minder fest.“
„Da bewerben sich ziemlich viele.
Da herrscht eine dicke Konkurrenz um die Ausbildungsstellen, wie mir so eine
Berufsberaterin vom Arbeitsamt gesagt hat, die im Februar bei uns in der Penne
gewesen ist“, gebe ich zu bedenken.
„Du musst nur gut genug sein. Und
skrupellos. Besser und skrupelloser als die anderen. Das ist die Kunst. Der
Bessere gewinnt, der Schwächere geht unter. Es ist wie beim guten, alten
Charles Darwin.“
„Und bist du besser als all die
anderen?“, will ich wissen.
„Wenn ich nächstes Jahr mit der
Schule fertig bin, habe ich ein wirtschaftliches Fachabitur. Und meine Noten
sind gut, stellenweise sehr gut. Das sind schon mal keine schlechte
Voraussetzungen, einen solchen Ausbildungsplatz zu bekommen.“
Rassel trinkt sein Pils mit einem gigantischen Schluck leer und rülpst nach dem
Absetzen kräftig, worauf gar die türkischen Jungs oben auf dem Gummiplatz
grinsend Applaus spenden. Obwohl direkt neben der Bank ein Mülleimer an einen
Baum gekettet ist, schleudert Rassel die leere Flasche achtlos ins Gebüsch, wo
sie dumpf aufschlägt, ohne zu zerbrechen. Wenn Schulhausmeister Werner Mahnken,
der uns allesamt schwerlich ausstehen
kann, sie findet, bekommt er wieder einen seiner berühmten Tobsuchtsanfälle.
Erst zündet Rassel sich eine
Zigarette an, dann greift er in den Container und nimmt sich eine weitere
Flasche Bier.
Plopp; gekonnt mit dem Feuerzeug
geöffnet.
Die Dämmerung bricht über Ostwestfalen
herein und taucht den Schulhof in ein beinahe magisch wirkendes Licht. Unser
lockeres Gequatsche setzt sich fort, worüber Jungs eben so reden; Mädels,
Autos, Filme, wobei Mark eindeutig den ruhigsten Part verkörpert. Er wirkt bei
ihm immer so, als überlege er lieber doppelt, bevor er den Mund zum Sprechen
öffnet. Er ist damit der Gegenpol zu Andre Faust, der häufig in seinen
Redeschwallen kaum zu bremsen ist, und auch optisch liegen Lichtjahre zwischen
meinen beiden Freunden. Im Unterschied zu dem kleinen, gnomenhaften Andre ist
der junge Herr Wenzel groß gewachsen, schlank und hat ein makelloses,
engelhaftes Gesicht. Um seine gute Haut beneide ich ihn wahrlich, wo ich doch
ständig mit Clearasil gegen Pickel ankämpfen muss. Mark hat blonde, leicht
gelockte Haare und stahlblaue Augen, was ausgezeichnet zu dem zauberhaften
letzten Schein dieses Augusttages passt und ihn in diesem Licht wie die Gestalt
aus einer nordischen Heldensage aussehen lässt.
Langsam weicht der Abend der Nacht,
folgt Dunkelheit auf Dämmerung. Die türkischen Jungs beenden ihren Abendkick
und selbstverständlich erhält Adnan sein Bier.
Der zweite Container kommt an die
Reihe.
Wieder feuert Rassel, nachdem er
den Inhalt recht schnell gekippt hat, eine leere Bierflasche ins Gebüsch.
Klirr! Glas zerspringt. Da muss die
Pulle wohl auf einem Stein gelandet sein.
„Krach!“, sage ich grinsend. „Da
wird Old Mahnken sich aber freuen. Ich sehe ihn schon fluchend mit einem
Kehrblech durchs Gebüsch kriechen."
„Scheiß auf ihn“, faucht Rassel und
ich lache. „Scheiß auf dieses gottverdammte Arschloch. Soll er sich doch an den
Scherben die Pulsadern aufschneiden.“
„Wo wir schon bei Mahnken sind,
muss ich euch noch eine Geschichte erzählen. Also einmal, das war letztes Jahr
im Frühjahr, saßen Toni und ich unter dem Schuleingang auf dem Boden, weil es
geregnet hat. Jedenfalls saßen wird da und Toni hat mir von so einem Mädel
erzählt, das er im Zelturlaub kennengelernt hat“, fängt Mark an.
Der Alkohol hat seine Zunge nun
deutlich gelockert und in diesem Zustand wirkt er sehr entspannt und zufrieden,
mit sich und dieser Welt vollkommen im Reinen.
„Toni erzählt dauernd irgendwelche
Weibergeschichten. Das meiste davon ist nur Rumgekrücke. Hundertprozentig“,
füge ich an.
Toni sieht ein wenig aus wie Jürgen
Klinsmann und spielt als Stürmer auch einen ähnlichen Fußballstil. Er macht
eine Ausbildung zum Industriemechaniker bei Thyssen hier in Brackwede und lebt
mit seinen fünf Onkels in den Hochhäusern.
„Ich weiß, dass er viel Mumpitz
redet, wenn es sich um die Mädels dreht. Aber darum geht es bei dieser
Geschichte auch nur am Rande. Es geht da mehr um Mahnken. Also Toni und ich
sitzen da und Toni fängt an, zu erzählen, wie er mit der Tussi im Zelt
rummacht. Wie er mit ihr knutscht, ihr die Titten leckt, sie fingert, sie ihm einen
bläst und er ihr schließlich seinen Prügel in die Möse rammt. Über eine halbe
Stunde erzählt Toni so rum. Bis ins kleinste Detail.“
„Das hat er bestimmt in einem Porno
gesehen. Hundertpro“, gebe ich zu bedenken.
„Mahnken“, wettert Rassel. „Du
sagtest, Mahnken spielt in deiner Geschichte die Hauptrolle. Also wo bleibt
er?“
„Ja, ja. Ich komme schon noch
drauf. Jedenfalls erzählt Toni, was er so alles mit dem Mädel gemacht hat.
Irgendwann stehe ich auf, weil ich eine rauchen will und mein Feuerzeug aus der
Tasche holen möchte. Und da sehe ich ihn, Mahnken! Er steht direkt hinter der
Schultür an der Scheibe und holt sich einen runter. ` ist sich voll einen am Abwichsen. Die Hose
hängt ihn an den Knöcheln und die Rübe ist rot wie eine Tomate. Der kloppt sich
einen auf Tonis Fickgeschichte.“
„Laber!“, rufe ich aus. „Das hast
du geträumt. Das kaufe ich dir nicht ab.“
„Doch, doch, Jonas“, versichert
Mark eifrig. „Ich schwöre! Wenn ` s nicht wahr ist, will ich Quermann heißen.
Frag Toni, wenn du es mir nicht glaubst.“
Mark trinkt einen Schluck
Herforder.
Ich will was sagen, stelle mir
allerdings die geschilderte Situation vor und da meine Fantasie von jeher recht
lebhaft ist, bekomme ich einen Lachanfall.
„Ich glaube es dir, verdammte
Hacke“, krächzt Andre. „Dieser Mahnken ist so einer. Der steht auf solche
Geschichten. Das ist ein richtiger Spanner. Ein gottverdammter Spannerarsch.“
Mark, der gerade einen weiteren
Schluck Bier getrunken hat, prustet los, so dass das Herforder fontänenartig
aus seinem Mund spritzt.
Wir lachen, bis wir Bauchschmerzen
haben.
Kapitel 3
(Bonn im Sommer 2008)...ticktack,
ticktack, ticktack, ticktack.
Die Realität bricht wieder über
mich herein und mit ihr kehren zu sofort die seelischen und körperlichen
Schmerzen zurück. Langsam setze ich mich in meinem Stuhl kerzengerade auf und
weiß im Moment nur, dass dringend mit Bielefeld telefoniert werden muss. Einen
Moment ruht mein Blick auf dem Diensttelefon, doch dann sagt mir meine innere
Stimme aus welchen Gründen auch immer, dass es besser ist, den
Festnetzanschluss daheim zu benutzen. Außerdem habe ich die Nummer beim besten
Willen nicht im Kopf.
Dann sticht ein bestialischer
Gestank, eine Mischung aus schalem Bier und saurer Magenflüssigkeit meine Nase.
Richtig! Meine schleimige Kotze
liegt im Mülleimer.
Natürlich habe ich keine
Plastiktüte in den Eimer gesteckt, was die Sache der Reinigung äußerst verkompliziert,
aber der Mülleimer bedarf dringend einer Säuberung, denn sonst stinkt am Montag
das gesamte Zoologische Institut.
Vielleicht kann es dir aber auch
vollkommen Latten sein, was nach diesem Wochenende sein wird! Vielleicht sitzt
du am Montag schon hinter Schloss und Riegel, Freund Twelker!
Ängstlich schleiche ich in das nahe
WC und reinige den Mülleimer grob und vollkommen gedankenverloren mit lauwarmem
Wasser und der Seife aus dem Spender.
Danach geht es auf dem schnellsten
Weg nach Hause zurück, wobei genau wie auf der Hinfahrt wenig von der mich
umgebenen Welt wahrgenommen wird.
Kaputt von der Radelei in der
Hitze, dem gestrigen Gelage und dem seelischen Stress führt mein erster Weg in
die Wohnung und zum Kühlschrank.
Bier oder Wasser? Wasser oder
Bier? Diesmal fällt die Entscheidung leicht, mein Freund!
Mit einer geöffneten Flasche
Bitburger in der Hand begebe ich mich an meinen Arbeitsplatz, wo der feste Teil
unserer ISDN-Telefonanlage wartet. Die Nummer finde ich rasch unter dem Menü eingehende
Anrufe. Zweimaliges Tuten dringt in mein Ohr, bevor Andre Faust in der Leitung
ist.
„Und?“, fragt Rassel.
„Ja. Ich habe was bekommen. In mein
Postfach an der Uni“, meine Worte klingen extrem verzweifelt. „Verdammter Mist!
Scheiße!“
„Das kann man wohl sagen“,
antwortet Rassel kurz.
„Hat...“, ich stocke. „...hat Mark
auch so ein Päckchen bekommen?“
„Keine Ahnung. Ich habe ihn noch
nicht erreichen können.“
„Und...und...was machen wir
jetzt?“, lautet meine hilflose Frage.
„Ich denke, wir sollten zunächst
auf Mark warten. Wenn ich mit ihm gesprochen habe, rufe ich dich zurück“,
schlägt Andre Faust vor.
„Okay. Das ist wahrscheinlich
erstmal das Beste. In jedem Fall gebe ich dir meine Handynummer. Dann kannst du
mich immer und überall erreichen.“
Nach dem Gespräch bleibe ich sitzen
und starre Löcher in die Umgebung. An
der Zimmerdecke fällt mir ein kleiner Feuchtigkeitsfleck auf, den ich heute zum
ersten Mal wahrnehme. Bevor er sich vergrößert, sollte man den Vermieter informieren,
aber vielleicht ist es auch vollkommen überflüssig, sich mit einer solchen
Nichtigkeit zu beschäftigen, wenn einem das Gefängnis oder die Anstalt für geistig
gestörte Straftäter droht.
Glühendes Metall köchelt in meinem
Magen, die Schlucke werden größer und die Erinnerungen an eine Nacht im Sommer
1996 klarer; der finstere Wald, die Gruppe junger Männer in dunkler
Armeekleidung.
Erinnere dich besser nicht
weiter, Freund Twelker! Denn das geht auf die Pumpe!
Krampfhaft versuche ich, meine
gesamte Konzentration in eine andere Richtung zu lenken.
Bei diesen Anstrengungen streift
mein Blick das gerahmte Foto auf dem Schreibtisch, welches Dilek und mich in einem
der Straßencafés von Montmartre zeigt. Die Aufnahme besitzt eine hohe Qualität
und wurde von einem japanischen Touristen geschossen, den wir im letzten Sommer
einfach Dileks Spiegelreflexkamera in die Hand drückten. Normalerweise halte
ich mich nicht für besonders fotogen, aber auf diesem Bild sehe ich fantastisch
aus, und Dilek, die mit Lichtbildaufnahmen wesentlich weniger Probleme hat,
übertrifft mich in ihrer orientalischen Schönheit sogar noch. Aus unseren
Gesichtern strahlt das reine Glück und glücklich sind wir auch noch heute. Oder
sollte man besser sagen, bis heute sind wir glücklich, wer weiß, was morgen geschieht?
Auf einmal fange ich zu weinen an,
vergrabe mein Gesicht in den Händen und heule wie ein Hund, der einsam und
allein in einem verfallenen Schloss haust.
Kapitel 4
(Bonn im Sommer 2008) Vor einer
Viertelstunde rief meine Mutter an und vor gut einer Stunde Dilek.
Bei meiner Mutter konnte ich mich
noch so gut verkaufen, dass sie nun den Glauben hat, bei ihrem Sohnemann sei
alles in Ordnung. Dilek hingegen roch Lunte und fragte mich immer wieder, ob
alles okay sei, denn meine Stimme höre sich arg bedrückt an. Meine Ausrede
lautete, es herrsche momentan ein leichter Stress zwischen Professor Ruländer
und mir.
Etwas Stress mit dem guten,
alten Heribert, wenn es nur mal das wäre.
Jetzt sitze ich auf meinem Sofa,
starre auf Festnetz- und Mobiltelefon gleichzeitig und warte auf Andres Anruf.
Es ist wirklich wunderlich, dass trotz des gewaltigen Stresses, der momentan
auf mir lastet, eine bleierne Müdigkeit ihre Arme über mich ausgebreitet hat.
Während der Fernseher sinnfreies
samstägliches Vorabendprogramm zeigt, fallen mir die Augen zu und ich döse weg.
Dilek erscheint am violetten
Strand eines smaragdgrünen Ozeans, über dessen Wogen ein blauer, beringter
Gasplanet im finsteren Firmament hängt. Mein Schatz trägt enge Jeans und ein
schwarzes Oberteil, wie sie es auch auf Erden bevorzugt, und lächelt mir auf
ihrem Spaziergang durch den Sand zu. Dann verschwindet sie mitsamt der Szenerie
von der Bildfläche und ein altes Abbruchhaus, welches an den Eisenbahnschienen
in Brackwede steht, taucht aus dem Nirgendwo auf. Wer durch sein Inneres läuft,
stösst auf allerlei Gerümpel - Tische, Stühle, Aktenschränke, zerbrochenes
Glas, Ordner, loses Papier, zerschlagene Waschbecken - und sieht, dass viele
der Wände aufgestemmt sind. Vermutlich ging es den gesichtslosen Vandalen dabei
um das Kupfer der Rohre, das man für ein paar Mark auf dem Schrottplatz
verkaufen kann. Sven Reinkober, ein blonder Junge, und ich spielen in dem
Gemäuer. Wir sind zehn Jahre alt und besuchen die vierte Klasse der Grundschule
zusammen. Heute lernen wir jedoch nicht, sondern jagen imaginäre Aliens durch
die Räume und Etagen der ehemaligen Kleinmanufaktur und sind für diesen Kampf um
das Überleben des Planeten Erde schwer bewaffnet; M-16 Sturmgewehre und
Browning Automatikpistolen aus Plastik, Made in China. Immer, wenn man bei der
M-16 den Abzug durchzieht, macht es brrrrrrr, brrrrrrr, wohingegen die Pistolen
Platzmunition benötigen und richtig knallen. Wir toben so lange durch das
Gebäude, bis wir auf einen in einem Schlafsack eingemümmelten Obdachlosen
treffen, der uns trunken angrölt: „Ey, was ist das denn? Kann man denn
nirgendwo mehr in Ruhe pennen? Verdammte Tat, Mann!“
Der Typ kann uns ganz sicher
umbringen! Da hilft die schwere Bewaffnung auch nichts. Wir rennen davon, die
abgenutzten Treppen herunter, raus aus dem alten Haus. Vor dem Gemäuer stürze
ich, scheuere mir die Jeans am rechten Knie auf, erhebe mich schnell und renne
weiter...
...dip dip dip....dip dip dip...
...mein Telefon klingelt...
Ich muss eingeschlafen sein.
Sofort, als habe mir ein Geist
seine eiskalte Hand auf die Stirn gelegt, bin ich wieder hellwach.
Markus Heim leuchtet auf dem
Display des mobilen Festnetztelefons auf.
„Hallo.“
„Ei, der Kollege“, quakt Markus in
den Hörer. „Habe ich dich aus dem Bett geholt?“
„Ne, das nicht. Bin auf dem Sofa
eingeschlafen.“
„Du hörst dich aber nicht besonders
fit an“, stellt Markus Herbig vollkommen richtig fest. „Immer noch fertig von
gestern?“
„Du sagst es. Ganz schön fertig. `
habe eigentlich den ganzen Tag nur im Bett gelegen“, lüge ich die dritte Person
innerhalb weniger Stunden an. „Wie geht ´ s dir denn so?“
„Och geht. Langsam werde ich fit. `
habe allerdings auch bis drei Uhr im Bett gelegen. Nachdem ich die SMS
geschrieben habe, bin ich direkt wieder eingepennt. Es war schon ein bisschen
hart gestern, muss ich sagen.“
„Ja. Die letzten Biere müssen
schlecht gewesen sein“, erzähle ich, weil mir sonst nichts besseres einfällt.
Gute zehn Minuten reden wir über
den gestrigen Abend, wobei ich gedanklich ganz woanders bin und zu allem nur Ja
und Amen sage.
„Was hältst du davon, wenn du auf
ein, zwei Katerbier zu mir rüberkommst? Nach Weggehen ist mir heute auch nicht
zu Mute. Wir können uns den Boxkampf ansehen“, schlägt Markus Herbig vor.
„Heute besser nicht. ` bin zu
kaputt.“
Markus, der immer etwas um die
Ohren braucht, weil er so schlecht allein sein kann, lässt nicht locker.
„Ich kann auch rüber kommen. Ist kein Thema.“
„Ne, lass mal. Ein anderes Mal
gerne, aber heute bin ich einfach zu fertig. Werde den Abend auf dem Sofa
verbringen und möglich zeitig ins Bett gehen.“
„Na gut“, gibt Markus Herbig
schließlich nach. „Dann verschieben wir das. Deine Dilek ist ja noch eine Woche
weg. Was hältst du von Mittwoch? Da ist unter der Woche während der
Semesterferien eigentlich immer was gebacken irgendwo.“
„Hört sich nicht schlecht an“,
antworte ich automatisch. „Lass uns deswegen noch mal telefonieren.“
„Okay, machen wir. Dann erhole dich
mal gut, Kollege.“
Ich lege das Telefon auf den
Couchtisch zurück.
Irgendwie entsteht in mir gerade
die völlig wahnwitzige Vorstellung, dass Andre Faust nicht anruft, dass nie
wieder etwas von dieser verfluchten Sache an meine Ohren dringt. Schließlich
liegt das doch alles bereits weit, sehr weit zurück; über zwölf Jahre. Drei
Fußballeuropameisterschaften und drei -weltmeisterschaften wurden seitdem
ausgespielt, Arminia Bielefeld stieg ein paar Mal auf und wieder ab, Helmut
Kohl, der damals an der Macht war, gibt es nur noch als Politrentner, ebenso
seinen Nachfolger Gerhard Schröder und irgendwer hat mit Flugzeugen das World
Trade Center eingerissen. Ja, viel, viel Wasser ist während dieser Jahre den
Rhein heruntergeflossen. Da sollte diese Sache doch aus und begraben sein;
begraben wie Opa Rainhard.
Ich greife nach meiner Flasche
Bitburger, das inzwischen Zimmertemperatur erreicht hat, und muss nach einem
Schluck von dieser Brühe Brechreiz unterdrücken. Weil man in meiner Situation
nicht genügend Bier auf Halde haben kann, stelle ich beim Blick in den
Kühlschrank entsetzt fest, dass dieser rein gar nichts Alkoholisches mehr
hergibt.
Die Küchenuhr über der Tür verrät; kurz
nach neun. Gleich hier um die Ecke gibt es einen Supermarkt, der seine Pforten bis
22:00 Uhr geöffnet hält.
Schnell ohne Socken in Turnschuhe
geschlüpft und das Handy in die Hosentasche gesteckt.
Draußen ist es noch hell und die
Temperatur im Vergleich zum Mittag wesentlich angenehmer.
Ich gehe durch die Straßen meines
Viertels und blicke zu Boden, als könne ein jeder Passant mir am Gesicht
ansehen, was ich einst tat.
Im Supermarkt, im welchem trotz der
späten Stunde reger Betrieb herrscht, verfrachte ich sechs halbe Liter
Bitburger in den Einkaufswagen. Zum ersten Mal bekomme ich richtige Paras und für
mich wirkt es unter heftigen Magenkrämpfen,
dass jede bekloppte Sau in diesem verdammten Geschäft mich anglotzt.
Sie wissen, was du getan hast,
Freund Jonas Twelker! Sie wissen, was du getan hast! Sie wissen, was du getan
hast!
Ein schwachsinniger Gedanke.
Selbstverständlich kann niemand hier wissen, was wir damals getan haben und
dennoch komme ich mir ständig beobachtet vor. Zwei Jungs, sechzehn höchstens
siebzehn, die zwei Sechserträger Mixery aus dem Regal nehmen, scheinen dies
besonders intensiv zu tun.
Die wissen, was du getan hast!
Die wissen, was du getan hast! Die wissen, was du getan hast!
Einen feuchten Dreck können die
wissen! Als sich die Sache mit Opa Rainhard ereignete, waren die zwei Knilche
noch im Kindergarten und außerdem 250 Kilometer vom Ort des Geschehens
entfernt.
Trotzdem halte ich es hier nicht
mehr aus und muss dringend raus aus diesem verdammten Supermarkt und zurück in
die Einsamkeit der eigenen vier Wände. Da mein Magen zugeschnürt und keinerlei
Hungergefühl vorhanden ist, gibt es mit einer Mahlzeit heute ganz sicher nichts
mehr.
Ich schiebe den Wagen zu den Kassen
und muss ein wenig in der Schlange warten. Alle Menschen hier kaufen Alkohol
und betrachten mich intensiv; das ältere Pärchen mit dem Wein, die mollige Frau
Anfang zwanzig mit der Sektpulle, der Halbstarke mit seinem billigen
Hausmarkenwodka und der Energy-Pisse aus der Büchse. Sie alle haben Jonas
Twelker im Visier, an dessen Gesicht ein Jeder ablesen kann, was er einst Grausiges tat.
Schweiß schießt aus meinen Poren
und die Luft erscheint plötzlich dick wie ein Gemisch aus Watte und Honig zu
sein. Unerträglich!
Fährt dort draußen jenseits der gläsernen
Eingangstür ein Streifenwagen auf und ab? Kann das alles hier nicht ein wenig
schneller gehen? Gleich draußen packen sie dich, die Bullen! Kann das alles
hier nicht ein wenig schneller gehen?
Endlich befinde ich mich mit einer
Plastiktüte in der Hand auf dem Rückweg. Kein Polizeiwagen fährt hier draußen
auf und ab, keine Beamten drücken mich auf dessen Hinterbank. Dafür gehen die
Ausbrüche kalten Schweißes ununterbrochen weiter, so dass mein weißes
Baumwollshirt mir förmlich auf der Haut klebt und noch immer komme ich mir
ständig beobachtet vor; von dem Opa mit seinem Hund und der Tussi in der
Leggings, die viel zu eng für ihren fetten Arsch ist, meinen Blick aber
seltsamerweise anzieht. Ein String zeichnet sich unter dem schwarzen Stoff ab.
Für eine kurzen Moment packt mich gar ein heftiger Anflug von Erregung, aber
finstere Gedanken vertreiben diese rasch wieder dorthin zurück, woher sie auch
immer gekommen sein mag.
Nachdem ich daheim mit einem Seufzer
der Erleichterung die Tür hinter mir zugemacht und mehrfach verschlossen habe,
wird das Bier in den Kühlschrank und zwei Flaschen davon ins Eisfach geräumt.
Dieser ekelhafte Schweiß, der, jedenfalls
kommt es mir so vor, zudem widerwärtig stinkt, muss vom Körper runter.
Ich lasse Wasser in die Wanne,
positioniere sämtliche Telefone in Reichweite und steige in das angenehm
temperierte Nass.
Eine Weile, als ich mich
ausstrecke, steht sogar zu vermuten, dass Entspannung im Bereich des Möglichen liegt,
was sich allerdings schnell als ein Trugschluss entpuppt. Böse Bilder rasen
durch meinen Kopf und an dem inneren Auge vorbei; der Brief und der
unbeschriftete CD–Rohling, ein verlassener Doktor der Naturwissenschaften,
Jonas Twelker, sitzt in einer Gummizelle und seine süße Exfreundin Dilek stürzt
sich in die Arme eines anderen Mannes. So wie es aussieht, trägt dieser junge
Mann den Namen Markus Herbig, ebenfalls ein Doktor der Naturwissenschaften.
„Verdammt noch mal!“, schreie ich
es plötzlich heraus und klatsche mit beiden Handflächen ins Wasser, dass der
Schaum nur so spritzt. „Reiß dich zusammen, Jonas Twelker! Sonst schnappst du
in den nächsten vierundzwanzig Stunden noch über oder rennst auf das nächste
Bullenpräsidium und legst ein Geständnis ab.“
Nach nur fünfzehn Minuten Badezeit
verlasse ich das Wasser wieder und ziehe mir Boxershorts und T-Shirt an.
Mittlerweile hat das Bier im
Eisfach eine richtig angenehme Trinktemperatur bekommen, ein nicht
unattraktiver Boxkampf steht in dieser Nacht bevor und die bessere Hälfte, die
das Trinkverhalten kontrolliert, weilt außer Haus. Beinahe könnte der Mann sich
freuen, wenn, ja wenn da diese doch recht unappetitliche Sache nur nicht wäre.
Mit dem Bier in der Hand nehme ich
im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz.
Mein Blick streift die Schachtel
Benson & Hedges auf dem Couchtisch und ich komme ans Überlegen, ob es Sinn
machen täte, sich eine davon anzustecken, um den Boxabend dadurch feierlich
einzuläuten.
Besser nicht! Dein Magen hat
auch schon ohne Nikotin genug!
Im TV laufen bereits die
Vorberichte zum Hauptkampf. Ich lasse den Sender eingeschaltet und konsumiere
das Bier in kleinen Schlucken, aber immer noch recht zügig. Nachdem es leer
getrunken wurde, macht sich wieder eine brutale Müdigkeit in mir breit, die so
schwer daherkommt, dass sie beinahe die Seelenqualen übertüncht.
Ich strecke mich auf dem Sofa unter
einer dünnen Tagesdecke aus, nicke weg und erwache, als die zweite Runde des
Kampfes läuft. Der Gong beendet diese und genau in dem Moment klingelt das
Haustelefon.
„Jonas, ich habe Mark erreicht.
Eben gerade.“
„Und?“, frage ich gedehnt.
„Er hat ebenfalls so ein kleines
Päckchen im Briefkasten gehabt. Er war den Tag über mit den Kindern bei Sophias
Eltern und hat deshalb die Überraschung gerade eben erst in Empfang nehmen
können. Der arme Mark ist hörbar schlecht dran. Wahrscheinlich noch schlimmer
als wir beide.“
„Hat Sophia etwas von dem Brief
mitbekommen?“, erkundige ich mich ängstlich.
„Das habe ich ihn nicht gefragt. Er
war kurz angebunden und logischerweise verdammt mies dran. Hat nur gesagt, dass
er Sophia helfen müsse, die Kinder ins Bett zu bringen.“
„Meinst du, Sophia könnte am
Nebenanschluss oder so mitgehört haben?“
„Himmel, Jonas! Woher soll ich das
wissen? Möglich ist alles. Auch, dass du 65 Millionen Euro im Lotto gewinnst.
Hör auf, dich verrückt zu machen. Das hilft keinem, aber auch wirklich keinem
weiter“, Rassel klingt nun mächtig gereizt.
Eine kurze Zeit herrscht Schweigen
in der Leitung.
„Was machen wir jetzt?“, frage ich
schließlich und habe das Gefühl, dabei hilflos zu klingen.
„Also, es steht wohl außer Frage,
dass wir so schnell es geht persönlich unter sechs Augen miteinander sprechen
müssen. Ich habe darüber mit Mark geredet. Kannst du dich diesen Mittwoch an
der Uni flüssig machen?“
„Ja, natürlich. Es sind
Semesterferien und außerdem kann ich noch Überstunden von einer Exkursion
abfeiern.“
„Das klingt doch schon mal ganz anständig. Ich würde vorschlagen, wir treffen
uns bei mir. Kommst du mit dem Auto?“
„Gott bewahre. In meinem Zustand
würde ich das Ding vor die Leitplanke setzen und außerdem bin ich ein ziemlich
mieser Fahrer. Ich komme mit dem Zug.“
„Gut. Dann teil mir einfach mit,
wann der Zug in Bielefeld ankommt und ich hole dich am Hauptbahnhof ab.“
„Okay. Werde ich tun.“
„Sehr gut. Dann sehen wir uns alle am Mittwochabend bei mir. Das ist doch schon
mal ein Anfang“, sagt Andre Faust sanft. „Tu uns allen bitte einen Gefallen und
versuch, bis dahin möglichst so normal wie möglich zu bleiben. Meinst du, du
kriegst das auf die Kette?“
Ich verspreche es und wir beenden
das Gespräch.
Der Boxkampf ist inzwischen
gelaufen. Der texanische Herausforderer hat ihn verloren durch einen
technischen KO.
Geistesabwesend schalte ich die
Sender rauf und wieder runter und bleibe nach einer unbestimmbaren Zeit
schließlich in einem der Shoppingsender hängen, wo ein drahtiger Verkäufer
allerhand Schmutz bestehend aus Zigarettenkippen, Rotwein und Kaffee auf einen
Quadratmeter weißen Teppichs kippt, um diesen dann mit dem großen
Wunderstaubsauger gänzlich zu reinigen. Eine mollige Hausfrau sieht ihm dabei
mit großen Augen zu und als die Wundermaschine ihre Arbeit perfekt erledigt
hat, jubelt das anwesende Studiopublikum inbrünstig.
Ich trinke mein Bier aus und gehe kurz
ins Schlafzimmer, um eine anständige Decke und das Kopfkissen zum Sofa zu
transportieren und genehmige mir anschließend ein weiteres Bitburger.
In der Glotze wird nun für einen
Schlagbohrer geworben, der samt Zubehör 79,99 Euro kostet und wenn man gleich
bestellt, legt der schnauzbärtige Verkäufer noch einen Satz Dübel drauf.
Ich trinke einen Schluck Bier und
vergrabe mich ganz, ganz tief unter meiner Decke. Zu hören ist, wie der
Verkäufer scheinbar mühelos in einen Betonblock bohrt und das Publikum
begeistert applaudiert.
Schnell erlangt die Müdigkeit gewaltige
Macht und traumloser Schlaf folgt ihr auf dem Fuße.
Kapitel 5
(Luxemburg Innenstadt im Sommer
2008) Der Mann schloss die Tür auf und trat in seine geräumige Penthousewohnung
in einem der vornehmsten Stadtteile Luxemburgs.
Eine große Reisetasche plumpste auf
den Parkettboden und der Mann begab sich schnurstracks ins Badezimmer. Es war
ein Tick von ihm, dass er immer, wenn er von einer seiner zahlreichen
Geschäftsreisen nach Hause kam, sich zuerst die Hände wusch. Anschließend
betrachtete er sein Gesicht im Spiegel; ein gepflegtes Allerweltsgesicht, was
in jedem europäischen Land zu Hause hätte sein können. Dieser Mann war weder
hübsch noch hässlich, weder groß noch klein, weder alt noch jung, sondern
schlicht und einfach der pure Durchschnitt.
Er zog sein leichtes Sommerjackett aus und
ging schnurstracks in sein tadellos aufgeräumtes Wohnzimmer.
Der Unscheinbare schätzte Ordnung
und Sauberkeit. Deshalb lebte er in Luxemburg. Es war eine saubere und
aufgeräumte Stadt, die Steuern lagen niedrig und die Banken gaben sich diskret.
Er ließ sich in den antiken Stuhl vor dem antiken Sekretär fallen.
Noch während der High End-PC
hochfuhr, hielt der Mann den Telefonhörer in der Hand und wählte die Nummer
eines örtlichen Kreditinstituts, für dessen Serviceline Wochentag und Uhrzeit
keine Rolle spielten. Für ihre guten Kunden gab es bei diesem privaten Bankhaus
stets einen telefonischen oder auf Verlangen gar einen persönlichen
Ansprechpartner, der einen, falls man es denn wollte, Samstagnacht um drei Uhr
in den eigenen vier Wänden aufsuchte.
„Phillip Wagner hier. Einen schönen
guten Morgen“ meldete der Mann einen Namen, der nicht sein richtiger war, aber
unter dem das Konto lief. „Meine Kontonummer lautet 100673474, die Codenummer
lautet 455102371, das dazugehörige Passwort ist City of New Orleans.“
Er ließ beim Sprechen sich Zeit, so
dass die junge Frau am anderen Ende der Leitung in Ruhe die Daten in ihren PC
tippen konnte.
„Willkommen, Herr Wagner“, sagte
sie beinahe zu sinnlich. „Was kann ich für Sie tun?“
„Es müsste eine Überweisung
eingegangen sein. Aus den Vereinigten Staaten. Können Sie diese bereits
bestätigen?“
„Moment bitte“, Finger flogen über
eine Tastatur. Er konnte die Anschläge hören. „Ja, Herr Wagner, die ist am
Freitag eingegangen. 55000 US–Dollar. Ihr neuer Kontostand in Euro gerechnet
beträgt 478740, 75 Euro. Haben Sie sonst noch einen Wunsch?“
„Nein Danke. Ich wünsche Ihnen
einen schönen Feierabend, wenn es denn soweit ist.“
„Vielen Dank, Herr Wagner. Auf
Wiederhören.“
Der Mann legte auf und grinste
entspannt, während er flüchtig sein Vermögen im Kopf addierte. Knapp 480.000
Euro auf diesem Konto, um die 300.000 Euro auf einem in der Schweiz und in
Liechtenstein existierte eines mit etwas über 370.000 Euro Guthaben. Hinzu
kamen diese Eigentumswohnung sowie ein Haus in einem gepflegten Vorort von
Ludwigshafen, welches er momentan an einen Manager der BASF vermietet hatte.
Der Beruf, in dem er seit fünf
Jahren arbeitete, machte sich bezahlt, so dass der unscheinbare Mann sich
mittlerweile Euromillionär nennen durfte. Offiziell, wenn irgendwer sich bei
ihm danach erkundigte, nannte er als Beruf Geschäftsmann und gab bei
tiefergehenden Fragen freundlich lächelnd an, mit Wertpapieren an den Börsen
dieser Welt zu handeln.
Der Millionen zum Totz war der
Ehrgeiz des Mannes noch lange nicht befriedigt. Ein Vermögen konnte niemals
hoch genug sein.
Er stammte aus einfachen
Verhältnissen, aufgezogen von der Mutter allein, weil der Vater mit einer
anderen Frau durchgebrannt war. Seine Mutter schuftete in einer Wäscherei und
stets war das Geld knapp. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr verdiente er
freiwillig dazu, trug beinahe täglich Zeitungen in den Arbeitervororten von
Ludwigshafen aus und schaffte es tatsächlich noch, auf dem Gymnasium gute Noten
zustande zu bringen.
„Mein Goldjunge“, hatte Mama immer
gesagt. „Mein fleißiger Goldjunge. Ich bin stolz auf dich. Mit deinem Fleiß und
deinem klugen Kopf bringst du es sicherlich zum Bankdirektor.“
„Ach was, Mama“, hatte der
Vierzehnjährige geantwortet. „Bankdirektoren haben immer irgendwelche Manager
vor der Nase, die sie nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Ich will mein Leben
selbst in die Hand nehmen und nicht bei so einer blöden, langweiligen Bank
verstauben. Ich will selbstständig sein und das richtige Geld verdienen.“
Und die Mutter hatte ihn in den Arm
genommen, auf die Stirn geküsst und gesprochen: „Mein ehrgeiziger Schatz, du
wirst mal eine Millionen Mark auf deinem Konto haben.“
„Mama. Nicht eine Millionen. Ich
will zehn davon verdienen.“
Da war der Mutter ein Lächeln über
das Gesicht gehuscht und sie hatte ihn noch fester in den Arm genommen und das
Ganze für übertriebene Fantasien eines Teenagers gehalten. Doch der pickelige
Zeitungsausträger hatte weder gescherzt noch fantasiert, die ganze Sache war
ihm vollkommen ernst gewesen.
Dann, er war neunzehn Jahre alt und
mitten im Abitur, hatte der Tod seine Mutter geholt, ganz plötzlich und ohne
große Vorwarnung. Die Ärzte hatten den Krebs zu spät entdeckt. Ihm brach das
Herz und er wurde zu dem kalten Erwachsenen, den er heute verkörperte.
„Zehnmillionen Mark, Sechsmillionen
Euro, Mama“, sprach der unscheinbare Mann, der manchmal zu seiner Mutter
redete, so als wäre sie noch am Leben. „Ich bin auf einem guten Weg dorthin.
Ich werde es schaffen. Das bin ich dir schuldig. Und dann höre ich auf mit dem
Job.“
Er wandte sich dem inzwischen
hochgefahrenen PC zu, ging ins Internet und rief sein E-Mailpostfach auf.
Es gab Nachrichten von Pentagramm
und Post von Pentagramm versprach zumeist ein gutes Geschäft.
Er rief die Mail auf, die sich so
harmlos las wie Millionen anderer.
Hallo Geschäftsfreund,
ich bin von einem Kunden kontaktiert worden, für
den ich mich verbürgen kann. Er sucht eine einfache, sichere Investition auf
dem Wertpapiermarkt und benötigt die Hilfe eines Experten und erklärt sich bei
Erfolg bereit, Dir eine hohe Provision zu zahlen.
Melde Dich bei mir, wenn du Interesse hast und
dann können wir alles weitere bei einem Treffen regeln.
Viele Grüße
Leo
Selbstverständlich zeigte der
unscheinbare Mann Interesse und tippte eine kurze Antwort in Form einer Zusage
für das vorgeschlagene Treffen.
Zufrieden mit sich und der Welt
ging er ins Badezimmer, um eine warme Dusche zu nehmen.
Kapitel 6
(Bonn im Sommer 2008) Gerne hätte
ich noch länger geschlafen, aber die innere Unruhe, die seit zirka
vierundzwanzig Stunden gnadenlos in mir wütet, lässt einen solchen Luxus leider
nicht mehr zu. Wenigstens, immerhin etwas, bin ich nicht verkatert wie gestern.
Obwohl die schwere Belastung sofort
wieder über mich kommt, nagt Hunger in meinen Eingeweiden, was in Anbetracht
der Tatsache, dass die letzte feste Nahrung vor knapp achtundvierzig Stunden
konsumiert wurde, nur logisch erscheint.
Der Kühlschrank gibt außer etwas
Käse und einem Schokopudding mit Sahnehaube nichts her.
Ich ziehe mich an und spaziere in
die Innenstadt, um im Café Blau ein preiswertes, aber reichhaltiges Frühstück
zu mir zu nehmen.
Das Café Blau, das Studentenlokal
in Bonn, ist wie immer gut gefüllt.
Viele Spätaufsteher und vielleicht
auch solche, die noch gar nicht geschlafen haben, unternehmen an diesem
Sonntagvormittag etwas gegen den ersten, letzten Anflug von Nahrungsaufnahme
des Tages.
Ich verziehe mich in einen hinteren
Winkel und mache mich über Speck, Rühreier, Käsebrötchen und Schwarztee her.
Nachdem der erste Hunger gestillt ist und noch zwei Brötchenhälften zu essen
sind, wandert mein Blick durch das langgestreckte Café und während ich so
schaue, wird das Bewusstsein um meine Situation wieder übermächtig. Brechreiz
erfüllt meinen Magen und einen Moment steht zu befürchten, dass ich das ganze
Frühstück in einem hohem Bogen über den Holztisch kotze. Zum Glück entpuppt es
sich als falscher Alarm.
Nun wesentlich nervöser wandert mein
Blick erneut durch das Lokal und vor lauter Stress sehnt sich etwas in mir nach
einem wundervollen Hefeweizen aus dem dazu passenden Glas, welches man gleich
hier bei der hübschen Kellnerin ordern kann. Ich beherrsche mich, bleibe beim
Tee und schaue weiter auf und ab und ab und auf. Zwei Tische weiter sitzen zwei Frauen von
Anfang zwanzig, von denen mich eine an die mollige Tina aus meiner alten Heimat
erinnert. Okay, heute soll Tina den Aussagen meiner Mutter nach bereits seit
zehn Jahren verheiratet sein, durch exzessives Fitnesstraining eine sehr
schlanke Figur und zwei Kinder haben. Früher war sie aber eindeutig pummelig.
Erinnerungen brechen über mich
herein.
Kapitel 7
(Bielefeld im Frühling 1994) Es ist
ein schöner Tag, der erste richtig angenehme des Jahres, und wir befinden uns
mitten in den Osterferien.
Früher gingen die Ferien stets viel
zu schnell vorüber und der letzte Sonntag war ein Tag der Trauer. Seit meinem
Schulwechsel auf das Oberstufen–Kolleg sieht die Welt dahingehend gänzlich anders
aus. Der Unterricht am OS, so die Abkürzung für Oberstufen–Kolleg, verläuft
vollkommen divers zu dem an einer Regelschule und wie mir mein Tutor mitteile,
sei es nach erfolgreicher Beendigung der vier Jahre an einigen deutschen
Universitäten prinzipiell möglich, das Vordiplom in Biologie angerechnet zu
bekommen und damit die Hälfte der Studienzeit einzusparen. Sogar ein paar neue
Freunde habe ich bereits seit längerer Zeit auf dieser Schule gefunden, aber
die besten kommen mittlerweile aus meiner unmittelbaren Nachbarschaft; Andre
Faust und Mark Wenzel.
An diesem Freitag steht die
Saisoneröffnung auf dem Schulhof an, was man nur eine Wohltat nach der langen
Winterpause nennen kann. Endlich herrscht in Bielefeld die Wärme vor, die die
Grundlage dafür bildet, damit sich ein Mensch längere Zeit im Freien aufhalten
und dabei ein Herforder konsumieren kann.
Auf einer der Bänke sitzend und
dabei eine Zigarette rauchend wartet Mark auf mich. Ihm macht die Schulzeit in
der Sekundarstufe II nicht annähernd soviel Spaß wie mir, aber er wird seinen
Weg zum Abitur und danach auf das Finanzamt schon machen. Im Hintergrund treibt
Oberstudienrat Wenzel ihn voran, zieht die Fäden und verfügt zudem natürlich
über reichlich Kontakte, so dass es später schon hinhauen tut mit der
Beamtenlaufbahn des Sohnemanns.
Als Mark mich, der ich einen
Container unter dem Arm trage, nahen sieht, lächelt er freudig.
Begrüßung, auf die Bank gesetzt,
Bier auf, Kippe an und die ersten Augenblicke der neuen Freiluftsaison
genießen.
Das Herforder ist herrlich kühl und
das Leben schön und in meinem Alter von bald neunzehn Jahren fehlt eigentlich
lediglich noch die passende Dame, um das Glück perfekt zu machen. Das haben
Mark, Rassel und ich seltsamerweise gemein; wir sind Singles, was aber nicht bedeutet,
dass in dieser Hinsicht gar nichts läuft.
Mark hatte für eine kurze Zeit im
Winter eine Beziehung mit einer Auszubildenden aus Senne. Sie passte wunderbar
zu ihm, war ein nettes, aufgewecktes Mädchen und die beiden verstanden sich
blendend, was für uns alle sichtbar war. Eines Tages erklärte Mark uns jedoch,
er hätte die Beziehung beenden müssen, da sie zu sehr geklammert habe, um
danach dieses Thema niemals wieder zur Sprache zu bringen. Rassel und ich
zweifeln an der offiziellen Version und nehmen an, dass Oberstudienrat Wenzel
die Beziehung missfiel, da eine Auszubildende im Friseurhandwerk weit unter der
Würde seines Sohnes liegt und Mark ihr deswegen unfreiwillig den Laufpass geben
musste.
Ich hatte eine kurze Affäre mit
einer zweiundzwanzigjährigen Mitschülerin.
Weil das Oberstufen–Kolleg auch
eine Schule des zweiten Bildungsweges ist, sind Menschen in den frühen
Zwanzigern dort keine Seltenheit. Sie hieß Ilona, war eine ausgebildete
Physiotherapeutin und kam von Stuttgart her extra nach Bielefeld, damit sie
hier das OS besuchen durfte. Ilona lebte im Studentenwohnheim direkt gegenüber
der Kollegschule. Es war etwas mehr als eine reine Sexbeziehung und ich konnte
spüren, dass es ihr nicht nur gefiel, mir ein paar Dinge in der Kiste
beizubringen, sondern auch mit mir zu quatschen und durch das Bielefelder
Nachtleben zu ziehen. Leider entschloss sie sich drei Monate nach meinem
achtzehnten Geburtstag kurz vor Weihnachten 1993, die Ausbildung am OS
abzubrechen.
Sie könne sich einfach nicht an die
zwölf Quadratmeter ihres Wohnheimzimmers gewöhnen, käme mit dem wenigen Geld kaum
klar und lege außerdem mit ihren Wahlfächern vollkommen daneben.
Am siebzehnten Dezember kehrte sie
nach Stuttgart zurück. Schade eigentlich, denn Ilona war wirklich süß, dazu
frei von irgendwelchem Emanzenscheiß und äußerst geistreich. Nach ihrer
Heimkehr telefonierten wir noch zweimal miteinander und sendeten drei Briefe
hin und her, bevor im Februar diesen Jahres der Kontakt endgültig abriss und es
wird wohl so sein, dass keiner von uns ihn jemals wieder herstellt. Aus
unerfindlichen Gründen spielt das Leben manchmal so.
Bei Rassel läuft die Sache mit der
Liebe, wie könnte es anders sein, etwas eigen ab.
Er hat die Höhere Handelsschule als
Jahrgangsbester abgeschlossen und tatsächlich einen Ausbildungsplatz bei der
Deutschen Bank bekommen. Die Ausbildung dort ist im Vergleich zu anderen
Lehrstellen fürstlich bezahlt und der karriereorientierte Rassel wirkt durchaus
anziehend auf einen bestimmten Schlag von Frau, auch wenn er nicht gerade bei
Geburt mit den Segnungen der Schönheit bedacht wurde.
Er hatte eine Verkäuferin aus
Stieghorst und eine Studentin der Soziologie; allerdings beide zusammen, wobei
die eine von der anderen natürlich nichts ahnte, bis die Studentin eine Zeit
lang hinter Rassel her spionierte und herausbekam, was tatsächlich lief. Sie spazierte
direkt in das Modegeschäft und unterrichtete ihre Rivalin. Es gab einen
Riesenkrach und am Ende wusste keiner, wer nun wen in die Wüste geschickt
hatte. Andre nahm das alles ganz locker, wesentlich lockeren als die beiden
Damen der Schöpfung hin. Auf Platz Eins steht bei ihm so oder so sein Job bei
der Deutschen Bank und seine Karriere.
Ach übrigens, ein Automobil besitzt
Andre Faust mittlerweile auch; einen alten, kastanienbraunen BMW der Dreierserie, eine wirklich brüllend
hässliche Kiste, aber voll funktionsfähig. Wir drei fahren oft zusammen durch
die Gegend, bevorzugt zur nächtlichen Stunde. Manchmal sitzt Mark, der seinen
Führerschein direkt an seinem achtzehnten Geburtstag ausgehändigt bekommen hat,
hinter dem Steuer. Ich habe es damit nicht sonderlich eilig und die Fahrschule
erst diesen Januar begonnen.
„Hast du Rassel angerufen?“, fragt
Mark.
„Ja. Habe ich. Vor fünfzehn
Minuten. Er ist gerade erst nach Hause gekommen und Mami macht ihm noch eben
was zu essen.“
Trotz der guten Bezahlung im ersten
Lehrjahr reicht Rassels Geld noch nicht für eine eigene Wohnung, so dass er
genau wie Mark und ich weiterhin bei den Eltern lebt.
„Was machen wir heute Abend?“,
frage ich.
„Mal sehen. Ich habe gestern noch
Sven getroffen, als er seine Gute-Nacht-Zigarette vor dem Haus geraucht hat.
Also, er, Thomas und Brauni wollen heute gegen acht Uhr ins Pendel. Dieser
Freund von Brauni, Helge, soll auch mitkommen. Du weißt doch. Der, der letzten
Sommer ein paar Mal mit seinem Moped auf dem Schulhof war.“
Helge ist mir vage ein Begriff. Er
kommt irgendwo aus Isselhorst, war früher mit Brauni zusammen auf der Schule, und
macht aktuell eine Ausbildung zum Industrieschlosser, meine ich. Er verkörpert
mit Sicherheit keinen schlechten Kerl, nur wir beide scheinen irgendwie keinen
Draht zueinander zu finden. Es gibt eben Menschen, wo das nicht funktioniert.
„Auf Pendel habe ich heute nicht
wirklich Lust“, antworte ich. „Außerdem sind Kneipenbesuche auf Dauer zu
teuer.“
Von meinen Eltern bekomme ich monatlich mein Kindergeld und etwas Taschengeld
ausgezahlt, was unter dem Strich vierhundertachtzig Deutschmark sind. Ab und an
verdiene ich durch Gelegenheitsjobs, beispielsweise Inventuren am Wochenende,
etwas dazu, aber das geschieht meiner Abneigung wegen, unterprivilegierte
Tätigkeiten zu verrichten, nur in äußerst finanziellen Schieflagen. Zum Ende
eines Monats und manchmal, wenn hart gefeiert wurde, auch schon kurz nach dem
Fünfzehnten, bin ich meistens pleite und dann müssen wieder Mama und Papa
herhalten, beziehungsweise die Geldbörsen öffnen.
„Wem erzählst du das“, gibt mir
Mark Recht.
Weil der Vater sagt, sein einziges
Kind solle sich voll und ganz auf die Schule konzentrieren, darf Mark, selbst
wenn er es wollte, keinerlei Nebenjobs ausüben. Der Wille des Vaters ist im
Hause Wenzel ein nicht anzutastendes Gesetz und Punkt.
Rassel trudelt ein.
Andre kleidet sich weiterhin auch
in jeder Minute seiner Freizeit wie der Prototyp eines Bankangestellten;
schwarze Anzugshose, weißes Hemd, schwarzes Sakko. Die Krawatte allerdings
lässt er außerhalb der Filiale weg und die Klamotten kommen nun nicht mehr von
C&A, sondern sind die Hausmarken von Peek und Cloppenburg; ein in meinen
Augen recht ansehnlicher Aufstieg innerhalb von nur zwei Jahren, die irgendwie rasch
vergangen sind. Äußerst selbstzufrieden und mit einem Grinsen über die gesamte
Breite seines Gesichts stapft Andre Faust durch diesen Frühlingstag, wobei
seine polierten Halbschuhe dabei auf dem groben Asphalt des Schulhofs klappern.
Sein dunkelblondes Haar, an dem leicht der Wind zupft, ist streng nach hinten
gekämmt und sorgfältig aufgeföhnt. Rassel kopiert den Yuppie von der Wall
Street, der er nur zu gerne wäre und vielleicht eines Tages sein wird.
„Na ihr Nichtstuer, wie geht` s?“,
erkundigt er sich grinsend.
„Gut. Wie soll es einem Nichtstuer
bei einem solchen Wetter auch anders gehen“, sage ich nicht minder grinsend.
„Und bei dir alles fit im Schritt?“
„Immer gut, wenn das Wochenende
gerade begonnen hat. Ich habe zwei Nachrichten für euch. Eine gute und eine
schlechte. Zuerst natürlich die gute. Ich habe gerade Quermanns behinderte
Schwester getroffen. Also: Quermann zieht weg“, genießt Rassel seinen Auftritt.
„Yeah!“, rufe ich.
„Strike!“, jubelt Mark.
Wir klatschen hoch ab.
„So habe ich mich auch im ersten
Moment gefühlt, bis die behinderte Olle mir die Story zu Ende erzählt hat.
Quermann zieht leider nicht sehr weit weg. Genauer: Er zieht in das Apartment
neben seinem Busenfreund Frank Engel.“
„Scheiße!“, machen Mark und ich
gleichzeitig.
„Wie ist er denn in diese Bruchbude
gekommen? Die Zimmer dort sind doch alle total unter aller Sau“, will ich
wissen.
„Die rauschgiftsüchtige Hure neben
Engel zieht aus. Frank hat Quermann die Bude klargemacht“, belehrt Rassel uns
weiter.
„Gleich und gleich gesellt sich
eben gerne. Hoffentlich sehen wir ihn dann noch weniger als jetzt“, spricht
Mark seine Hoffnungen aus.
In der Tat hat Quermann sich nach
Svens Tritt- und Rassels Rotzaktion im Sommer 1992 ziemlich rar gemacht.
Dennoch tauchte er in der seit damals verstrichenen Zeit immer mal wieder auf
dem Schulhof auf und befand sich dabei zumeist in Begleitung von Frank Säufer
Engel. Seine Lehre hat er mittlerweile geschmissen und arbeitet als
Hilfsarbeiter in einer Druckerei. Er spare, so sagt Sascha, auf einen
LKW–Führerschein, aber daheim müsse er seiner pferdegesichtigen Mutter viel
Kohle für sein altes Kinderzimmer abdrücken, was wiederum seine Schwester
behauptet. Außerdem haue er seine Kohlen für lauter Scheiße raus; Truckmodelle,
deutsche Country Musik, an der Frittenbude und sogar in der Spielothek am
Pokerautomaten.
„Vielleicht brennt das Haus ja ab.
Dann sind wir beide los. Das wär ` s doch“, sage ich.
Mark und Rassel lachen.
„Was machen wir heute Abend?“,
fragt Rassel.
„Die meisten der Jungs gehen ins
Pendel. Willst du dort auch hingehen?“, gegenfragt Mark.
„Ich habe eigentlich dran gedacht,
ein wenig durch die Gegend zu fahren. Wir nehmen ein paar Bier mit und fahren
mal raus in Richtung Halle. Ich habe da an der Bundesstraße im Wald einen
Steinbruch entdeckt. Ist ein echt abgefahrener Platz. Da geht es so megasteil
runter. Ist nachts bestimmt irre dort.“
„Ein Steinbruch bei Halle. Wirklich
aufregend“, sagt Mark etwas schnippisch.
„Ich finde die Idee gar nicht...“,
kann ich nicht ausreden.
„Du willst immer nur hier oder bei
Jonas blöd rumhängen und saufen“, faucht Rassel in Richtung Mark. „Oder dumm
durch die Stadt und zum McDrive fahren oder...“
„Schon gut! Schon gut!“, ruft Mark.
„Ich bin ja dabei. Nur die Ruhe Rassel. Nicht aufregen.“
Die Sache ist also beschlossen.
Heute Abend fahren wir in einen
Steinbruch; etwas gänzlich Neues.
Wir treffen uns um 20:00 Uhr vor
dem Hochhaus, in dem Rassel zusammen mit seinen Eltern lebt. Der kastanienbraune
BMW parkt direkt vor dem Eingang und im letzten Licht des Tages schimmert der
stets sorgsam polierte Lack hässlich vor sich hin und ich denke gemeinerweise,
dass ein so hässliches Auto zu so einem hässlichen kleinen Gnom passt.
Pfui! Schäm dich für deine
Gedanken, Jonas Twelker!
Mark sitzt heute im Fond und mir
wird die Ehre zuteil, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, während Rassel
kerzengerade und mit der brennenden Marlboro im Mundwinkel hinter dem Lenkrad
hockt.
Der Motor startet und sofort plärrt
das Radio los.
„I want it all. I want it all. I
want it all. And i want it now.“
Rassel hat einen großen Faible für
Queen, was meinem rockigen Musikgeschmack recht nahe kommt. Mark hingegen, der
mehr auf House- und Discomusik steht, gefällt das wohl nicht ganz so toll, aber
er verzichtet darauf, irgendeine Form des Protestes zu erheben. In Rassels Auto
gilt die eisenharte Regel, dass der Besitzer und Halter des PKWs bestimmt, was
musikalisch gespielt wird, Widerstand zwecklos.
Als erstes geht es zur Westfalen
Tankstelle.
Während Mark und ich selbstverständlich
zum Container greifen, nimmt Rassel mit einer Dose Cola vorlieb. Wenn der
smarte Andre Faust, der sich jede Mark dieses Führerscheins durch schwere
Nachtmaloche hart erarbeiten musste, fährt, dann trinkt er nicht.
Wir fahren am Walzwerk von Thyssen
vorbei, am Brackweder Freibad und durch den Vorort Quelle, bevor die
Bundesstraße in Richtung Halle/Westfalen breit und gut ausgeleuchtet vor uns
liegt. Sie verführt eindeutig zum Rasen, weshalb es hier häufig zu schweren
Verkehrsunfällen mit stellenweise tödlichem Ausgang kommt. Rassel hingegen verkörpert
den umsichtigen Fahrer und bewegt seinen BMW nur knapp oberhalb des erlaubten
Tempolimits. Die Außenbeleuchtung und die Lichter entgegenkommender Fahrzeuge
lassen lebhafte Schatten über unsere Gesichter tanzen. Das Autoradio spielt
weiter Queen, auf dessen Display hüpfen digitale, bunte Balken im Rhythmus der
Musik auf und ab, wozu Rassel leicht mit den Fingern auf das Lenkrad trommelt.
Der Steinbruch befindet sich noch vor
der Ortschaft Halle, aber bereits im Kreis Gütersloh.
Es geht rechts von der Bundesstraße
ab und über eine asphaltierte Straße in den Teutoburger Wald hinein.
Weil der Aufschluss noch betrieben
wird, kann man ihn problemlos mit einem Fahrzeug erreichen und Rassel stoppt
den BMW erst, als eine Schranke eine Weiterfahrt unmöglich macht.
Draußen zwischen den Bäumen herrschen Finsternis,
Totenstille und Kälte vor, so dass ich sofort meine dunkelblaue Fliegerjacke
schließe. Rassel tut selbiges mit seinem beigen Trenchcoat von P&C, der in
der Dunkelheit matt schimmert und Mark ist in seiner dunklen gefütterten Jacke
nur ein angedeuteter Schatten.
Fluchend wühlt Rassel im Kofferraum, sagt
„aha“ und schlägt den Deckel zu. Kurz darauf erstrahlt eine Maglite mit langem
Griff und Rassel leuchtet mir mit dem Lichtkegel direkt ins Gesicht.
„Gestehen Sie, Sascha Quermanns
Schwester vergewaltigt und ermordet zu haben“, sagt er vergnügt.
„Nimm das Ding runter!“, fordere
ich, während ich mir die flache Hand vors Gesicht halte. „Gestehe du lieber,
dass du dir von Saschas Mutter einen hast blasen lassen.“
Wir lachen all drei vergnügt.
Rassel richtet den Lichtkegel von
mir fort und auf die Erde hinab, worauf bunte Punkte vor meinen Augen zu tanzen
beginnen.
Nun leuchtet Rassel mit der
Taschenlampe über die Schranke hinweg in den eigentlichen Aufschluss hinein.
Der Lichtkegel wandert über einen gewaltigen Bagger, eine schlichte Hütte, eine
gigantische Waage und endlich eine weiße Wand aus Kreidekalkstein hinauf, die
endlos in die Höhe zu ragen scheint, bis er nach einer gefühlten Ewigkeit dir
Kante erreicht. Dort thront majestätisch wieder der Teutoburger Wald.
„Da oben ist es richtig nett
gemütlich“, verspricht Rassel. „Man hat einen megagigantischen Ausblick.“
„Ich hoffe, du findest hin“, sagt
Mark.
„Vertrau mir. Ich weiß, was ich
tue“, zitiert Rassel den Kultpolizisten Sledgehammer. „Man nennt mich auch die
lebende Landkarte.“
„Der lebende Quermann–Lover wäre
passender“, kichere ich.
Rassel droht mit dem langen Griff
der Maglite.
„Ich ziehe dir gleich das Ding hier
über die Omme, Jonas!“
Neben dem Namen Quermann selbst
stellt Quermann–Lover in unseren Kreisen eine der schlimmsten Beleidigungen
überhaupt dar.
„Wollen wir jetzt endlich mal
los?“, wirft Mark ein, der den Container Herforder Pils am langen Arm trägt.
Wir marschieren durch den Wald, der
den Steinbruch umgibt. Permanent geht es über Trampelpfade bergauf. Rassel
stapft vorweg, die Maglite dabei wie ein Sturmgewehr haltend, als sei er ein GI
in den Tiefen des vietnamesischen Dschungels. Mark stolpert über eine Wurzel,
die Bierflaschen klirren und er liegt auf allen vieren.
„Verdammte Scheiße!“, flucht er.
„Das Bier! Mein Gott! Das Bier!“,
rufe ich.
„Du bist wirklich ein
Quermann–Lover, Jonas! Ich liege hier im Dreck und du machst dir einen Kopf um
das Bier“, schimpft Mark, kann dabei das Lachen aber kaum zurückhalten.
„Na und. Das Bier ist ja auch
wichtiger als deine Knochen, verdammte Hacke“, faucht Rassel los. „Hör also auf
zu nölen, sonst...“
„Sonst ziehst du mir die Maglite
über die Omme. Ich weiß, ich weiß“, beendet Mark den Satz für Andre.
Wir alle lachen.
„Komm hoch, Alter!“, sage ich und
helfe Mark auf die Beine.
Während der sich den Dreck von den
Klamotten klopft, führe ich im Schein der Taschenlampe eine Bierinventur durch
und stelle voller Erleichterung fest, dass alle Flaschen das Malheur ohne
Schaden überstanden haben.
Wir gehen weiter und erreichen nach
einem anständigen Fußmarsch den Zielort.
Rassel hat nicht übertrieben. Von
der Oberkante des Aufschlusses ist die Aussicht wahrlich atemberaubend. Man blickt
über die in der Dunkelheit funkelnden Dörfer weit ins Münsterländer
Kreidebecken.
„Wow! Nicht schlecht“, sagt Mark
und zündet sich eine Zigarette an.
Wir setzen uns auf einen mit Moos
bewachsenen Baumstamm, von dem sich keine fünf Meter entfernt der Abgrund
auftut.
Bierflaschen werden geöffnet,
Rassel reißt seine Dose Cola auf.
Eine Weile schweigen wir, trinken
und genießen dabei ein Jeder für sich den gigantischen Ausblick. Mit blinkenden
Positionslichtern fliegt ein Flugzeug hoch über unsere Köpfe hinweg, dem Rassel
lange nachblickt, bevor er sagt: „Wisst ihr, wo ich gerne mal hinfliegen
würde?“
„Mit Werner Mahnken nach Thailand, Transen
ficken“, sage ich und Mark kichert.
„Kannst du nicht einmal ernst
bleiben, Jonas?“, sagt Rassel leise und ich merke, dass ihm die Sache wichtig
ist.
„Tut mir leid“, entschuldige ich
mich aufrichtig. „Erzähl weiter.“
„Ich würde gerne mal nach
Australien fliegen. Für sechs oder acht Wochen und mir dort alles angucken;
Sydney, Melbourne, Alice Springs mitten in der Wüste. Australien muss traumhaft
sein. Irgendwann werde ich so viel Kohle haben, dass ich mir diese Reise einfach
so leisten kann. Vielleicht, wenn ich genug verdient habe, werde ich mir dort
ein Ferienhaus kaufen. In Surfers Paradies. Dann verbringe ich den Winter
dort“, träumt Rassel. „Die Winter hier in Deutschland sind zum Kotzen. Diese
ewige Dunkelheit. Die macht mich immer ganz depressiv. Furchtbar.“
„Du kannst ja BWL nach deiner
Ausbildung studieren und an die Börse gehen. Als Bankkaufmann hast du ja dann
dafür die besten Voraussetzungen“, erkläre ich.
Einen Augenblick lang überlegt
Rassel.
„Vielleicht studiere ich nach der
Ausbildung, wenn das ganze Gepauke für den Job sich erledigt hat, Informatik in
Fernkursen. Es ist besser, im Beruf zu bleiben und abends daheim zu studieren.
Alleine schon wegen der Kohle. Dann braucht man seinen Lebensstil nicht
zurückzuschrauben. Wenn man erstmal Geld verdient hat, ist es sehr schwer,
wieder mit weniger auszukommen. Ja, vielleicht mache ich mich mit Computern selbstständig.
Für eine Selbstständigkeit gibt einem die Lehre in einer Bank die allerbesten
Voraussetzungen. Und Computern und alles, was damit zusammenhängt, gehört die
Zukunft. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Das wird immer mehr und mehr
kommen und für eine Zeit liegt in diesem Bereich das Geld auf der Straße. Der
fleißige Mensch braucht es nur noch aufzusammeln.“
Er nippt an seiner Cola und schaut
verträumt über die funkelnden Dörfer am Horizont, dann lächelt er und fügt
hinzu: „Wenn ich das alles einmal erreicht haben sollte, Australienreise, Firma
und Selbstständigkeit, dann treffen wir uns hier genau an diesem Punkt wieder
und ich spendiere euch eine Kiste Champagner. Versprochen!“
Mark leert sein Herforder und steht
langsam vom Baumstamm auf.
„Ich werde dich beim Wort nehmen,
Andre Faust. Aber vor dem Fernstudium, dem Job als ausgebildeter Bankkaufmann
und der Selbstständigkeit hat der Liebe Gott noch die gute, alte Bundeswehr
gesetzt. Jawohl, Herr Feldwebel! Bereit zum Granatenwurf! Drei, zwei, eins, und
Feuer!“
Mark salutiert geziert und wirft
die leere Bierflasche in hohem Bogen über die Steinbruchkante.
„Volle Deckung!“
Es dauert lange, bis die Flasche
irgendwo dort unten in der Finsternis zerschellt.
Klirrr!!!
„Wow“, spricht Mark ehrfürchtig.
„Ganz schön tief, Jungs.“
„Die Bundeswehr kriegt mich nicht.
Dieser Scheißladen hält einen nur auf.“
„Was willst du denn sonst machen?
Zivildienst? Alten Omas den Arsch abwischen? Das hält dich genauso auf und es
dauert sogar noch Monate länger“, gebe ich zu bedenken.
„Als erstes werde ich natürlich
versuchen, mich irgendwie kaputtschreiben zu lassen. Ausmusterung wäre am
besten. Ich werde zu jedem Arzt rennen und mir eine Flut von Attesten
besorgen.“
„Das hat der Sohn von einer
Familie, die mit meiner Familie befreundet ist, auch versucht. Der Vater hat
sogar einen Anwalt eingeschaltet. Trotzdem hat es nicht hingehauen. Es ist ganz
schön schwer, damit durchzukommen, Rassel“, wirft Mark ein und öffnet ein neues
Herforder Pils mit seinem Feuerzeug.
„Auch eine solche Tatsache habe ich
eingeplant. Wenn die mich nicht rauslassen, lautet das Zauberwort
Katastrophenschutz“, antwortet Rassel wie aus der Pistole geschossen. „Da
trifft man sich einmal im Monat an einem Wochenende und das war `s dann.“
„Aber diesen Mist musst du über
Jahre machen“, erkläre ich, der über diese Option niemals nachgedacht hat, weil
der tapfere Jonas Twelker selbstverständlich nach erfolgreichem Schulabschluss
den Dienst am Vaterland ableistet.
„Ist doch egal. Ich habe mich
eingehend mit dem Thema Katastrophenschutz beschäftigt. Das einzige, was die an
diesen Wochenenden tun, ist ihren Durst zu löschen.“
Wir alle lachen klar und herzlich
in die Nacht hinein.
„So. Und jetzt lasst uns mal den
Abflug machen“, fährt Rassel fort.
„Wollst ` schon los?“, fragt Mark.
„Ja. Zum einem ist es kalt und zum
anderen haben wir Freitagabend. Ich möchte auch noch gerne ein Bierchen
zwitschern.“
„Wo willst du das Bier trinken?“,
erkundigt Mark sich.
„Ich dachte, dass ich noch eine
Stunde ins Pendel gehe. Kommt ihr mit?“
„Eher nicht. Ich wollte noch die
Tage ein Mädel aus meiner Stufe ins Kino einladen. Da wird das Geld schon
knapp“, sagt Mark.
„Mit der Kohle ist das so eine
Sache. Ich würde ja gerne mitkommen, aber...“
„Papperlapapp!“, unterbricht Rassel
mich. „Ein bis zwei Bierchen zahle ich euch schon. Was ist jetzt?“
„Na wenn das so ist“, sprechen Mark
und ich in wunderbarer Eintracht.
Wir verlassen den Steinbruch und
fahren bei lockerer Musik von Genesis nach Brackwede zurück, wo Rassel seinen
Wagen vor den Hochhäusern abstellt. Den Rest des Weges zur Stammkneipe
erledigen wir zu Fuß.
Beim Pendel handelt es sich,
obgleich seit vielen Jahren eine kultige Institution in unserem
Heimatstadtteil, eigentlich nur um eine verrauchte Kellerkneipe ohne Fenster.
Im Eingangsbereich gibt es die
obligatorische Theke, wo die ältere Stammkundschaft über die guten, alten Tage
philosophiert. Den Rest des Lokals bilden Tischgruppen und ein Zockerraum, der
mit Kicker, Billard, Videospielautomaten und Flipper aufwartet.
Pächter Pogo, der uns als
Stammkunden ausmacht, grüßt beim Betreten des Lokals von der Theke her.
Wir suchen unsere Bekannten und
finden sie an einem großen Tisch neben dem Zugang zum Spieleraum. Dort sitzen
von blauem Dunst umhüllt und vor Biergläsern auf der Tischplatte Thomas, Sven,
Helge, Brauni und Tina mit einer uns unbekannten Freundin, die ziemlich, ich
muss es zugeben, gut aussieht. Sie hat lange schwarze Haare, die sie offen
trägt, und ein feines Gesicht, welches ohne großes Make Up auskommt. Automatisch
kommen unsere Blicke auf ihr zur Ruhe.
„Das ist Sophia. Sie ist bei mir
auf der Schule und wir besuchen den Deutsch–LK zusammen“, stellt Tina ihre
Freundin vor.
Nachdem die Vorstellung mit Sophia
abgeschlossen wurde, erweitern wir die Runde und bestellen Bier.
Thomas, Helge und Brauni scheinen
heute einmal mehr auf ihrem Auto- und Tuningtrip zu sein, auf dem sie sich
eigentlich immer befinden, wenn sie zusammenkommen. Ihr Leben, mir wird das mit
verstreichender Zeit immer klarer, verläuft in engen Bahnen und Grenzen;
tieferlegen hier, Sportfelgen da, ein Auspuff, der den richtigen Sound gibt,
Breitreifen, getönte Heckscheiben, dunkle Blinker, am Wochenende ein paar Bier
stemmen und am Montag dann ab auf die Maloche und eine Woche folgt der anderen,
wobei sich nichts verändern tut. Mittlerweile beginne ich, für diese Menschen
beinahe ein Art Mitleid zu empfinden.
Weil Mark, Andre und mir diese
Thematik auf Dauer zu flach ist, tasten wir gemeinsam lieber die hübsche Sophia
ab, wobei sich schnell herausstellt, dass sie zwar eine gehörige Portion
Klugheit besitzt, sie aber auch recht eigenartige Züge aufweist. Tinas Freundin
hat, man merkt es direkt, eine unerträglich bestimmende Ader an sich und ist
vollkommen von ihren Standpunkten überzeugt. Hier, liebe Leserinnen und Leser,
einige Zitate des Abends:
„(...)Also mein Freund dürfte nicht
so einfach jedes Wochenende mit seinen Freunden feiern gehen. Ich meine, wenn
ich einen Freund habe, dann will ich doch besonders an den Wochenenden etwas
von ihm haben(...)Es gibt da für mich keine Debatte. McDonalds kommt nicht in
die Tüte! Dieser Frass ist total ungesund und außerdem vollkommen
überteuert(...)Rauchen? Nie im Leben. Bei uns zu Hause wird nicht geraucht. Da
kannst du vor die Tür zum Qualmen gehen. Wenn du regelmäßig Fast Food in dich
reinschaufelst und dabei noch zwanzig Zigaretten am Tag rauchst, wirst du nicht
alt und bist außerdem, sollten einmal Kinder ins Haus stehen, ein äußerst
schlechtes Vorbild.“
Sie will dir permanent ihren Willen
und ihre Meinung aufdrängen und fährt sich im Verlauf ihrer Argumentationsgänge
stets mit der Hand durchs offene Haar und lächelt siegesgewiss, so als stünde
Gott auf ihrer Seite. Irgendwann langt es mir, ich krame in meinem bereits
leicht beschwipsten Verstand nach Gegenargumenten und finde sie in einer
Studie, die ich im Rahmen einer Projektphase am OS gelesen habe.
„Aber wenn du Kinder hast und du
hältst ihnen McDonald oder Fast Food im Allgemeinen vor, laufen sie später erst
recht Gefahr, fett zu werden. Denn dann geben sie ihr Taschengeld heimlich
dafür aus. Kocht man regelmäßig daheim und geht nur gelegentlich zu McDonalds,
entscheiden sich die Kinder ganz von alleine für das heimische Essen. Es gibt
Studien, die das beweisen“, argumentiere ich, während der Kellner uns eine neue
Runde Bier und eine große Cola für Helge bringt, dessen aufgemotzte
Proletenkiste draußen vor der Kneipe parkt.
„Dafür werde ich schon sorgen, dass
mein Kind nicht heimlich sein Taschengeld bei McDonalds raushaut. Es dürfte
nicht unmöglich sein, solche Dinge, die du gerade geschildert hast, zu
verhindern. Übrigens, wo hast du von diesen Studien gehört oder gelesen? Nenn
mir mal bitte die Quelle, damit ich mir das auch mal anschauen kann“, kontert
sie direkt aggressiv.
Ich muss gestehen, dass mir
Einzelheiten dazu entfallen sind, aber ich habe es irgendwo gelesen; schwarz
auf weiß.
„Kann ich dir aus dem Stehgreif
nicht sagen. ` ist schon etwas her. Ich
werde über dieses Thema am Montag nach den Ferien in der Uni–Bibliothek mit dem
Computer recherchieren, es nachschlagen und dich beim nächsten Mal drüber
informieren.“
Die Bibliothek der Universität
musste einfach erwähnt werden. Schließlich bin ich auf dem OS.
„Na, dann schlag mal schön nach“,
entgegnet sie überheblich und fährt sich wieder siegessicher lächelnd mit der
flachen Hand durch die schwarzen Haare.
Sie wendet sich an Tina und steigt
in deren Unterhaltung mit Rassel ein, die sich um die Anlage von Festgeld
dreht. Auch Mark diskutiert plötzlich angeregt mit ihnen.
Sophia interessiert sich keinen
Deut mehr für mich, was eigentlich vollkommen Latten ist. Arg jedoch wiegt die
Tatsache, dass sie nicht mal ansatzweise meine Andeutung, welche die
Universitätsbibliothek betraf, aufgegriffen hat.
Innerlich wütend wende ich mich an
Sven und wir reden über die Endphase der Saison in der Oberliga Westfalen und
dass Arminia zu unserem Leidwesen die Aufstiegsrunde zur 2. Bundesliga wohl
deutlich verfehlen wird.
Eines steht für dich schon fest,
Freund Twelker, diese Sophia ist eine hinterhältige, leider kluge Schlange.
Darüber kann auch ihr engelhaftes Gesicht nicht hinwegtäuschen. Überhaupt keine
Chance, Mädel! Bei Jonas Twelker bist du unten durch!
Während ich mich noch immer stumm
über die junge Dame echauffiere, scheinen Rassel und Mark mit dieser Person
weit weniger Probleme zu haben. Voller Elan hetzen sie mit ihr gerade über
einen Typen, der Tinas und Sophias Schule besucht und wohl so eine Art Sascha
Quermann auf Gymnasiumniveau verkörpert. Obgleich Andre und Mark ihn nicht kennen,
ihn nie gesehen haben, lachen, lästern und reden sie begeistert mit.
Die Zeit verstreicht recht schnell,
was nach zwei, drei Bier in dieser Lokalität häufiger vorkommt.
Offiziell schließt das Pendel um 1:00
Uhr seine Pforten, aber heute überziehen wir wieder einmal den Zapfenstreich
und die Uhr zeigt halb zwei, ehe Pogo uns, die letzten Gäste,
>>rausschmeißt<<.
Vor der Kneipe verabschieden wir
uns von Helge und Sophia. Da Sophia in Quelle wohnt und Helge auf seinem Weg
nach Isselhorst dort vorbeikommt, hat er angeboten, sie nach Hause zu fahren.
Ich habe diese Frau genau im Auge,
als sie etwas angewidert in den tiefergelegten dunkelroten Golf II steigt.
Wohl nicht ganz nach deinem
Geschmack, aber immer noch billiger als ein Taxi, was Tussi!
Wie Sophia da in dem Sportsitz
kauert, wirkt sie vollkommen fehl am Platze in ihrer schicken, Lammfell
gefütterten Jacke und mit ihrer Oilily–Umhängetasche.
Einen Augenblick später sind die
Türen zu und Helge startet den Motor, worauf der Sportauspuff peinlich laut durch
die Nacht röhrt. Helge wirft das Audiosystem an, Heavy Metal-Musik von Sodom
ertönt, bevor er den ersten Gang einlegt und krachend davonfährt. Noch lange,
nachdem der Volkswagen aus dem Sichtfeld verschwand, können wir ihn hören, bis
sich sein Klang endlich in den Weiten dieser Frühjahresnacht verliert.
Der Oberprolet in seiner
peinlichen Kiste und Madame Allwissend auf dem Beifahrersitz. Was für eine
tolle Kombination. Hoffentlich fährt die Olle, Freund Twelker, aus den Augen
und aus dem Sinn, denn deine zwei Freunde scheinen ja angetan von ihr.
Im Verlauf dieser Gedankengänge huscht
ein Lächeln über mein Gesicht, nur um beim zweiten Teil direkt wieder zu
verschwinden.
Der Rest von uns macht sich zu Fuß
über die Brackweder Hauptstraße auf nach Hause.
In den späten Abendstunden ist hier
niemals etwas gebacken, gleich ob im Hochsommer oder in der Kälte einer Nacht
im Frühling, gegen die wir nun unsere Kragen hochschlagen.
Mark, Rassel und ich beschließen,
das restliche Bier, das wir an der Tankstelle gekauft haben, und welches nun im
Kofferraum von Andres BMW liegt, bei mir daheim zu trinken.
Meine Schwester Thea und ich wohnen
unter dem Dach im Haus meiner Eltern in einer Spielstraße, die einen der
Endteile einer weitaus größeren Straße bildet; ein eigener abgeschlossener
Wohnbereich, eine junge Welt für sich.
Thea befindet sich nicht in ihrem
Zimmer und feiert wahrscheinlich mit ihren Freundinnen im Club Elfenbein in der
Bielefelder Innenstadt.
Mark und ich setzen uns auf die
breit ausgebaute Fensterbank, von der aus man einen ausgezeichneten Blick auf
die Spielstraße hat, während Rassel Musik, Dire Straits, auflegt.
Wir öffnen Bier, das nach all den
Stunden im kalten Auto herrlich kühl mundet.
„Diese Sophia ist echt klasse“,
erklärt Mark, als sein Vornamensvetter Romeo und Juliette zu spielen beginnt.
„Wirklich nicht übel. Das muss man zugeben. Diese Frau ist echt mal was ganz
anderes. Sie sieht nicht nur fast perfekt aus, sondern hat dazu auch wirklich
was in der Birne. Die Kombination kommt bei Frauen so nicht oft vor.“
Mark dreht die Bierflasche in
seiner Hand und starrt verträumt auf sie hinunter und es ist glasklar, wo seine
Gedanken jetzt weilen.
„Die hat eine so super Figur und
das Gesicht, wow! Voll mein Beuteschema“, fährt Mark fort.
Sieh an, sieh an, einen deiner
besten Freunde scheint es echt erwischt zu haben. Vielleicht hat es den zweiten
auch erwischt, so wie der vorhin im Pendel mit der Alten rumgegeiert und ihr
über Geldanlagen berichtet hat. Dann hast du noch am Ende einen männlichen
Zickenkrieg zwischen deinen zwei besten Freunden zu schlichten, Freund Twelker.
` wäre doch echt beschissen, was!
„Komm mal runter, Junge! So toll
ist diese Sophia doch auch nicht. Okay, wenn man sie sieht, findet man sie
zunächst sehr hübsch, aber macht sie erst den Mund auf, herrje! Ich bitte dich!
Sie ist vor allem besserwisserisch, bestimmend und dazu noch eine
Hardcoreemanze. Kein Mann kann das doch toll finden, Mark", greife ich
leicht gereizt ein.
Mark winkt lächelnd ab, bevor er
den Rest seines Herforders mit einem Schluck leert.
„Ach, du hast doch keine Ahnung.
Sie ist eben eine richtige Frau und so sind die modernen Frauen heute; klug,
selbstbewusst, die Karriere im Auge. Mit so einer Frau könntest du dir ein
Industrieimperium aufbauen. Aber davon
scheinst du nichts zu verstehen, Jonas, weil du wahrscheinlich immer noch
meinst, Frauen gehören an den Herd“, kontert Mark, ohne dabei böswillig zu
klingen.
„Ja, und dann lässt sie sich
scheiden und reißt sich das Imperium unter den Nagel, zieht dich mit ihrer
Emanzenanwältin bis aufs Unterhemd aus", kontere ich leicht erregt.
"Rassel, sag, du mal was dazu und steh mir bitte bei!"
Mein Blick wandert zu Rassel, der
neben der Stereoanlage auf dem Boden sitzt und sein Herforder in der Hand hält.
Für einen Moment scheint ein finsterer Schatten gleich einer dunklen, schwarzen
Wolke über Andres Gesicht zu wandern und dann geschieht etwas sehr
Merkwürdiges, Beängstigendes, Gruseliges. In Rassels braunen Augen lodern
kleine scharlachrote Flammen, züngeln nach oben, brennen vor Felsen finsteren
Gesteins.
Ich zucke zusammen, Kälteschauer
jagen über meinen Rücken. Schnell schließe ich die Augen, öffne sie nach zwei,
drei Sekunden wieder und sehe, dass Rassel zustimmend grinsend zu mir auf der
breiten Fensterbank hinaufblickt. Er zieht aus der Jacke seines Blazers die
Schachtel Marlboro und sieht dabei aus wie eh und je, wenn er ein paar Bierchen
intus und gute Laune hat; keine Spur eines schwarzen Schattens auf seinem
Gesicht, keine Spur von Flammen und finsteren Felsen in seinen Augen.
Was war das denn? Nun, Freund
Twelker, du hast doch vorhin, bevor ihr in den Steinbruch gefahren seid, zwei
Voltaren genommen, weil dich immer noch Schmerzen im Arm heimsuchen, die daher
rühren, als du vor zwei Tagen beim Fußball in der OS-Sporthalle bei dem Versuch
eines Seitfallziehers kläglich auf eben diesen Arm gefallen bist. Das
Diclofenac, der Alkohol und das Schummerlicht in deiner Bude erklären das, was
du eben gesehen hast und was dir eine solche Angst eingejagt hat. Alles nur
eine optische Täuschung. Sieh hin, Twelker, alles ist normal und
wissenschaftlich erklärbar!
Ich blicke Rassel erneut fokussiert
an und stelle fest, dass dem so ist.
Eine optische Täuschung. Daran
hättest du auch gleich denken können, du Nase!
„Ja, dann werde ich mal das Wort
zum Sonntag, beziehungsweise zum Samstag halten", fängt Rassel an zu
erzählen, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hat. „Sophia sieht
fantastisch aus, ist intelligent und sicherlich kann ein Mann sich mit ihr was aufbauen.
Sie ist zweifelsohne eine tolle, junge Dame und mit Sicherheit der Prototyp
dessen, wie viele Frauen sich heute das Frausein vorstellen. Nur ein Andre
Faust, der lässt sich von niemandem, nicht einmal vom Lieben Gott persönlich in
seine Angelegenheiten reinreden. Wenn ich in einer Beziehung etwas sage, dann
ist das Gesetz und eine Frau hat nicht dran herum zu diskutieren. Von daher
stehe ich auf deiner Seite, Jonas. In der ersten Stunde war ich ganz hin und
weg von Sophia, aber je mehr die geredet hat, je mehr ging das zurück."
„Yeah! Mein Glaubensbruder!
Yeah!", jubele ich oben auf der Fensterbank und spende Applaus, in dem ich
immer wieder mit der flachen Hand auf mein Knie klopfe.
„Na, wenn ihr zwei das sagt",
spricht Mark schnippisch. „Vielleicht gibt euch irgendeiner von diesen hohlen
Privatsendern ja eine eigene Fernsehshow. Die könnte dann etwa Zwei
Karrieretypen suchen Hausmütterchen am Herd heißen oder so. Ich jedenfalls
orientiere mich lieber an Frauen wie Sophia."
„Okay, aber leider, wie es
aussieht, hat Sophia bereits einen Freund. Sie hat heute oft genug zu verstehen
gegeben, wie sehr sie diesen in der Beziehung mit ihrem Emanzenzeug
knechtet", sagt Rassel ruhig und gelassen.
Eine Reaktion lässt nicht lange auf
sich warten.
„Das ist ein Grund, aber kein
Hindernis“, sagt Mark entschlossen und plötzlich lachen wir alle drei.
Kapitel 8
(Bonn im Sommer 2008) „Lisa! Hör
auf, so eine Sauerei zu machen! Das ist ja ekelhaft“, weist die Frau am Tisch
nebenan zurecht.
Ich erwache aus meinen Erinnerungen
und blicke herüber.
Das Kind mag vielleicht drei Jahre
alt sein und matscht mit einem Löffel die Honigmelone auf ihrem Teller. Der
Vater scheint auch dabei; ein Polizist in Uniform, der sein Kind wohl sauen
lassen würde, wenn die Mutter abwesend wäre. Wahrscheinlich hat er gerade
Dienstschluss oder muss seine Schicht am Nachmittag beginnen.
Obwohl ich ihm vollkommen gleichgültig
bin, er keine Notiz von mir nimmt, überkommt mich eine heftige Panik, so dass
der Schweiß aus meinen Poren schießt und in kleinen Bächen über mein Gesicht
läuft.
Er wird sehen, dass du was zu
verbergen hast, weil es sein Job ist, sowas zu sehen, Freund Twelker! Er wird
sehen, dass dir seine Anwesenheit Furcht einjagt und wird dich aufs Revier schleppen und befragen
lassen. Du wirst einknicken und alles erzählen, was sich 1996 ereignet hat. Und
dann verschwindet Jonas Twelker im Bau und Dilek zu Markus Herbig oder so!
Ich stehe auf, lasse den Rest des
Frühstücks zurück und verlasse das Café Blau, gehe zügigen Schrittes fort und
wage es nicht einmal, mich umzuschauen. Erst als ich wieder zu Hause sitze und
die Wohnungstür mehrfach hinter mir verschlossen habe, stellt sich das Gefühl
einer kleinen Sicherheit ein.
Kapitel 9
(Bonn im Sommer 2008) Heute konnte
ich mich wesentlich besser bei Dilek am Telefon verkaufen, was allerdings nur
daran lag, dass einige von ihren Tabletten konsumiert wurden, die in der
Nachttischschublade ruhen; Tavor, dieses Bedarfspsychopharmaka, das beruhigt
und der Angst den Boden entzieht, wirkt wahre Wunder. Dilek bekam es einst
verschrieben, als ihre Angstattacken einmal mehr unerträglich geworden waren.
Meine arme Dilek leidet massiv unter Angstzuständen und muss seit Jahren
Medikamente dagegen einnehmen. Doch selbst diese starken Arzneien versagen
gelegentlich im Kampfe gegen die aus dem Nichts auftauchenden Anfälle. Eines nachts
überkam es sie derartig schlimm, dass sie vor lauter Panik kaum atmen konnte,
und ich sie zur Nervenklinik auf dem Venusberg hinauffahren musste, wobei mir
vor lauter Hilflosigkeit die Tränen über das Gesicht liefen.
Seit jener Nacht habe ich immer
wieder versucht, mir auszumalen, wie sich eine solche Angstattacke wohl
anfühlen mag und meine jetzt ziemlich sicher, eine Antwort auf diese Frage zu
kennen.
Ich sitze auf dem Sofa und habe
einen Zettel auf dem Schoss liegen, darauf die Bahnverbindungen vom kommenden
Mittwoch zwischen Bonn und Bielefeld. In meiner Hand und an meinem Ohr befindet
sich das schnurlose Telefon. Am anderen Ende der Verbindung lauscht Andre
Faust, mit welchem Zug ich anzureisen gedenke.
„Du wärst dann also gegen kurz nach
halb sieben am Abend in Bielefeld“, wiederholt Rassel. „Das trifft sich sehr
gut. Mark wollte gegen 21:00 Uhr bei mir auflaufen. Dann haben wir ja genug
Raum. Ich hole dich ab. Über alles Weitere reden wir dann am Mittwoch. Ich
werde das Gästezimmer gebührend für dich herrichten.“
Das Gespräch ist nicht von langer
Dauer.
Ohne das Tavor würde ich sicherlich
in meiner Wohnung auf und ablatschen oder wieder ein Bier nach dem anderen
zwitschern, um zur Ruhe zu kommen. Doch so wird, beruhigt von der Arznei, die
Glotze eingeschaltet.
In einem der dritten Programme
läuft ein US-Western aus den 50er Jahren in wundervollen Technicolor–Bildern.
Flach und weitgestreckt liegt der große Südwesten vor mir und John Wayne, der
stets den weißen Hut des Guten trägt, reitet mittendrin. Ich schaue den Film
und beschließe, noch eine Schlaftablette zu schlucken, weil Schlaf dringend
erforderlich ist. Denn es gibt für mich beruflich noch reichlich zu tun, zumal
die Reise nach Bielefeld ansteht und ich diese Woche für mindestens zwei Tage
nichts für das kommende Semester vorbereiten kann.
Einen Moment geht es mir durch den
Kopf, meine Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass ihr Sohn am Mittwoch zu
einem außerordentlichen Besuch in seiner alten Heimat erscheint.
Eine blöde Idee! Unter diesen
Umständen bei deinen Eltern weilen, nein! Besser nicht! Die würden dann ja
sofort merken, dass mit ihrem Sohn etwas nicht stimmt. Doch andererseits, wer
weiß, ob du nochmal Gelegenheit bekommen wirst, deine Lieben in deinem alten
Heimathaus zu besuchen. Der Knast, Mann! Der Knast!
Ich konsumiere sicherheitshalber
eine weitere Tavor zusätzlich zu der verschreibungspflichtigen Schlaftablette
und strecke mich auf dem Sofa unter der dünnen Tagesdecke aus. Noch etwa eine
halbe Stunde verfolge ich John Wayne bei seinem Kampf gegen das Böse, bevor ich
vor dem laufenden Fernseher wegschlummere.
Kapitel 10
(Bonn im Sommer 2008) Eigentlich
wollte ich schon gegen neun Uhr morgens an diesem Montag in meinem Büro sein,
aber die Kombination aus Tavor und Schlaftablette hat mich dermaßen weggehauen,
dass ich erst um zwölf aus dem Bett gekommen bin und auch das nur unter größeren
Mühen.
Schlaftrunken sitze ich im Institut
hinter meinem Schreibtisch, schaue auf den Flachbildschirm und quäle Sätze in
das für die Erstsemester bestimmte Skript. Bisher ist gerade mal eine halbe
Seite zusammengekommen und die Angst sitzt mir wieder im Nacken. Sie frisst
sich wie eine hungrige Ratte durch meine Eingeweide.
Wie es wohl sein mag, wenn die
Bullen dich im Büro verhaften und vor all den Kollegen und Studenten nach draußen,
an Händen und Füßen gefesselt, in den Streifenwagen schleppen? Ob das peinlich
ist oder kümmert es einem in diesem Moment einen feuchten Scheißdreck, Freund
Twelker?
Enger und enger kommt mir das Büro
von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde vor und ein kalter seifiger
Schweißfilm bedeckt meine Stirn, der nicht verschwindet, sooft ich mir diesen
auch mit Papiertaschentüchern fortwische. Mein ganzer Körper gleicht einem
einzig großen Schmerz. Das Radio hinter mir im Bücherregal spielt einen
Klassiker aus den 80er Jahren, Animotion, I Engineer, wobei für mich die
Klänge leicht gedämpft wirken, als kämen sie aus einer angrenzenden Dimension.
Normalerweise gefällt mir dieses
Lied äußerst gut. Erklingt es beispielsweise auf einer der Retro-Partys im Pantheon
und habe ich dazu noch ein paar Bierchen intus, springe ich auf die Tanzfläche
und gebe alles. Weil es durchaus seien könnte, dass ich diesen Song nie wieder
auf einer 80er Jahre-Fete werde hören können, da es demnächst für mich ab in
den Bau oder in die forensische Psychiatrie geht, kratzt mir der Song heute
einfach nur tierisch an den Nerven.
Mein Büro ist mir auf einmal viel,
viel zu eng, enger als eine Gefängniszelle, enger als der abgeriegelte Raum in
einer Psychiatrie für geistig kranke Straftäter.
Du musst hier raus! Du musst
hier raus! Du musst hier raus!
Schnell das Skript abgespeichert
und den PC heruntergefahren.
Auf dem Weg aus dem Gebäude
begegnet mir Steffen, ein Doktorrand mit langen rötlichen Dreadlocks, der im
Sommer stets in Muskelshirts umherzulaufen pflegt und seinen Drehtabak
dosenweise mit sich herumträgt.
„Hallo, Jonas. Alles klar?“
„Sicher das“, antworte ich und
quäle mir ein Lächeln über die Lippen.
„Machst Du schon Feierabend?“
„Noch nicht richtig. Ich muss noch
in die Stadt, Pflichtlektüre für das kommende Semester besorgen“, lüge ich.
„Du siehst ziemlich übernächtigt
aus. Hast du schlecht geschlafen?“, fragt er weiter.
„Und wie, Steffen. Verdammt
schlecht. Ein Kumpel von mir hat gestern Geburtstag gehabt. Haben ein Glas zu
viel getrunken.“
„Na dann, gute Erholung, Jonas. Ich
muss weiter. Habe noch jede Menge Arbeit im Labor zu erledigen.“
Schnell verlasse ich das Institut,
hebe hier und da grinsend die Hand, wenn mir jemand über den Weg läuft, und
stehe endlich an meinem Fahrrad.
Beim Radeln in die nahe Innenstadt
gehen mir zum ersten Mal Gedanken durch den Kopf, was der anonyme Absender des
Päckchens wohl erreichen möchte.
Was glaubst du wohl? Er will
Geld. Davon habt ihr drei ja mehr als der Durchschnitt, wobei Rassel im
internen Vergleich selbstverständlich in einer ganz anderen Liga spielt und du,
Freund Twelker, knapp hinter Mark wohl auf Platz drei rangierst. Du hättest
Mark mit der Ernennung zum Professor und der Erklimmung des Lehrstuhls
überholen können, aber, wenn du mich fragst, wird das leider nicht mehr
passieren. Denn der Erpresser wird fordern, fordern, fordern und habt
ihr alle Forderung beglichen, werden weitere kommen und weitere und weitere und
immer weiter und wenn ihr kurz vor dem Bankrott steht, kreuzen endlich doch
noch die Bullen auf und werfen euch in den Knast und dann macht sich Dilek mit
Markus Herbig zusammen vom Acker. Dann, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. In
der Bibel steht, die Wahrheit wird ans Licht kommen. Es steht geschrieben,
Freund Twelker!
Kurz vor dem Brunnen am Busbahnhof
wird mir speiübel, so dass ich absteigen muss. Während meine Hände sich fest an
den Lenker krallen, stehe ich neben dem Rad und fange das Würgen an. Ganz
ungeniert drehen sich die Passanten nach mir um. Zum Glück geht der Brech- und
Würgereiz vorüber, so dass mein spärliches Mittagessen im Magen bleibt.
Der Weg geht weiter. Ziellos,
planlos, meine Umwelt lediglich rudimentär wahrnehmend, schiebe ich mein
Mountainbike kreuz und quer durch die Innenstadt. Dabei entwickeln Erinnerungen
und Gedanken immer mehr eine Art der Eigendynamik.
Die ersten gemeinsamen Freunde und
Bekannte fangen zu fragen an, wann Dilek und ich denn zu heiraten gedenken. Wir
antworten dann stets, dass man das doch alles in Ruhe angehen müsse, uns eile
da nichts. Dilek hingegen, da bin ich mir ziemlich sicher, denkt im Verborgenen
oftmals an Trauung und eine kleine Familie und natürlich braucht ein
erfolgreicher Akademiker eine Familie zum Vorzeigen.
Nur wenn Jonas Twelker in den
Bau wandert, wird es wohl in den nächsten Jahren und wahrscheinlich auch danach
nichts mit dem Bund der Ehe. Denn kommst du eines Tages, falls das überhaupt
geschieht, wieder raus mit grauem Bart und grauen Haaren, wird Dilek schon
lange die Gattin eines anderen sein und ihm Kinder geschenkt haben. Und die
Unikarriere hat sich dann auch erledigt. Aus, aus, aus!
Direkt vor dem
Universitätshauptgebäude gleitet mir das Rad, welches ich noch immer
gedankenverloren neben mir herschiebe, aus den Händen und stürzt krachend zu
Boden. Ich schlage meine Hände vors Gesicht und fange zu weinen an. Wie ein
Kleinkind am Heiligen Abend, das sein Wunschgeschenk nicht bekommen hat, stehe
ich dort und schluchze vor mich hin. Die Passanten, Männer und Frauen, Alt und
Jung, gehen entweder mit gesenktem Blick vorbei oder halten kurz inne, blicken
ganz offen herüber, bevor sie ihren Weg fortsetzen.
Dilek wird dich auf
Nimmerwiedersehen verlassen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Nichts Heirat,
nichts Kinder! Nichts Karriere, nichts mit Herr Professor! Bau oder Klapsmühle
lautet deine Zukunft, Jonas Twelker!
Ich habe plötzlich das massive
Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen.
„Hey, was ist mit dir? Brauchst du
Hilfe?“
In meiner von Tränen verschwommenen
Welt steht eine junge, vielleicht zwanzigjährige Blondine, die im Sonnenlicht
des Nachmittages sehr zart wirkt in ihrer bunten Sommerkleidung.
„Danke“, presse ich hervor. „Danke,
aber es geht schon.“
Tja, jetzt lügst du gar schon
wildfremde Menschen an. Denn nichts mehr als Hilfe ist dir dringend nötig. Am
besten die Hilfe Gottes, mein Bester! Oder, besser noch, du hast die Hilfe
Satans nötig.
„Ganz sicher?“, hakt sie nach.
„Willst du dich nicht besser etwas hinsetzen und was trinken? In einem Cafe
oder auf einer Bank im Hofgarten? Ich kann dich hinbringen.“
„Nein...danke...das ist sehr
lieb...aber ich glaube, es geht.“
„Du glaubst es lediglich. Wenn du
willst, leiste ich dir besser noch ein wenig Gesellschaft, bevor du wieder zum
Tagesgeschäft übergehst. Oder du rufst einen Freund an und er leistet dir
Gesellschaft. Denn du siehst wirklich ziemlich angeschlagen und erledigt aus.
Sorry, wenn ich da so offen bin.“
Wenn du wüsstest Mädchen, was der alles auf dem Kerbholz hat, würdest du
schreiend davonlaufen! Zumindest bis zum nächsten Polizeirevier!
Plötzlich überkommt mich das extrem
intensive Bedürfnis, ihr alles zu erzählen, dieser mir vollkommen unbekannten
jungen Dame reinen Wein einzuschenken, alles einfach loslassen und reden, reden
und nochmals reden, damit es mir ein klein wenig besser geht.
„Danke dir wirklich. Ich glaube,
langsam wird es tatsächlich besser“, erkläre ich ihr und hebe mein Rad auf.
„Danke für deine Mühe und deine Hilfsbereitschaft. Das ist in der heutigen Zeit
nicht mehr selbstverständlich. Aber ich denke, jetzt komme ich wieder klar.“
Die schlanke Blondine lächelt mich
an; ein warmes, herzliches Lächeln.
„Und du bist sicher, dass du mit
deinem Rad heil durch die Stadt kommst und nicht irgendwo vorfährst?“, fragt
sie.
„Ich denke schon.“
Das Lächeln der jungen Frau wird
breiter und ihre tiefblauen Augen strahlen vor Gutmütigkeit und Freude am
Leben.
Sie ist größer, als es durch die
Tränen wirkte, höchstens einen halben Kopf kleiner als ich. Wie ihr ganzer
Körper sind auch die Gesichtszüge unheimlich zart und sie hat ein paar
Sommersprossen um die wohlgeformte Nase herum. Im Großen und Ganzen, das muss
ein vernünftig denkender Mann direkt einräumen, sieht sie schon verdammt nett
aus.
„Du denkst schon, aber...“, sagt
sie keck.
Aber eigentlich würde ich gerne mit
dir einen Kaffee trinken, spinne ich den Satz für sie stumm zu Ende.
Sie würde sicherlich eine
Kleinigkeit mit dir trinken gehen, Freund Twelker. Sie wartet nur auf einen
solchen Vorschlag. Greif zu!
Ich bekomme über diesen Gedanken
ein leicht schlechtes Gewissen wegen Dilek, aber warum überhaupt? Im Gegensatz
zu all den anderen Menschen, die an diesem Ort durch diesen Sommertag laufen,
war sie die einzige, die sich um einen Mann gekümmert hat, der alleine vor der Uni
stand und weinte. Es geht hier nicht ums Fremdgehen oder darum, sich eine Affäre
klarzumachen, sondern einfach nur darum, mich mit einem Kaffee oder einem Drink
für die Hilfsbereitschaft dieser jungen Frau zu bedanken. Außerdem lenkt mich
zwangloses, harmloses Plaudern sicherlich ein wenig von meiner misslichen Lage
ab, denn kehre ich in diesem Zustand alleine in meine Wohnung zurück, muss
wieder die Pharmaindustrie die quälenden Gedanken aus dem Weg räumen. Es ist
kein Date oder ein Ficktreffen, sondern nur eine nette Unterhaltung mit einem
netten Menschen, der es wagt, zu helfen, wenn andere wegsehen. Und dass ich ihr
etwas zu trinken spendiere, gehört sich alleine schon aus Gründen der
Höflichkeit. Dilek würde genauso handeln, ganz sicher.
„Aber vielleicht wäre ein wenig
Gesellschaft doch nicht so verkehrt. Ich würde dich gerne auf einen Kaffee oder
so einladen, um mich auch bei dir zu bedanken. All die anderen Chaoten sind ja
wortlos an mir vorbeigelaufen“, antworte ich und versuche, so gut es eben geht
zu lächeln.
Ihr Lächeln hingegen wird daraufhin
breiter.
„Gerne. Ich halte das für einen
guten Plan. Hast du schon eine Idee, wo wir hingehen könnten?“, fragt sie mich.
„Kennst du das Pawlow? Ich finde
das recht nett und zwanglos. Außerdem kann man da prima draußen sitzen und das
Leben in der Altstadt beobachten.“
„Klar kenne ich das Pawlow. Ist
eine gute Idee. Ich bin übrigens Franziska. Schrecklicher Name, was?“
„Och. Da gibt es viel, viel
schlimmere Namen. Jonas.“
„Danke für die Blumen, Jonas. Ich
gebe dir zurück, auch dein Name hört sich in meinen Ohren erträglich an.“
Wir lachen, bewegen uns in Richtung
Altstadt.
Kapitel 11
(Bonn im Sommer 2008) Eigentlich
hätte es ja nur ein Bier im Pawlow werden sollen, aber es wurden ein paar mehr
und je länger wir uns unterhielten, je besser verstand ich mich mit Franziska.
Schließlich fanden wir uns um kurz nach neun im nahen Rewe–Supermarkt wieder,
kauften noch mehr Bier und gingen anschließend in ihre kleine Altstadtwohnung
in der Wolfstraße nur wenige hundert Meter vom Pawlow entfernt.
Jetzt sitzen wir bei Franziska auf
der Couch, hören Massive Attack und quatschen noch immer, als gäbe es kein
Morgen mehr. Die unseligen Erinnerungen an jenen Sommer im Jahre 1996 liegen
augenblicklich in weiter Ferne, sind nur angedeutete Schatten in größerer
Distanz.
Franziska arbeitet übrigens als
Krankenschwester im Malteser Krankenhaus und so jung, wie sie aussieht, ist sie
auch wieder nicht. Vor zwei Wochen wurde sie fünfundzwanzig.
Kurz nach unserer Ankunft in ihrer
behaglichen Wohnung fragte sie mich höflich, ob ich etwas dagegen habe, wenn
sie sich einen Joint drehe. Ich könne auch gerne mitrauchen, weil sie eine
anständige Gastgeberin sei.
Während meiner Zeit am OS habe ich zwei- oder dreimal mit Alina, die als
Künstlerin auf sowas abfuhr, Marihuana geraucht und musste feststellen, dass es
mich schön müde machte und mich vor dem Einschlafen über eine dreihundert Gramm
Tafel Milka-Alpenmilchschokolade herfallen ließ, mehr aber auch nicht; kein
Kreativkick, kein Lachanfall, kein Blick auf die blauen Fenster hinter den
Sternen. Natürlich habe ich weder Mark noch Rassel jemals davon berichtet, da
das bei meinen zwei Freunden sicherlich auf Unverständnis gestoßen wäre.
Oberstudienrat Wenzel hatte seinem
einzigen Sohn über Jahre eingeredet, dass Gras ein Produkt des Satans, genauso
schlimm wie Heroin sei und Mark verinnerlichte die Worte seines Vaters stets.
Rassel hingegen brachte mit Kiffern arbeitsfaule Linke in Verbindung, die durch
die Straßen zogen und dabei „Deutschland muss sterben, damit wir leben
können!" skandierten, etwas welches ihm, der ganz fest daran glaubte, dass
es ein jeder Mensch in diesem Land durch die eigene Stärke von ganz unten zu
Reichtum und Macht bringen kann, komplett gegen den Strich ging und sicherlich
auch heute noch geht.
Der Höflichkeit wegen ziehe ich ein
paar Mal leicht an der Tüte und muss gestehen, dass mich die Wirkung des Grases
heute gar ein wenig angenehm bedröhnt, die Zeit ein klein wenig dehnt, mich
redseliger macht.
„Ein Freund von mir damals in
Bielefeld hat eine leicht gestörte, leicht in Anführungsstrichen, Mutter
gehabt. Die ist mal in den Urlaub gefahren, da war der um die achtzehn, und hat
sämtliche Räume in der Wohnung bis auf sein Zimmer und die Gästetoilette
abgeschlossen. Der arme Kerl hat die ersten Tage nur kalte Ravioli aus der Dose
gefressen. Und dann hat er nach drei Tagen angefangen, Ravioli und auch
Dosensuppen mit einer Kaffeemaschine, er hatte eine Kaffeemaschine in seinem
Zimmer, warmzumachen. Er hat das Essen in die Kanne gekippt und auf der
Warmhalteplatte erhitzt. Es hat Stunden gedauert, aber immerhin hat er ein
warmes Essen bekommen.“
Franziska lacht sich weg. Beide
sind wir von Alkohol und Marihuana tüchtig angeheitert.
„Herrje“, gackert Franziska. „Die
Geschichte ist so traurig, dass sie schon wieder zum Lachen ist. Weißt du...“,
sie prustet, „....weißt du, was ich mal erlebt habe?“
„Nein. Weiß ich leider noch nicht“,
antworte ich breit grinsend.
„Also. Es gab mal einen Bekannten
in meinem früheren Freundeskreis, der hieß...“, wieder Lachen und Prusten,
„...der hieß Alexander und der war strohdumm. Jedenfalls haben wir
zusammengesessen und das Radio lief und dann kamen die Nachrichten und eine
Schlagzeile lautete: Illegale Tierversuche in Verden. Du weißt doch, was Verden
ist, nicht?“
„Eine Stadt“, antworte ich. „Eine
Stadt in Niedersachsen.“
„Ja, genau. Soweit, so gut. Gehört zur
Allgemeinbildung, auch wenn man von den meisten Menschen nicht erwarten darf,
dass sie wie du wissen, dass diese Stadt in Niedersachsen liegt. Weißt du, was
dieser Alexander geantwortet hat?“, sie gibt mir keine Zeit, zu antworten. „Er
hat gesagt: >>Wie? Die quälen die Tiere in Tieren! Wie soll das denn
gehen?<< Pferde, du weißt, was ich meine.“
Die Geschichte kommt mindestens
genauso schräg daher wie die mit den Ravioli in der Kaffeemaschine. Wir lachen
beide für eine gute Weile.
Nachdem wir ausgelacht haben,
verzieht sich Franziska auf die Toilette und ich nehme mir die Zeit, einen
Blick auf ihr übervolles Bücherregal zu werfen.
Sie scheint einen Faible für
Mankell und Grange zu haben, aber es finden sich auch typische Frauenbücher und
Sachliteratur, sowie zahlreiche Bildbände, bei denen der Fokus auf Skandinavien
liegt. Ich entdecke Fänger im Roggen von Salinger und eine Biografie
über den Mann, der John Lennon erschoss. Ordentlich stehen diese beiden Bücher
nebeneinander.
„Ist was dabei, was dir gefällt?“,
fragt Franziska.
Ich drehe mich um.
Sie kommt geschmeidig durch die
Tür, setzt sich aufs Sofa und dreht sich eine van Nele Zigarette.
Ich möchte sie fragen, ob das Buch
von Jack Jones über den Mörder eines der größten Musikers der jüngeren
Geschichte lesenswert sei und spüre statt zu fragen einen gewaltiger Stich in
der Magengegend.
Kann du ernsthaft in deiner
jetzigen Situation Franziska über die Biografie eines geisteskranken Mörders
befragen? Du lässt schon nach, Freund Twelker!
„Viele von den Grange Büchern habe
ich selbst gelesen. Du scheinst Skandinavien sehr zu mögen. Mir wäre es da zu
kalt und dunkel“, sage ich schließlich.
Auch ich nehme wieder in der
Sofaecke Platz.
„Ja. Es stimmt. Die Winter können
sich dort endlos hinstrecken. Ich war schon oft in Skandinavien, vor allem in
Schweden. Eine meiner besten Freundinnen studiert Nordische Sprachen in
Stockholm. Ich habe sie mal über Weihnachten besucht. Das ist schon eine krasse
Hausnummer. Da hast du wenige Sonnenstunden am Tag. Aber wenn du mit einem
Menschen zusammen bist, den du magst und wenn dein Herz von innen leuchtet,
kann dir auch im skandinavischen Winter nichts passieren.“
Während Massive Attacks
geheimnisvolle, depressive Musik durch den Raum schwebt, breitet sich mehr und
mehr eine seltsame Spannung aus; eine spezielle Art von Elektromagnetismus. Wir
blicken einander nun anders an, als wir das zuvor getan haben. Das Gefühl,
welches ich dabei empfinde, war in einer solchen Intensität lange nicht mehr zu
spüren. Es erinnert mich stark an den Moment vor meinem ersten richtigen Kuss
im Alter von dreizehn Jahren. Franziskas blaue Augen sind tief wie das Nordmeer
und von ihnen ausgehend, legt sich eine Art Zauber auf mich nieder. Ich möchte
diese Frau unbedingt berühren, koste es, was es wolle.
Ihre schlanken Hände mit den top
gepflegten Fingernägeln ruhen auf ihren Knien. Langsam, ganz langsam, lege ich
meine Handflächen auf ihre Handrücken, worauf Franziska ihre Hände dreht, damit
sie einander halten können. Wie zu einem Kunstwerk aus Bronze erstarrt, sitzen
wir eine unbestimmbare Zeit einfach nur auf dem Sofa, halten Händchen, lauschen
der Musik und sehen einander tief in die Augen.
Ich möchte sie näher bei mir spüren
und so löse ich meine Hände und schlinge langsam die Arme um ihre Schultern,
worauf sie keinen Widerstand leistet und ihrerseits die Hände knapp oberhalb
meines Pos platziert. Automatisch rücken wir noch näher zueinander. Franziska
schließt ihre Lider, was auf mich wie ein zauberhaftes Zeichen wirkt. Ich lege
meine Lippen auf die ihrigen und wir fangen an, uns langsam zu küssen.
Kapitel 12
(Bonn im Sommer 2008) Neben mir
unter der Decke schläft Franziska und ich lausche ihren ruhigen und gleichmäßig
gehenden Atemzügen, wobei mein Blick hinauf zur Decke in der Finsternis des
Schlafzimmers gerichtet ist.
Nach einem wirren Traum, in dem ich
mit ein paar Freunden aus früheren Tagen gegen den FC Bayern München Fußball im
alten Olympiastadion spielen musste (kurios: ein Spieler des FC Bayern war ein
Hund), wachte ich auf und dachte zunächst, dass Dilek neben mir lege, bis mir
bewusst wurde, was geschah und wo ich mich befand.
Langsam, um Franziska nicht zu
wecken, krieche ich unter der Decke hervor und verlasse das Bett. In meinem
Kopf herrscht das totale Chaos, ein heilloses Durcheinander wegen Dilek,
Franziska und dieser verfluchten Sache,
die nun auf einmal wieder voll zurückkommt.
Ist es möglich, dass du in den
letzten Stunden mit dieser süßen jungen Frau gar nicht mehr an das Päckchen und
dessen gnadenlosen Inhalt gedacht hast, Freund Twelker!
Weil Franziskas Wohnung direkt
unter dem Dach liegt, herrschen selbst zur nächtlichen Stunde noch entsprechend
hohe Temperaturen in den Räumlichkeiten vor.
Nackt gehe ich vom Schlaf- ins
Wohnzimmer, wo unsere Klamotten ein wildes Durcheinander vor dem Sofa bilden.
Ich schlüpfe in meine Boxershorts.
Du könntest dich einfach
anziehen und abhauen. Sie weiß weder deinen Nachnamen noch hast du ihr deine
Adresse oder Telefonnummer gegeben.
Nichts dergleichen gedenke ich zu
tun. Es verhält sich einfach so, dass Franziska mir ein unglaubliches Gefühl an
Sicherheit gibt und irgendwie meine Gedanken zu befreien scheint. Als wir
miteinander schliefen, mal sanft, mal wild und in der Hitze der Nacht in
unserem Schweiß gebadet, gab es keinerlei Gedanken, keine Sorgen und Ängste,
sondern da war einfach nur dieses Gefühl, vollkommen losgelöst von allem und
jedem zu sein. Es existierten nur wir beide, abgetrennt von Raum und Zeit.
Auf dem Sofatisch liegt Franziskas
Tabak, Drehpapier und die dünnen Filter, bei deren Anblick mich die Lust
überkommt, mir eine Zigarette zu drehen. Früher, als ich noch zur Schule ging,
drehte ich allein aus finanziellen Gründen die meiste Zeit des Monats außer bei
Kneipen- und Partybesuchen, so dass es nun Erinnerung an alte, längst
vergangene Zeiten heraufbeschwört, Papier, Filter und Tabak zu vereinen. Ich zünde mir die nach all den Jahren doch
recht gut gewordene Zigarette an, lehne mich in der Couch zurück und inhaliere
genussvoll.
Und während ich da sitze und
rauche, kehren meine Gedanken in die Vergangenheit zurück.
Kapitel 13
(Bielefeld im Sommer 1995) Wir
schreiben einen Sommer, wie ich ihn zuvor selten erlebt habe; einen gnadenlos
heißen Sommer und der erste Sommer, in dem sich Mark nicht mehr Schüler zu
nennen braucht.
Auf dem Rats Gymnasium bestand er
sein Abitur mit dem passablen Durchschnitt von 2,1, wofür er gebüffelt,
förmlich Blut und Wasser geschwitzt hat. In den Nächten vor den Klausuren
schlief er zwei Stunden und kotzte sechs.
Nun muss er seit dem 1. Juli
Zivildienst schieben, was in seinem Fall bedeutet, an fünf Werktagen geistig
Behinderte von ihren Wohnorten zu den für sie bestimmten Werkstätten zu
fahren.
Rassel geht in sein letztes Ausbildungsjahr
zum Beruf des Bankkaufmanns.
Inzwischen hat er abends nach der
Arbeit Volkshochschulkurse zu PC- Themen absolviert und liest in seiner
Freizeit ganze Wälzer über Informatik. Zum Wintersemester 95 gedenkt er gar,
sich an einer Fernuniversität einzuschreiben, an der er zwar kein richtiger
Informatiker, dafür fehlt ihm die Allgemeine Hochschulreife, aber so eine Art
Informatiker (FH) werden kann. Er plant noch immer Großes und weicht dabei
keinen Zentimeter von seinem Wege ab.
Mir geht es prima.
Noch ein Jahr und dann wird das
Oberstufen-Kolleg und damit auch meine Schulzeit Geschichte sein. Die von mir
in Form von Referaten, Klausuren und Hausarbeiten erbrachten Leistungen sind
gut bis sehr gut und bislang kann auf der imaginären Straße zum erweiterten
Abitur kein Hindernis ausgemacht werden, welches ich nicht locker umfahren
könnte.
Ach ja, einen Führerschein habe ich
mittlerweile auch und mein Vater wollte mir meiner guten Entwickelung wegen
sogar einen neuen Kleinwagen zulegen, was von mir abgelehnt wurde mit der
Begründung, er solle das Geld doch lieber auf ein Sparkonto überweisen. Ich
werde eine gewisse Menge an Geld für das Studium benötigen, denn an die
Universität Bielefeld führt mich mein weiterer Weg definitiv nicht. Zum einem
basiert meine Entscheidung darauf, dass, was immer zu dummen Gerede zwischen
den Kommilitonen führt, meine Mutter an der hiesigen biologischen Fakultät
lehrt, zum anderen, dass ein Ortswechsel nach all den Jahren in meiner
Geburtsstadt sicherlich der weiteren humanen Evolution gut bekommt. Mich
verlangt es mit jedem neuen Tag stärker, den Horizont zu erweitern und ich
denke, dass dieses den ganz normalen Werdegang eines gebildeten Menschen darstellt.
Das einzige, was bislang noch nicht feststeht, ist der zukünftige Studienort.
Meine Musterung liegt ebenfalls
hinter mir und der Bundeswehrarzt erklärte mir im Anschluss an die geistigen
und körperlichen Untersuchungen, dass eine Tauglichkeit lediglich für Pioniere,
Falschschirmspringer und Gebirgsjäger nicht gegeben sei. Verweigern, wie Mark das in buchstäblich
letzter Minute tat, kommt für mich in einer Millionen Jahre nicht in Frage,
denn sowas tun doch nur Vaterlandsverräter, nicht wahr?
Gut neun Monate zwischen Juni 1994
bis März 1995 ging ich mit einer Mitschülerin namens Alina, deren
Wahlfachschwerpunkt auf Kunst und Philosophie liegt. Sie schaut wahrhaft
niedlich aus mit ihren schwarzen, lockigen Haaren, den paar Pfund zu viel auf
der Hüfte und besitzt einen aufgeweckten, netten Charakter, aber die Frau fürs
Leben war sie am Ende auch wieder nicht. In gütiger Eintracht trennten wir uns
und gehen heute noch gelegentlich in der Uni während der Pausen oder Freiblöcke
freundschaftlich zusammen etwas trinken.
Bei Mark lief in frauentechnischer
Hinsicht nicht viel bis gar nichts zusammen.
Es ist wirklich äußerst seltsam,
dass der nicht nur meiner Meinung nach mit Abstand hübscheste von uns drei
jungen Kerlen keine Dame abbekommt. Wahrscheinlich liegt oder lag das weniger
am Aussehen und Charakter als an der Tatsache, dass die Schule und die
Erfolgserwartungen seines Vaters ihn gerade im letzten Jahr massiv unter Druck setzten
und er somit den Kopf gar nicht frei für eine Freundin bekam. Jetzt sieht die
Sache entschieden anders aus und Mark lauert nur darauf, sich auf die Damenwelt
zu stürzen. Für die nächsten zwölf Monate braucht er sich um nichts zu scheren,
außer den Kleinbus mit den Behinderten aus Bethel von A nach B zu fahren, da
wird ja wohl genügend Zeit und Konzentration für die hübschen Töchter der Stadt
übrigbleiben. Leider habe ich die Befürchtung, dass er noch immer in Sophia
verschossen ist und sich ernsthafte Hoffnungen macht, in die Fußstapfen ihres
Exfreundes zu treten, welchen sie, wenn wir Tinas Aussagen Glauben schenken,
bereits vor zwei Monaten in die Wüste geschickt habe. Sophia selbst schweigt
dazu beharrlich, redet allerdings mit keinem Wort mehr über ihn und lässt sich
wesentlich häufiger als zuvor im Pendel blicken.
Rassel hat temporär ebenfalls eine
bessere Hälfte gehabt, eine Betriebswirtin, die für Doktor Oetker arbeitet.
Irgendwann flogen, typisch Andre
Faust, dermaßen stark die Fetzen und alles war so schnell vorbei, wie es einst
als große Liebe begonnen hatte. Bei Rassel glaube ich manchmal, dass er
tatsächlich keine höhere Intelligenz als die seinige neben sich duldet und er
an jenem Abend, als wir bei mir daheim über Sophias Wesenszüge diskutierten,
keinesfalls spaßte.
Sascha Quermann lebt übrigens auch
noch in seiner Bude direkt neben Frank Säufer Engel und schafft nach einigen
Arbeitsplatzwechseln nun angeblich für eine Firma im Süden von Brackwede.
Er könne dort auf die Schnelle
wesentlich mehr Geld zusammenbekommen, denn Kohle benötige er dringend für den
LKW–Führerschein.
Wir sehen allerdings, dass
Hilfsarbeiter Quermann seine Freizeit weniger in irgendwelchen Fahrschulen
verbringt, sondern zunehmend in den Brackweder Spielhallen. Guter Freund
Pokerautomat, hört man immer wieder hinter vorgehaltener Hand von Menschen, die
ihn besser kennen. Außerdem, was kein Witz ist, da ich ihn persönlich damit
gesehen habe, hat er sich ein Fernglas gekauft und rennt häufiger in den Wald,
um Vögel und andere Tiere zu beobachten.
Heute ist Samstag und auf dem
Grillplatz hoch über unserem Heimatstadtteil steigt eine durch uns organisierte
Party.
Der Aufstieg hinauf zu dieser Wiese
auf einem Kreideberg ist mühsam, weil extrem steil, vor allem wenn man den kürzesten
Weg wählt und zusätzlich jede Menge Bier und Grillzeug in der Sommerhitze schleppt.
Gelangt man allerdings erstmal an sein Ziel, entschädigt die majestätische
Aussicht für all die erlittenen Strapazen. Der Blick geht über Brackwede mit
seinen Siedlungen und Manufakturen, den Ostwestfalendamm voller dahin
brausenden Kraftfahrzeuge und streift endlich das Münsterländer Kreidebecken
mit all seinen Dörfern und Kleinstädten, bis er sich schließlich am Horizont
verliert.
Als ich oben auf dem Grillplatz
stehe, mir den Schweiß von der Stirn wische und voller Ehrfurcht den Ausblick
genieße, weiß ich gar nicht, seit wie vielen Tagen es nicht mehr geregnet hat.
Sieht man von ein paar weißen Fetzen am königsblauen Firmament ab, sind Wolken
augenblicklich nur noch eine flüchtige Erinnerung. Mir kommt es sogar schon
vor, als gebe es den berühmt berüchtigten Bielefelder Regen nicht, ebenso wie
kalte, kurze Wintertage und andere Oberbekleidung als T-Shirts und nach
Sonnenuntergang vielleicht eine dünne Jeansjacke.
So erlebt man einen Sommer nur,
wenn man jung und frei jedweder Sorgen ist.
Für diese Sause haben sich alle
angesagt und sogar vom Oberstufen Kollegen gibt es die Zusagen meiner
Mitschüler Ralph Beermann und Karsten Passfall. Ralph besucht mit mir zusammen
die Biologieveranstaltungen, während Karsten als Schwerpunkt Physik gewählt
oder vielmehr sich verwählt hat. Nach den Ferien geht er in sein drittes Jahr
am Oberstufen Kolleg und wahrscheinlich wird dort Endstation für ihn sein, weil
er schlicht und einfach zu dämlich ist, die Anforderungen zu erfüllen, was am
OS alle außer Passfall selbst wissen. Zu dieser Party habe ich ihn eingeladen, weil
er stets flache Sprüche bringt und man sich im Suffkopf gar herrlich über ihn
amüsieren kann.
Sicherlich haben auch Quermann und
Säufer Engel von der Party Wind bekommen und bei Engel verhält es sich so, dass
er stets dort auftaucht, wo ein wenig Alkohol abgestaubt werden könnte, und wo
ein Engel ist, ist ein Sascha Quermann meist nicht all zu weit. Sollen sie doch
kommen, damit wir nur noch mehr zum Lachen haben.
Gnadenlos brennt die Sonne vom
Himmel.
Auch Mark, Sven Vogel und Rassel
sind schweißnass vom Aufstieg, haben wir zusammen in der flimmernden Hitze doch
zwei Kästen Bier und außerdem reichlich Grillzeug den Berg hinaufgeschleppt.
Wir sind also die ersten
Partygäste, öffnen Bier, setzen uns neben die Kästen ins Gras und warten auf
die anderen.
Motorenlärm gemischt mit hämmernden
Bässen dringt aus dem Wald und von der Straße herüber, die serpentinenhaft zum
Grillplatz führt. Eigentlich ist die Zufahrt unten am Fuße des Berges mit einem
Metallpfosten gesichert, so dass außer dem Forstbetrieb keinerlei Fahrzeuge in
den Wald gelangen, denn damit die Sperre entfernt werden kann, benötigen die
Förster und Waldarbeiter einen speziellen Dreikantschlüssel.
Braunis silbergrauer Ford Escort
XR3I rollt auf den Grillplatz, wobei der Sportauspuff röhrt und aus den
geöffneten Fenstern die Techno-Beats dröhnen. Brauni sitzt bemüht lässig am
Steuer, Thomas nicht minder cool daneben. Beide tragen dieselben schwarzen
Sonnenbrillen im nicht mehr ganz aktuellen Miami–Vice-Look, die heute, wir
wollen ehrlich sein, nur noch peinlich sind. Brauni kurvt den Ford direkt neben
unsere Kästen und die Grilllade. Der Wagen kommt zum Stehen, bevor der Motor
samt Sportauspuff erstirbt, die gruselige Musik allerdings weiterplärrt. Ganz
der Hitze dieses Tages angepasst, steigen die beiden langsam aus dem Wagen. Im
genauen Gegensatz dazu springt Sven auf.
„Ihr Säcke“, flucht er. „Hättet ihr
nicht Bescheid sagen können? Dann hätten wir hier nicht den ganzen Scheiß den
verfickten Berg hochtragen müssen.“
Thomas, der ein schwarzes Slayer
T–Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln trägt, so dass ein jeder seine Tätowierungen
- eine Schlange und ein in einem Felsen steckendes Schwert - bewundern kann,
zuckt die Schultern. Obgleich er den Aufstieg an anderer Stelle fahrend
verbracht hat, glitzern auch auf seiner Stirn dicke Schweißperlen.
„Hätte ich auch, aber den hier habe
ich erst vor wenigen Minuten bei uns im Keller gefunden“. antwortet er.
Während Thomas zur Untermauerung
seiner Worte beinahe triumphierend einen silbernen Dreikantschlüssel hochhält,
ist Brauni bereits um seinen Wagen herum und wühlt aus dem Kofferraum drei
Kisten Bier, ein Gebinde Sprudelwasser -weiß Gott, wer das trinken soll-, einen
Grill und vier Dosen Red Bull.
Red Bull ist im Moment der letzte
Schrei, wirkt recht aufputschend und ist noch nicht lange auf dem deutschen
Markt erhältlich. Persönlich bin ich darauf aufmerksam geworden, weil
Heinz-Harald Frentzens Sauber–Ford dafür Werbung fährt. Es schmeckt wesentlich
besser als Kaffee und hält in den ersten Schulstunden nach einer durchfeierten
Nacht auch tatsächlich wach. Nur müssen die beim Marktkauf allen Ernstes 3,99 Deutsch
Mark für eine 0,2 Liter Dose nehmen? Brauni jedenfalls fährt vollkommen auf das
Chemozeug ab und da er später noch in eine seiner prolligen Diskotheken fahren
möchte, wird er sich diese Nacht wohl allein mit diesem alkoholfreien Getränk
begnügen müssen.
Wir stapeln den Krempel aus dem
Kofferraum neben dem bereits vorhandenen Zeug und warten weiter auf den Rest
der Truppe und weil Warten nun einmal furchtbar langweilig ist, öffnen wir
weiteres Bier zum Zeitvertreib. Lediglich Brauni lehnt lässig an seinem Ford
und schlürft das schon erwähnte Red Bull.
Sven kommt auf die glorreiche Idee,
Holz für ein späteres Feuer zu suchen, wobei einer, in diesem Fall Brauni, zurückbleibt,
um unser Zeug zu bewachen.
Nach und nach wird altes Holz
herbeigeschleppt, welches Thomas mit seinem ultrascharfen Kampfbeil zu
verwendbaren Stückchen zerkleinert.
Inzwischen hat eine Gruppe Rock a
Billys etwa dreißig Meter von uns entfernt Position bezogen. Eines ihrer Mädels
sieht wirklich gut aus - lange Haare, dicke Brüste, hübscher Po -, während die
Typen allesamt, was selbst der berühmte Blinde mit dem Krückstock sieht,
Schwachmaten sind, die ihre Haare zu Schmalztollen frisiert haben. Einige von
diesen Herren der Schöpfung tragen schwarze Lederjacken, was einem normalen
Menschen bei Temperaturen jenseits der dreißig Gradmarke einfach surreal oder
geisteskrank vorkommen muss. Sie haben einen gewaltigen Ghettoblaster
aufgestellt, aus dessen Lautsprechern nun er, der King persönlich, Elvis
Presley tönt.
Von uns treffen weitere Leute ein.
Es wird achtzehn Uhr und kein Grad kühler.
Um halb sieben kommen Helge, seine
Freundin Tabea und Toni, der ein wenig wie Jürgen Klinsmann aussieht. Natürlich
bringen auch sie reichlich Bier mit. Ralph, mein Kumpel vom Oberstufen Kolleg
trudelt zusammen mit Karsten Passfall ein. Trotz der Wärme trägt Karsten
Cowboystiefel unter den Beinröhren seiner Jeans und ein Nietenlederarmband, was
mich irgendwie an die Rock a Billys denken lässt und die Frage aufwirft, ob er
bei denen nicht besser aufgehoben wäre.
Der Grill brennt. Würstchen und
mariniertes Fleisch wandern auf das Rost.
Ich habe gerade den dritten halben
Liter Bier geöffnet und eigentlich gar keinen Hunger.
Sascha Quermann und Frank Engel
erscheinen. Von ihren Klamotten her stehen beide nur knapp über Stadtstreichern
und uns und gar den Lederjacken tragenden Rock a Billys fallen synchron die
Kinnladen herunter, da wir erkennen, dass Frank Engel einen verblichenen
Skianzug trägt. Er ist bereits, was man schon aus der Distanz riechen und an
seinem Gang erkennen kann, restlos voll und hält einen abgenutzten Fußball aus
Leder unter dem Arm. In den Taschen seines ausgedienten Skianzugs stecken zwei
Flachmänner Doppelkorn, die obszön wirkende Dellen in dem Stoff erzeugen. Mit schwankendem
Schritt kommt Engel auf uns zu und neben ihm trägt sein Busenfreund Quermann
ein wieder mal dämliches Grinsen auf dem Gesicht.
„Was ist denn das für ein müder
Haufen? Lass uns ne Runde vor die Murmel bolzen“, lallt Engel hörbar. „Gib mal
ein Bier!“
Er will sich gerade unaufgefordert
eine Flasche aus einem der Kästen angeln, da schlägt Sven seinen Arm grob zur
Seite.
„Ist nicht!“, zischt er Engel an.
„Zwei Mark die Pulle.“
Engel will zunächst kontern, sieht,
dass er alleine auf weiter Flur steht und greift, nachdem er mit der anderen
Hand den Weizenkorn herausgezogen hat, in eine Tasche seines Skianzugs. Er
fängt an, was ebenfalls obszön aussieht, in ihr Taschenbilliard zu spielen, um
schließlich zwischen den Fetzen von Papiertaschentüchern mehrere Silbermünzen
in der Hand zu halten.
„Hier. Nimm dir, was du brauchst“,
sagt er unfreundlich zu Sven.
Angewidert blickt Sven auf das
Gemisch aus Metall und Papierresten, das Frank Engel ihm entgegenstreckt. In
der Abendsonne blitzen die Münzen.
„Gib ` s mir lieber selber.“
Engel zieht die Stirn in Falten, bevor er den Flachmann ins Gras fallen lässt
und eine Mark und zwei Fünfzigpfennigstücke heraussucht.
„Oh, er kann ja tatsächlich zählen“,
sagt Thomas deutlich hörbar.
Murat und Adnan tauchen auf und
bringen eine Flasche Asbach Uralt, Jack Daniels und Coca Cola mit, die sie in
eine große, rote Plastikschüssel voller Eiswürfel gesteckt haben.
Die meisten der bereits Anwesenden
essen jetzt.
Bevor ich vom Biertrinken gar
keinen Hunger mehr spüre, genehmige ich mir ein Nackensteak. Es schmeckt
tadellos, weckt in mir ein zartes Appetitgefühl, so dass am Ende noch eine
Bratwurst in mich hinein passt.
„Los! Lasst uns kicken, ihr Eimer!
Wir sind doch schon genug, Mann“, drängt Engel.
Für Engel scheint es bereits zu
spät, um noch etwas zu essen, denn der Alkohol hat jede Form eines
Hungergefühls für heute besiegt und so kauft er unserem Schatzmeister Sven
vorsichtshalber noch ein Bier ab. Dass außer Sascha Quermann und ihm sonst
keine Seele etwas für das Herforder bezahlen muss, fällt ihm gar nicht auf.
„Na los, lass uns spielen. Das wird
bestimmt lustig in seinem Zustand“, sagt Murat lächelnd zu Sven und mir.
Bereits einige Male haben wir mit
einem Engel im Suff Fußball gespielt. Weil er sich dabei kontinuierlich aufs
Maul legt, können wir ihn herrlich umspielen, abschießen und demütigen, ohne
dass das dumme alkoholkranke Schwein etwas davon mitbekommt.
„Na los, ihr faulen Säcke“, grölt
Engel. „Lasst uns anfangen. Sonst wird es bald dunkel.“
„Ich spiel gleich mit deiner Rübe
Fußball, wenn du nicht endlich den Kopf zumachst“, ruft Brauni und bis auf
Quermann und Engel lachen alle über diesen Spruch.
Es wird 20:15 Uhr.
Ich leere mein viertes Bier, als
Sophia und Tina auf der Bildfläche erscheinen, was gemeine Nervosität bei Mark
erzeugt, welcher sich sofort zu den beiden Mädels rüber setzt, aber eigentlich
nur zu Sophia möchte. Es geht ihm nur um sie, davon bin ich hundertprozentig
überzeugt. Rassel folgt Mark und setzt sich zu der kleinen Gruppe ins Gras,
wobei es ihm einen Dreck schert, dass er heute eine hellgraue Anzugshose trägt.
Fast alle der Jungs sind nun
bereit, Fußball zu spielen. Lediglich Rassel, Ralph, Passfall und Mark sind
nicht mit von der Partie. Weil sie Fußball in allen seinen Facetten schlicht
und einfach hassen, kann ich bei den drei Erstgenannten den Verzicht verstehen,
während mir bei Mark hingegen, der dieses Spiel liebt, jedes Verständnis dafür
fehlt. Dass er nun im Grase hocken bleibt, kann nur im Zusammenhang mit Sophia
stehen.
Und ich diese Frau mag ich noch
immer nicht! Punkt!
Rasch werden faire Mannschaften
gebildet und das Spiel beginnt.
Ich erziele ein wunderschönes
Fallrückziehertor, aber die meisten Tore macht wieder einmal Toni, dem der
Torinstinkt wohl in die Wiege gelegt wurde und der somit tatsächlich einen
Hauch von Jürgen Klinsmann hat. Ebenfalls wird das Demütigen des Suffkopfes ein
voller Erfolg. Frank Engel wird gnadenlos umdribbelt, fällt bei jedem Versuch,
einen Zweikampf anzunehmen, auf die Fresse und man umspielt ihn dann am Boden
liegend erneut, was einen besonderen Spaßfaktor erzeugt, als er für eine Weile
im Tor steht. Sage und schreibe fünfmal umkurve ich den gefallenen Engel, der
liegend wie wild nach der Kugel schnappt und tritt, bevor ich den Ball langsam
und genussvoll zwischen die zwei Rucksäcke, die das Tor bilden, und über die
imaginäre Linie schiebe. Keiner seiner Teamkollegen, nicht einmal Sascha
Quermann, kommt ihm zur Hilfe. Geschlossen stehen alle Spieler nebeneinander
und verfolgen lachend die Show, die ich mit ihm abziehe. Schließlich wechselt
Engel ins Feld zurück und seine Mitspieler passen ihm oft zu, da es ein
Hochgenuss ist, zu verfolgen, dass er sich bei vielen seiner Versuche, selbst
einen Gegner auszuspielen, kontinuierlich aufs Maul legt. Trotzdem genehmigt er
sich während des Spiels in schöner Regelmäßigkeit großzügige Mengen an Schnaps
und Bier.
Mehr und mehr bricht die Dämmerung
über das Land herein.
Wie es steht, weiß zu diesem
Zeitpunkt längst keiner mehr. Also entschließen wir uns einstimmig, dass das
nächste Tor entscheidet.
Zur perfekten Abrundung dieses
wundervollen Fußballspiels wird, dass ausgerechnet Frank Engel es durch ein
prächtiges Eigentor entscheidet. Der Saufaus spielt den Ball mit einem
kräftigen Vollspannschuss zurück zum eigenen Torhüter und Murat, der gerade
zwischen den Pfostenrucksäcken steht, kann oder will den Ball nicht festhalten.
Wahrscheinlich hat Frank Säufer Engel schlicht und einfach vergessen, auf
welches Tor seine Mannschaft zu spielen hat.
„Du Trop, du“, schreit Andreas ihn
an und Sven, der mit mir gegen ihn kickte, erklärt: „Du Vollpfosten. Warum bist
du eigentlich Wenk? Weil er nichts kann, Mann!“
Franks Reaktion besteht aus einem
lallenden: „Hey, Torwart, Kollega, Idiot.“
„Mach den Kopf zu, du Detlef!“,
erwidert Murat mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
Wir gehen zurück zu den anderen.
Frank Engels Skianzug ist
vollkommen verdreckt von Gras- und Erdflecken, die sich bis in sein Gesicht
hinaufziehen. In seinen fettigen dunkelblonden Haaren haften unzählige
Grashalme und er stinkt penetrant gegen den nicht vorhandenen Wind nach
Schweiß, Bier und Fusel; eine solch intensive Geruchsmischung, dass sie
wahrscheinlich noch von den Einwohnern der Stadt Peking gegen den Smog gerochen
werden kann. Dieser Mann ist ohne einen Hauch des Zweifels das widerwärtigste, abstoßendste,
ekelerregendste Geschöpf, welches auf Erden wandelt; zum Kotzen.
Inzwischen lodert unser Feuer und
zwei neue Gäste sind eingetroffen; Annkathrin und Madeleine. Madeleine ist vor fünf
Jahren kurz nach der Wende mit ihren Eltern von Leipzig her nach Bielefeld
gezogen und trifft voll meinen Geschmack. Sie ist groß, schlank, hat schwarze
Haare, tolle Beine, nette Brüste und einen knackigen Hintern. Leider sieht man
sie viel zu selten auf dem Schulhof oder im Pendel und zu meinem Leidwesen muss
ich offen sagen, dass diese süße Achtzehnjährige sich permanent Scheißtypen an
den Hals wirft. Im Moment geht sie mit einem prolligen Autoschrauber und
Hobbyfußballer aus Schildesche, mit dem zusammen ich sie vor ein paar Monaten
in der Innenstadt von Bielefeld getroffen habe; ein Kerl mit weißblonden
Haaren, etwas kleiner als sie, in Lederjacke und Cowboystiefeln, fast ein
blondes brüderliches Abbild des dämlichen Karsten Passfalls. Bei der kurzen
Begegnung hat der Kerl tatsächlich vor lauter Dummheit kein Wort herausgebracht
und es stand ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben, dass er den Prototypen
einer Hohlhupe in Reinkultur verkörperte. Dabei verfügt Madeleine durchaus über
jede Menge Grips, was es für mich noch schwieriger macht, ihre Männerauswahl zu
begreifen. Sie besucht die zwölfte Klasse eines katholischen Gymnasiums,
arrangiert sich für Amnesty International und steht auf klassische Literatur.
Was findet sie bloß an solchen
Schwachmaten?
Ich nehme mir ein Bier und setze
mich zu Sven und überlege dabei leise, ob ich ich es heute schaffe, mich ein
wenig mit Madeleine zu unterhalten. Im Moment redet sie mit Tina und
Annkathrin, schaut aber gelegentlich, jedenfalls wirkt es so, zu mir herüber.
Brauni hat Türen und Fenster seines
Fords geöffnet und beschallt den ganzen Grillplatz und wahrscheinlich ganz
Brackwede, nein, ganz Ostwestfalen mit plärrender Technomusik, die leider,
leider so gar nicht meinen Geschmack trifft. Ich baue darauf, dass er gleich in
seine Proletendisko abzieht und diese Mucke für Unterprivilegierte mit sich
nimmt.
Engel hat noch zwei Mark
zusammenbekommen und investiert diese umgehend in Bier, wovon er in Abwechslung
mit dem Doppelkorn trinkt und dabei so intensiv, wie das sein trunkener Zustand
noch zulässt, das hübsche Mädel von den Rock a Billys beobachtet, die
inzwischen ebenfalls ordentlich Party machen. Ihr Ghettoblaster fordert durch
ordentliche Lautstärkenleistung Braunis Audioanlage heraus, aber das
Autosoundsystem siegt, weil es ein wahres Monster an Watt ist.
Madeleine haut früh ab.
Schade! Du konntest dich nicht
mit ihr unterhalten, mein Bester. Wahrscheinlich entschwindet sie jetzt zu
ihrem dämlichen Macker nach Schildesche.
Mittlerweile ist es gänzlich
dunkel.
Die Rock a Billys haben ein recht
ansehnliches Feuer entzündet, dessen Funken orangeglühend hoch in die Luft
schwirren, da einer von ihrer Truppe einen alten Weihnachtsbaum, Gott weiß, wo er
den aufgetrieben hat, in die tanzenden Flammen geworfen hat.
Frank Engel sitzt breitbeinig auf
einem leeren Bierkasten und glotzt noch immer trunken gierig nach dem Rock a Billy–Mädel,
die im Flammenschein wirklich zauberhaft aussieht.
„Die Alte macht mich an“, lallt er.
„Die macht mich schweinegeil. Die kleine Hure, die!“
Sabber läuft ihm aus der Fresse.
Man kann deutlich sehen, dass er unter dem Stoff seines verdreckten Skianzugs
einen Ständer hat.
Schwankend steht er auf, wobei die
Doppelkornpulle, die auf seinem Schoß liegt, ins Gras plumpst und torkelt
langsam in Richtung der Rock a Billys.
„Wo willst du hin, Engel?“, fragt
Thomas ihn.
„Ich gehe ein Rohr verlegen.
Ficken, Mann“, lallt er.
„Das würde ich nicht tun“, ruft
Brauni ihm nach. „Das könnte gehörig nach hinten losgehen.“
Engel dreht sich auf der Stelle und
blickt zu uns herüber.
„Häh, was?“
„Nach hinten losgehen. Deine
Anmache könnte wahrscheinlich fehlschlagen“, erklärt Brauni ihm.
„Was heißt hier könnte. Sie wird
unter Garantie ein Eigentor in Form von zwei blauen Augen“, äußerst Sven sich
dazu.
„Und ein paar ausgeschlagene Zähne
kommen noch obendrauf“, wirft Adnan ein.
Engel begreift endlich, was wir ihm
sagen wollen.
„Ihr..ihr...“, stammelt er. „...ihr
glaubt doch nicht im Ernst, dass ich...dass ich...dass ich vor diesen Schießbudenfiguren
dort Angst habe. Außerdem sind wir viele.“
„Du glaubst doch nicht im Ernst,
dass wir dir helfen. Du gehörst nicht zu uns!“, sagt Sven hörbar angesäuert und
deutet mit dem Arm in Richtung Sascha Quermann, der etwas abseits von uns
sitzt, aber das Ganze doch recht aufmerksam verfolgt. „Geh zu deinem Kumpel
Quermann und frag den, ob er mit dir die Alte anbaggern geht. Es wird uns eine
Freude sein, zu sehen, wie die Kerle dort drüben euch den Berg runtertreten.“
Engel guckt schockiert. Er stammelt
etwas Unverständliches und will sich wieder auf den leeren Kasten setzen, zielt
leider daneben und landet mit dem Hintern voran im Gras. Das mit dem Rohr
verlegen haut heute wohl nicht mehr hin, selbst wenn sich eine Willige fände,
was so wahrscheinlich wie eine plötzliche Konvertierung des Papstes zum Islam
erscheint.
Ich schaue nach Ralph und Karsten,
meinen OS–Freunden.
Sie sitzen auf der anderen Seite
des Feuers zusammen mit Helge und Thomas Freundin Sandra. Karsten hat ein paar
Bier gekippt und kommt nun richtig in Fahrt, reißt einen flachen Spruch nach
dem anderen.
„Ein Kamel kommt eher durch ein
Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Das hat nicht etwa der Papst gesagt,
nein, das steht auf seinem...Kerzenständer.“
„Flach, Karsten. So flach“, sagt
Ralph und deutet mit Daumen und Zeigefinger etwas mehr als einen Millimeter an.
Helge lacht, worüber Passfall sich
wiederum freut.
„Da oben fliegt ein Geier. Von
unten sieht man seine...Füße“, fährt Karsten fort.
„Mann, Alter“, ruft Ralph.
Helge schlägt sich vor Lachen auf
die Schenkel.
„Im Stall auf dem Klotze liegt eine
plattgetretene...Fahrradlampe.“
„Flacher geht ’s nicht. Flacher
geht `s nicht“, schimpft Ralph Beermann.
Helge kriegt sich gar nicht mehr
ein und Karsten freut sich immer noch, anstatt zu kapieren, dass er ausgelacht
wird.
Die Nacht nimmt ihren Lauf und das
Bier fließt weiter in Strömen.
Brauni bricht in seine Disko auf,
worauf der Ghettoblaster der Rocky a Billys freie Fahrt hat. Die sind genau wie
wir mittlerweile anständig angesäuselt und singen die alten amerikanischen Hits
weißer Rock and Roller euphorisch mit.
Inzwischen ist unser Feuer
niedergebrannt und besteht nur noch aus orangener Glut, aus der hier und da
kleine Flammen züngeln.
„Ey, wie sieht es aus, wollen wir
nochmal Holz suchen und das Feuer ordentlich schüren?“
Helge, Sandra und Thomas bewachen
die zur Neige gehenden Vorräte, während der Rest sich in den Wald zum
Holzsuchen aufmacht.
Meine Augen gewöhnen sich recht
schnell an die fast vollkommene Finsternis an diesem Ort und als ich nicht mehr
Gefahr laufe, orientierungslos vor dem nächsten Baum zu landen, wird Geäst
gesammelt.
„Oh Mann! Death! Verdammte Tat
nochmal!“, tönt Rassel von der Ferne her, der sich wahrscheinlich langgemacht
hat in der Dunkelheit.
Ich muss grinsen und mache mich
wenig später, die Arme vollgeladen mit Ästen, durch das Unterholz zum
Grillplatz zurück. Kurz vor der Waldgrenze sehen meine nun sehr gut an die
Sichtverhältnisse gewöhnten Augen zwei Menschen zwischen zwei Bäumen. Sie sind
nur angedeutete Schatten in der Finsternis, jedoch kann ich eindeutig erkennen,
dass ihre Silhouetten miteinander verschmelzen. Ich pirsche mich beinahe
geräuschlos näher heran und sehe, dass es Sophia Wehmeyer und Mark Wenzel sind,
die heftig miteinander knutschen.
Nein! Das kann doch wohl nicht
wahr sein! So dumm ist Mark nicht wirklich, dass er sich diese Oberemanzentussi
anlächelt! Es muss am Alkohol liegen! Anders kann es nicht sein!
Für eine Weile stehe ich still
dort, beobachte sie beim Küßen und ein sehr unangenehmes Gefühl breitet sich in
mir aus, welches schwerlich richtig gedeutet werden kann.
Du hast ein schlechtes Gefühl
bei der Sache, was mein Freund! Das kannst du auch. Das ist nicht gut, gar
nicht gut. Du wirst schon sehen. Wart ` ab, Freund Twelker!
Weil es mir hochgradig peinlich
wäre, von ihnen in dieser Situation bemerkt zu werden, schleiche ich im weiten
Bogen um die Szenerie herum und betrete den Grillplatz.
Diese eben beobachtete Szene besaß
irgendwie etwas Komisches, Unreales, Lächerliches. Sie macht mich ziemlich
sauer und ein ungutes Gefühl, was, warum auch immer, nicht richtig definiert
werden kann, habe ich eben auch dabei.
Du willst unter keinen
Umständen, dass Mark mit der herrischen Sophia zusammenkommt. Da könnte er
ebenso gut seinen Herrn Vater heiraten, nicht wahr?
Das schlechtes Gefühl im Bauch mit
mir herumtragend kehre ich ans Feuer zurück, das man mittlerweile auch wieder
Feuer nennen darf.
Von den anderen aus unserer Truppe
scheint keiner etwas bemerkt zu haben. Jedenfalls schwatzt hier niemand über
Mark und Sophia. Rassel lästert mit Sven über einen alten Lehrer ab, eben jenem
Lehrer, der ihm seinen Spitznamen verpasst hat und der nun, so meint es Andre
jedenfalls, sein Outing als Homosexueller getan habe. Ralph redet mit Thomas
und Helge über Auto- und Mobiltelefone, die im Jahre 1995 nur etwas für Freaks
mit dem passenden Kleingeld sind. Karsten Passfall wurde durch den Alkohol
kurzfristig außer Gefecht gesetzt. Das passiert eigentlich immer, wenn man mit
ihm feiern geht. Lang ausgestreckt liegt er auf der Wiese und die Spitzen
seiner Deichmann–Cowboystiefel zeigen schnurstracks zum Nachthimmel hinauf.
Friedlich schlummert er in den tanzenden Schatten, die unser Feuer wirft, vor
sich hin. Bald wird er wieder aufwachen und sich das nächste Bier schnappen.
Quermann kann ich im Moment
nirgendwo entdecken. Vielleicht sucht er noch Holz, vielleicht ist er irgendwo
pissen oder schlicht und einfach nach Hause abgezogen. Im Gegensatz zu Karsten,
der nur ein wenig döst, ist Frank Säufer Engel gänzlich zu Boden gegangen. Er
liegt auf der Wiese und schaut im
Feuerschein schlimmer als der letzte Bahnhofspenner aus. Weil er sich auch nach
dem Fußballspiel dutzende Male auf die Fresse gelegt hat, bedeckt ihn beinahe
gänzlich eine Kruste aus Dreck, Staub und Gras. Selbst gegen den scharfen
Geruch des Feuers kommt sein penetranter Gestank aus Schweiß, billigem Tabak,
Dreck und Alkohol mühelos an. Um ihn herum liegen die nun zwei leeren Pullen
Doppelkorn und fünf oder sechs Flaschen Herforder, ebenfalls inhaltslos. Frank Engel
hat seine letzten Kröten in unser Bier investiert und ist nun sicherlich
restlos pleite.
Annkathrin kommt an meine Seite und
fängt an, mir etwas über die Probleme mit ihrem Chef zu berichten.
Zehn Minuten später, Annkathrin
heult sich immer noch über ihren Vorgesetzten aus, kommt Mark aus dem Wald. Er
trägt das gesammelte Holz vor seinem Brustkorb, lässt es neben das Feuer ins
Gras fallen und setzt sich neben mich.
„` warst aber lange Holz suchen“,
sage ich zu ihm.
Er grinst mich an.
„Ich weiß, ich weiß. Ich glaube,
ich kriege Kopfschmerzen. War wohl wieder ein Bierchen zu viel.“
Ich habe für mich entschieden, ihn
und auch alle anderen nicht auf das Thema Sophia Wehmeyer anzusprechen, denn
damit soll Mark Wenzel schön selbst anfangen.
Fünf Minuten später kommt Sophia
ebenfalls mit Holz beladen aus dem Wald zurück. Fräulein Wehmeyer schaut einmal
verstohlen zur Mark und mir herüber, bevor sie sich abseits von uns zu Thomas
und Sandra setzt.
Vielleicht hast du Glück, Freund
Twelker, und es ist nur eine alkoholgeschwängerte Knutscherei gewesen. Doch,
halt mal, tauschen die beiden Turteltauben nicht heimliche, begehrende Blicke
aus. Schau mal genau hin! Natürlich tun sie das!
Passfall wird wieder munter, ganz
wie es vorauszusehen war, und erhebt sich mechanisch, wobei er einer Mumie in
einem zweitklassigen Horrorfilm gleicht, die langsam ihrem Sarkophag entsteigt.
Nachdem er sich einige Male geschüttelt hat, setzt er sich neben mich und sagt:
„Ich glaube, ich habe ein Problem, ein wichtiges Referat bis Montag fertig zu
bekommen.“
„Wo ist denn das Problem?“, frage
ich herzlos wie ein Roboter. Karstens Schulprobleme interessieren mich im
Moment keine Bohne.
Wie wird die Sache mit Sophia
und Mark sich entwickeln? Wie wird die Sache mit Sophia und Mark sich
entwickeln? Wie wird die Sache mit Sophia und Mark sich entwickeln?
„Ich verstehe die Literatur einfach
nicht. Kein Wort. Der ganze Kram könnte auch auf Chinesisch geschrieben sein“,
sagt er hilflos.
Deshalb bist du bald draußen, Karsten!
Weil du von der ersten Minute Oberstufen-Kolleg an nichts verstanden hast. Und
jetzt lass mich in Ruhe! Ich habe gerade ganz andere Sorgen als dein nahendes
Ende am OS.
„Hast du schon was vorbereitet für
Montag?“, frage ich, schaue kurz zu Karsten, dann zu Sophia und endlich zu Mark
und erkenne, dass die beiden schon wieder Blickkontakt haben.
„Scheiß Gesaufe“, ruft Mark es laut
genug aus, so dass die ganze Runde es hören kann. „Ich habe solche
Kopfschmerzen.“
Sophia schaut kurz, aber nervös zu
ihm rüber.
Da ist eine Verschwörung im
Busch. Die zwei planen etwas, Irrtum ausgeschlossen.
„Ich will ehrlich zu dir sein“,
fährt Passfall fort. „Ich habe noch keine Zeile für das Referat zu Papier
gebracht.“
Das sieht schlecht aus, Kasi!
Ein weiterer Schritt in Richtung Abgrund. Und nun gehe Frank Engel vollheulen
oder wegen mir auch Bundeskanzler Helmut Kohl. Nur lass mich in Ruhe, damit ich
über Dinge nachdenken kann, die wirklich wichtig sind.
„Dann bleibt dir ja nur noch
morgen, oder vielmehr heute.“
„Herrje. Ich glaub, ich brauch ein
Bier“, sagt Karsten resignierend.
Er geht zu dem Kasten Herforder, dem letzten, der überhaupt noch
volle Flaschen enthält, und nimmt eine heraus.
Mark steht auf.
„Ich haue ab, Freunde. Habe echt
Scheiß–Kopfschmerzen. War ein toller Abend bis auf die letzte halbe Stunde“,
erklärt er in die Runde.
„Jo, mach `s gut“
„Gute Besserung.“
„Wir telefonieren,“
„Bis denne“
Thomas und Sandra gehen mit ihm.
„Ich glaube, es wäre besser
gewesen, eine Ausbildung zu machen, anstatt aufs OS zu gehen“, murmelt Passfall
vor sich hin.
Die Rock a Billys machen
Feierabend. Sie schalten den dröhnenden Ghettoblaster aus und packen ihre
Siebensachen zusammen. Ihr hübsches Mädel ist dermaßen breit, dass sie von
einem Kerl in Rebellen T–Shirt gestützt werden muss.
Über dem Grillplatz geht langsam
die Sonne auf, zunächst noch als ein goldener Streifen mit violetten Tönen
untermalt am Horizont über dem Münsterländer Kreidebecken. Auch der heutige Tag
verspricht, so wie es ausschaut, brüllendheiß zu werden.
Fünf Minuten nach Mark macht Sophia
den Abgang.
Wahrscheinlich werden sie sich
jetzt noch miteinander irgendwo treffen. Dir können die kein Theater
vorspielen, Punktum!
Ralph Beermann zieht es heimwärts.
Er wohnt am Wellensiek nahe der
Universität und sein silberner Golf II steht unten an der Straße. Aller
Promille zum Trotze wird er, was häufiger vorkommt, nach Hause fahren, weil
Autofahren und das großzügige Konsumieren der Volksdroge Alkohol in seiner Welt
zwei Dinge darstellen, welche problemlos miteinander kompatibel sind.
Rassel leert sein Bier.
„Die letzte Kippe. Dann bin auch
ich raus“, sagt er und zündet sich eine Marlboro an.
Wenn er von der Sache zwischen
Sophia und Mark wüsste, dann er hätte mich sicherlich drauf angesprochen. Nun
gut, er wird es schon noch erfahren, sollte sich, was ich noch immer nicht
hoffe, zwischen den beiden mehr entwickeln.
Da hier jetzt rein gar nichts mehr
geht, beschließe nun auch ich, den Abgang zu machen.
Zusammen mit Andre und Passfall,
der über eine Lösung für die Sache mit seinem Referat in nicht mal dreißig
Stunden nachgrübelt, steige ich den
Grillplatz hinunter. Zuvor haben wir einstimmig entschieden, sämtliches Leergut
und den Grill oben zurückzulassen. Was davon noch übrig bleibt, will Thomas
morgen, oder, genauer gesagt, heute in ein paar Stunden mit dem Auto holen.
Unten verabschieden wir uns von
Rassel, der leicht schwankend mit der brennenden Marlboro in Richtung
Hochhäuser trottet. Nun schleicht im frühen Licht des jungen Tages lediglich
noch Passfall neben mir her; die letzten Überlebenden einer langen, harten Nacht.
Will er vielleicht mit zu dir
kommen und dich bis in den Vormittag rein mit seinen Problemen volltexten?
Aber schließlich sagt er zu meiner
Erleichterung: „Ich bin raus. ` gehe jetzt darunter und schaue, ob schon eine
Bahn fährt. Mal schauen, vielleicht kriege ich heute Abend noch was hin, damit
ich zumindest etwas erzählen kann.“
Er gibt mir wie Sascha Quermann die
Hand und zieht in eine andere Richtung davon.
Karsten wohnt am entgegengesetzten
Ende von Brackwede und hat, wenn der Fahrplan der Bielefelder Stadtwerke es
denn schlecht mit ihm meint, einen anständigen Marsch vor der Nase.
Nun stehe ich alleine in der Sonne
dieses frühen Sonntagmorgens, in meiner Hand ein warmes Bier haltend, und den
besoffenen Kopf voller dummer Fragen. Ich nehme geistesabwesend einen Schluck
und stelle mit verzerrtem Gesicht fest, dass es nur noch widerwärtig schmeckt
und mir von dem lauwarmen, schalen Geschmack fast die Galle hochkommt. Ich
spucke den Schluck in hohem Bogen auf die Straße und schleudere die halbvolle
Bierflasche achtlos in den nächsten Vorgarten, wo sie in einem Beet zwischen
roten Rosen zum Liegen kommt.
Jetzt erst fällt mir auf, wie sehr
meine Klamotten nach Feuer, Party und Schweiß riechen.
Mein Heimweg führt zwangsläufig am
Haus von Oberstudienrat Rabe vorbei, das hinter einem pedantisch gepflegten
Vorgarten in der frühmorgendlichen Sonne liegt. Vor Marks Zimmerfenstern, die
in der ersten Etage zur Straße hin liegen, wurde das Rollo heruntergelassen.
Ob dort hinter Sophia Wehmeyer
und er wohl ein morgendliches tete a tete feiern? Was Oberstudienrat Wenzel
wohl zu einer Frau wie Sophia sagen würde? Er wäre sicherlich restlos
begeistert, eine konservative, bürgerliche, gebildete, hübsche Frau an der
Seite seines einzigen Kindes und Sohnes zu sehen. Vielleicht aber liegt Mark
dort oben tatsächlich mit Kopfschmerzen im Bett. Doch wer kann nach der
Kussszene und der Seifenoper danach noch daran glauben?
Ich seufze, ziehe die Schultern
hoch und greife nach meinen Zigaretten und stelle fest, dass sich nur noch eine
Kippe in der Schachtel befindet.
Rauchend, nachdem die leere
Schachtel gedankenverloren auf den Bürgersteig wurde fallengelassen, ziehe ich
durch die Straßen in Richtung Heimat.
Kapitel 14
(Bonn im Sommer 2008) „Kannst `
nicht schlafen?“, fragt Franziska, nachdem sie auf leisen Sohlen ins Wohnzimmer
kam.
Von den Erinnerungen zurück in die
Realität mit Lichtgeschwindigkeit.
Sie legt mir die Hände auf die
Schultern und fängt an, mich sanft zu massieren. Ich schließe die Augen und
genieße ihre Berührungen, die meinem Muskelgewebe und komischerweise auch der
geschundenen Seele wirklich wohltun.
„Meine Güte! Du bist ja verspannt.
Lass mal locker!“, sagt sie sanft.
Ich versuche, mich zu entspannen,
was mir nicht ganz gelingt, da zu viel gerade in meinem Kopf herumkreist.
Meine Güte! Jetzt hast du es
geschafft, mein Freund. Du hast Dilek betrogen! Und diese süße Blondine wird
auch nicht verhindern, dass die Bullen dich ins Loch werfen.
Heftig zucke ich zusammen, worauf
Franziska den Massagegriff lockert.
„Hey, was ist denn?“, fragt sie zart
und setzt sich neben mich.
Nachdem Franziska die kleine
Schirmlampe auf dem Sofatisch angeknipst hat, mustert sie mich besorgt mit
ihren wachsamen blauen Augen. Ich mühe mich, ihrem Blick standzuhalten, kann
sie aber nicht richtig ansehen.
„Nichts. Gar nichts“, antworte ich
wenig überzeugend. „Ich habe nur an eine blöde Sache gedacht, die aber schon
lange zurückliegt.“
Franziska scheint mir nicht recht
zu glauben.
„Du hast eine Freundin. Ist es
das?“, sagt sie bemerkenswert ruhig. Dennoch flackert etwas in ihren schönen
Augen.
Eine kurze Zeit herrscht Schweigen,
während draußen ein Roller vorbeibrettert, dessen Motor sich ähnlich einer
Zwiebacksäge in den Tiefen der Nacht anhört. Nur langsam verliert sich der
nervige Klang und kaum ist er vergangen, hören wir in weiter Ferne ein
Martinshorn heulen.
„Ich habe keine Freundin mehr.
Letzten Monat ist die Beziehung zerbrochen“, lüge ich.
„Wer hat Schluss gemacht?“
„Sie“, antworte ich und bedauere es
sofort. Klüger wäre es gewesen, etwas von gegenseitigem Einvernehmen zu faseln.
„Du hängst noch sehr an ihr,
stimmts?“
„Ich bin einfach nur verwirrt, wie
schnell das geht. Noch gestern früh habe ich gedacht, dass ich von Frauen
erstmal für längere Zeit die Schnauze voll habe. Denn am Ende der Beziehung
ging viel Scheiße ab. Sie hatte mich bereits längere Zeit betrogen, was ich
kürzlich erst herausfand. Und nun muss ich feststellen, dass ich dich wirklich
sehr, sehr mag.“
Zumindest der letzte Satz kommt
keiner Lüge gleich.
Sie blickt mich intensiv an und
wird mir sicherlich gleich erklären, dass ihr das alles zu viel auf einmal und
zu kompliziert sei und dass es nun besser wäre, die Sache nach nur einer Nacht
zu beenden. Für einen kurzen Moment hoffe ich sogar, dass dergleichen aus ihrem
Mund kommt und sie mich vor die Tür auf die dunkle Straße setzt.
Das würde unterm Strich wohl vieles
einfacher machen für dich, mein Freund! Denn deine jetzige Situation gestaltet
sich auch ohne heimliche Liebhaberin bereits kompliziert genug. Außerdem wirst
du nicht viel davon haben, wenn dich die Polente erstmal in den Knast
geschleppt hat!
„Es war also kein Abenteuer?“,
fragt sie mich.
„Nein, nein. Auf gar keinen Fall“,
versichere ich wie aus der Pistole geschossen.
„Du willst mich also wiedersehen?“
„Natürlich, Franziska. Ich würde am
liebsten gar nicht mehr weggehen“, wird die Wahrheit von mir gesprochen.
Freudig lächelnd zieht sie mich zu
sich hin.
Ich schließe die Augen, verstecke
mich zwischen ihren langen, blonden Haaren, verstecke mich vor der kalten,
brutalen und entsetzlich realen Welt dort draußen. Franziska streichelt meinen
Rücken und küsst mich zärtlich auf den Hinterkopf. Es gibt keine Angst und
keine Sorgen. Der entsetzliche Inhalt eines Postpäckchens, eine schwarzhaarige
Frau namens Dilek, der anstehende Besuch in Bielefeld, das alles liegt weit,
ganz weit entfernt auf einem anderen Planeten, in einem anderen Sonnensystem,
in einem anderen Universum und Abermilliarden an Lichtjahren von diesem Sofa
entfernt, auf dem wir sitzen und einander eng umschlungen festhalten.
Plötzlich überkommt mich wieder
eine bleierne Müdigkeit.
„Können wir wieder ins Bett gehen?
Ich bin so müde, so hundemüde“, sage ich flehentlich.
„Na klar“, sagt sie, steht auf und
zieht mich vom Sofa hoch.
Im Schlafzimmer kuscheln wir uns
auf dem Bett unter der dünnen Decke zusammen.
Die sommerliche Wärme, die in der
kleinen Dachgeschosswohnung steht, die Wärme ihres Körpers, die sanften
Streichelbewegungen ihrer Hände auf meinem Rücken, die entfernten Geräusche
draußen auf der Straße; meine Sinne schwinden davon und ich schlafe fest,
entspannt und traumlos.
Kapitel 15
(Bonn im Sommer 2008) Vor dem Haus,
in dem Franziskas Wohnung liegt, gibt sie mir einen kurzen Kuss auf den Mund
und sagt: „Ciao, Jonas. Bis später.“
Dann tritt sie in die Pedalen ihres
roten Mountainbikes und radelt die Straße hinunter ihrer Arbeitsstätte
entgegen, wo sie um zwölf Uhr mittags in die Spätschicht geht. Ich blicke ihr
nach, bis sie um eine Ecke verschwunden ist, und bleibe alleine auf dem
Bürgersteig in der Vormittagssonne zurück.
Arbeit, denke ich, wobei mir wieder
einfällt, dass es auch für mich sinnvoll wäre, ins Institut zu gehen, um noch
etwas auf die Kette zu bekommen. Morgen und übermorgen werde ich in Bielefeld,
der alten Heimat, weilen, so dass diese Tage für die Semestervorbereitung
flachfallen.
Auf einmal wird mir speiübel und
alles, was gerade noch ein kaum sichtbarer Fixstern war, kommt wieder
erschreckend nahe an mich heran.
Gestern Abend, wahrscheinlich in
weiser Voraussicht dessen, was noch geschehen sollte, schlich ich im Pawlow auf
die Toilette und schaltete klangheimlich mein Mobiltelefon ab, damit auch kein
Anruf die gemütliche Zweisamkeit zwischen Franziska und mir stören konnte.
Der Griff in die Vordertasche
meiner Jeans und das Samsung herausgezogen.
Ich aktiviere es und warte. Nach
langsam verstreichenden Sekunden ertönen in kurzen Abständen drei
aufeinanderfolgende Pieptöne, die mich jedes Mal zusammenzucken lassen. Im
Postfach befinden sich drei SMS, von denen zwei Anrufe in Abwesenheit bezeugen,
die dritte hingegen eine Textnachricht meiner festen Freundin Dilek beinhaltet.
Hallo Schatz!
Ich mache mir große Sorgen. Ich habe versucht,
Dich anzurufen. Auf dem Handy, bei uns daheim, bei Dir im Büro. Ich habe totale
Angst, dass Dir etwas passiert sein könnte. Ruf mich bitte schnell zurück.
Ich liebe Dich!
Ich setze mich aufs Fahrrad und
strampele mit klopfendem Herzen und entsetzlich schmerzendem Magen in Richtung
Südstadt zurück, dabei wieder einmal den Tunnelblick innehabend, der nichts
außer den zwanzig Metern Straße vor mir freigibt.
In meiner Wohnung greife ich nach
dem Festnetztelefon und wähle Dileks Handy an.
Nachdem das erste Freizeichen
verklungen ist, ertönt ihre aufgeregte Stimme im Hörer.
„Jonas! Endlich! Ich habe so auf
deinen Anruf gewartet. Hättest du bis 13:00 Uhr nicht angerufen, hätte ich die
Polizei eingeschaltet. Wo bist Du gewesen?“
„Es tut mir so leid, Dilek. Aber
ich war nach der Arbeit noch bei Markus Herbig und der Akku ist leergegangen
und Markus hatte kein passendes Ladekabel daheim. Es wurde dann spät und ich
habe bei Markus übernachtet“, lüge ich das Blaue vom wolkenlosen Himmel.
„Du hättest mich doch trotzdem
anrufen können. Du wusstest doch, dass wir telefonieren wollten. Ich habe mir
echt totale Sorgen um dich gemacht.“
Dilek hört sich nun extrem zickig
an.
Eigentlich mag ich es, wenn Dilek
zickig wird, da sie dann zumeist einen leicht niedlichen Gesichtsausdruck vor
sich her trägt. Gelegentlich machen wir uns aus ihrer Zickerei eine Art
Spielchen, welches erotisch prickelnde Züge annehmen kann.
Heute hingegen besitzt ihr
Rumgezicke eine gänzlich andere Natur, die, das steht sicher fest, keinerlei
erotische Züge annehmen wird.
Noch vor achtundvierzig Stunden loderte
in mir die Angst, vor Knast, Klapsmühle und einer Flucht Dileks in die Arme
eines anderen Mannes. Nun existiert lediglich noch die Furcht vor der
forensischen Psychiatrie oder dem Gefängnis und ich lüge weiter hemmungslos:
„Es tut mir wirklich sehr leid, aber du weißt doch, wie schlecht ich mir Zahlen
merken kann. Ich habe es nach drei Jahren erst auf die Reihe bekommen, unsere
Festnetznummer auswendig zu wissen. Deine Handynummer habe ich beim besten
Willen nicht im Kopf. Außerdem haben Markus und ich Poker gespielt und ein
bisschen zu viel getrunken. Wir haben Musik gehört und ich habe einfach nicht
dran gedacht, dass du dir solche Sorgen machen könntest.“
„Getrunken!“, spuckt Dilek das Wort
förmlich aus. „Was denn?“
„Nur Bier“, versichere ich. „Leider
etwas zu viel davon.“
„Warum trinkst du, wenn ich weg
bin? Du weißt doch, was ich davon halte. Du musst echt aufpassen mit dem Scheiß.“
„Dilek, es war doch nur einmal.
Außerdem fühle ich mich heute so schlecht, dass ich für die nächste Zeit
erstmal bedient bin.“
„>>Es war doch nur
einmal!<<“, zitiert Dilek mich schnippisch. „Das sagen sie alle. Das ist
ein typisches Zeichen für Sucht oder zumindest für Suchtgefahr.“
Ach herrjeh! Jetzt fängt sie zu
diskutieren an! Na wie wir das lieben, mein Bester!
Obwohl ich Franziska erst einige
Stunden kenne, kann man sicher sagen, dass sie wesentlich weniger kompliziert
als die hochintelligente Dilek ist. Ich werde wütend, genervt und sehe mich
vollkommen im Recht, aber es gelingt mir gut, bei meiner Antwort weder wütend noch
genervt zu klingen.
„Dilek, du kennst mich doch. Wenn wir beide
zusammen sind, trinke ich keinen Tropfen. Nie! Oder bin ich schon mal mit einer
Fahne aus dem Institut nach Hause gekommen? Oder hast du mich trinkend daheim
angetroffen, wenn du von der Arbeit kamst? Oder hast du in unserer Wohnung
versteckte Schnapsflaschen gefunden?“
Du wirst noch zu einem
Schauspieler, der Robert de Niro alle Ehre macht. Weiter so! Hau rein!
„Nein. Natürlich nicht. Ich mache
mir Sorgen, dass du trinkst, wenn ich weg bin. Es kommt mir so vor, als würdest
du nur auf solche Gelegenheiten warten.“
„Nun ich denke, dass fast alle
Männer mal mit ihrem besten Freund einen über den Durst trinken, wenn die
Ehefrau oder Freundin nicht mit dabei ist. Ich finde, da gibt es für dich
wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen“, erkläre ich und spüre erleichtert,
dass ich wieder Oberwasser bekomme.
„Vielleicht hast du Recht. Aber du
musst trotzdem aufpassen. Und es wäre mir lieber, wenn du es lassen würdest.
Aber das weißt du ja.“
Dileks Stimme klingt nun wesentlich
sanfter. Ich habe ihre Absolution erhalten, was einen guten Zeitpunkt für einen
Themenwechsel darstellt.
„Ich werde es in nächster Zeit
bleiben lassen. Danke für deine Sorgen. Sehr lieb von dir, mein Schatz. Sag,
was hast du gestern gemacht?“
Dilek fängt an, mir den gestrigen
Tag detailliert zu berichten.
Ich höre kaum zu, bin im Kopf schon
ganz woanders, da ich mir als nächstes eine Geschichte einfallen lassen muss,
die meine morgige Abwesenheit aus Bonn erklärt. Bielefeld kann da nicht ins
Spiel gebracht werden. Denn wie soll ich Dilek, die meine Eltern über alles
schätzt und mag, erklären, dass ich in meiner Heimat weile und meine Eltern
nicht besuche, wohl aber einen alten Schulhoffreund? Außerdem würde sie dann
sicherlich wieder mit ihren Filmen über mögliche Saufgelage anfangen.
Nachdem Dilek ihren Bericht
geschlossen hat, bekommt sie Folgendes zu hören: „Das freut mich sehr, dass du
deine Zeit dort unten in Bayern so richtig genießt. Dann hat sich die Reise ja
schon jetzt voll und ganz gelohnt. Wenn du mich morgen ab Nachmittag und
übermorgen erreichen willst, musst du das auf dem Handy tun. Ich reise nämlich
kurzfristig nach Münster. An der Uni dort findet, wie ich gestern erfahren
habe, ein Workshop für Graduierte statt, wo einige interessante Wissenschaftler
zu Gast sind. Es geht dort vor allem um Botanik und fächerübergreifend um
Paläobotanik. Eigentlich ist das nicht mein Spezialgebiet, aber ich erwarte mir
einige Denkanstöße und vielleicht kann ich gar was für meine Erstsemester im
Oktober herausholen aus dem Workshop.“
Ach, übrigens; dieser Workshop
existiert, was der Gewillte oder der Kontrollierende jederzeit im weltweiten
Netz nachlesen kann.
„Sehr schön. Es wird dir bestimmt
Spaß machen, mein Schatz, mit deinen Kollegen zu philosophieren und zu
streiten. Das freut mich für dich. Wo wirst du übernachten?“, fragt Dilek und
aus ihrer Stimme höre ich klar heraus, dass sie mir die Story komplett abkauft
und sich obendrein tatsächlich auch noch für mich freut.
„Ich kann im Gästehaus der
Universität Münster übernachten.“
Wir reden noch ein wenig und
verabschieden uns, in dem wir einander versichern, wie sehr einer den anderen
liebe.
Ich stelle das Haustelefon zurück
auf die Ladestation und bin darüber erstaunt, wie leicht mir die Lügen von der
Hand gehen, seitdem ich die Postwurfsendung in den Händen hielt.
Daran ist nur der Inhalt dieses
verfickten Umschlags schuld, verdammte Inzucht, Mann! Du solltest diesen
Scheißdreck nicht mehr in deiner Wohnung haben!
Ich greife mir ein Feuerzeug, nehme
das Anschreiben sowie die Audio–CD aus der Schublade und gehe ins Badezimmer.
Im Wachbecken wird das Papier
verbrannt, mit dem dieses ganze Dilemma angefangen hat. Dunkler, ätzender Rauch
kräuselt sich zum Ablüfter hinauf, der Drohbrief verwandelt sich in knisternde
schwarze Asche. Der CD rücke ich mit einer von Dileks Nagelfeilen zu Leibe,
zerkratze sie zehn Minuten lang, um den Rohling endlich in der Küche mit der
Geflügelschere in dutzende kleine Stücke zu zerschneiden.
Nach getaner Arbeit fühle ich mich
keinen Deut besser.
Ich verspüre das Verlangen nach
einer Zigarette, aber die goldene Schachtel im Wohnzimmer auf dem Sofatisch gibt
nichts mehr her. Pech gehabt!
Ich beschließe, eine Dusche zu
nehmen und anschließend zur Arbeit zu gehen.
Kapitel 16
(Bonn im Sommer 2008) Zwar habe ich
nicht viel geschafft, aber immerhin mehr als gestern.
Pünktlich zu ihrem Feierabend um
kurz nach acht Uhr ruft Franziska mich auf dem Handy an.
"Hey Jonas! Kommst du in die
Stadt? Wir könnten was essen und ein bisschen durch die Bars ziehen",
jubelt sie einen verführerischen Vorschlag.
Nur zu gerne würde ich dieser
Aufforderung umgehend Folge leisten, wenn es da nicht ein kleines Problemchen
gäbe. Dilek will mich um 21:00 Uhr auf dem Haustelefon anrufen; ein Termin, welchen
ich unter keinen Umständen verpassen darf.
„Das würde ich nur zu gerne. Aber
leider gibt es hier im Institut noch reichlich Arbeit. Was hältst du davon,
wenn wir uns um 22:00 Uhr bei dem Chinesen gegenüber dem Stadthaus treffen und
ein verspätetes Abendessen zu uns nehmen? Bis dahin dürfte ich das Zeug hier
vom Schreibtisch haben.“
„Eine prima Idee. Dann kann ich
noch in aller Ruhe in die Badewanne steigen und mich fertigmachen.“
Aus ihrer Stimme klingt
hundertprozentige Lebensfreude und positive Energie, die selbst über das
Telefon ansteckend wirkt.
„Mach das, mein Schatz! Du kennst
den Chinesen doch?“
„Natürlich. Wer in dieser Stadt
kennt diesen Laden nicht. Was meinst du, sollen wir nach dem Essen zu dir
gehen?“, fragt Franziska
Herrjeh. Jetzt sitzt du aber
schön in der Tinte. Franziska daheim bei dir, wo Dilek hinter jeder Ecke lauert.
Alleine die ganzen Fotos, die dort hängen und im Wäschekorb im Badezimmer
liegen noch reichlich weibliche Kleidungsstücke, weil du fauler Esel es nicht
hinbekommen hast, die Waschmaschine anzuschmeißen.
Soll ich jetzt weiter rumlügen und
Geschichten erzählen a la, dass die Wohnung nicht aufgeräumt sei oder dass mich
dort noch zu vieles an meine Ex erinnere? Wie würde Franziska da wohl
reagieren? Könnten ihre Gedanken in etwa wie folgt lauten: Noch nicht ganz über
eine Beziehung weg und trotzdem was Neues am Laufen, wahrscheinlich, um sich zu
trösten. Und wenn die Ex wieder ruft, kriecht er gleich zurück. Denn die Tür
ist noch lange nicht zugefallen.
Damit mir Franziska weiter bei der
Stange bleibt, antworte ich: „Das ist eine super Idee. So machen wir ` s.“
Nachdem das Gespräch beendet wurde,
verlasse ich mein Büro und bin froh, keinen meiner Studenten oder Kollegen
begegnet zu sein.
Zurück in der Wohnung, geht es
zunächst einmal daran, die Spuren Dileks zu verwischen.
All die Fotos, Kleidungsstücke,
Pflege- und Kosmetikprodukte, die eine Frau eben so mitnimmt, wenn sie
auszieht, wandern in zwei große Reisekoffer, welche ich im Anschluss unter dem
Bügelbrett und einem leeren Wäschekorb in der Besenkammer verstecke. Die Kammer
wird verschlossen und der Schlüssel unter einem Stoß Papieren in der Schublade
meines Schreibtisches versteckt.
Kapitel 17
(Bonn im Jahre 2008) Franziska
steht vor dem Eingang zum China Restaurant und
trägt ein wirklich süßes Sommerkleid, welches knallbunt fröhlich durch
die warme Nacht leuchtet. Sie strahlt bis über beide Ohren, als sie mich kommen
sieht. Ich schließe das Fahrrad an einer Laterne fest und gebe Franziska zur
Begrüßung einen Kuss auf den Mund, bevor sie mich bei der Hand nimmt und
elanvoll mit sich in das Lokal hineinzieht, wo wir schnell und einstimmig
beschließen, uns das mongolische BBQ zu genehmigen.
Während der Koch unser Fleisch und
Gemüse auf heißer Platte brät, bringt eine der asiatischen Kellnerinnen zwei
große Biere vom Fass. Franziskas blaue Augen funkeln geheimnisvoll faszinierend
im Schein der Tischkerze. In deren sanften Licht schimmern ihre blonden Haare
engelhaft.
So ein Spielzeug wünscht sich
jeder Mann, Freund Twelker!
„Was machen deine Eltern
beruflich?“, fragt sie mich und reißt mich aus meinen Engelsträumereien.
„Mein Vater ist Zahnarzt und Kieferchirurg.
Meine Mutter arbeitet als Biologin an der Bielefelder Universität. Mein Vater
wird die Praxis allerdings in zwei Jahren abgeben. Meine Mutter ist fast zehn
Jahre jünger und muss also auch dementsprechend noch etwas länger arbeiten.“
„Du schlägst also deiner Mutter
nach. Sonst hättest du wahrscheinlich Zahnmedizin studiert“, spricht Franziska
lächelnd.
„So wird es wahrscheinlich sein.
Zahnmedizin oder auch Medizin im Großen und Ganzen hat mich niemals wirklich
interessiert. Biologie dafür um so mehr. Warum dem so ist, weiß ich, ehrlich
gesagt, auch nicht so genau.“
„Es gibt da eine schöne
Bauernweisheit, die besagt, dass Töchter eher nach dem Vater kommen und Söhne
eher nach der Mutter. Dein Fall scheint diese These zu untermauern. Du
erwähntest mal eine Schwester. Was macht die denn so?“, fragt Franziska munter
weiter.
Ihre Neugier wirkt ungemein sexy.
Wegen mir kann sie mich zu jedem Thema dieser Welt befragen, wenn sie dabei
weiterhin solch eine frische sexy Aura ausstrahlt.
Halt! Nicht jedes Thema! Bitte
nichts über Dilek oder die Geschehnisse am letzten Juniwochenende im Sommer
1996 fragen! Das wäre ungemütlich, Freund Twelker! Außerdem werden die Bullen
dir noch genug Fragen stellen!
Nach einem kurzen, aber heftigen Anfall
von innerlichem Schüttelfrost greife ich ihre Frage auf.
„Sie hat in Bielefeld Klinische
Linguistik studiert. Das war aber nichts für sie. Sie hat das Studium relativ
schnell abgebrochen und eine Ausbildung zur PTA gemacht. In der Apotheke, in
der sie anschließend untergekommen ist, lernte sie einen Kunden und Schnösel
kennen, der in Ostwestfalen mehrere Sonnenstudios betreibt. Mittlerweile sind
die beiden verheiratet und haben einen zweijährigen Sohn. Meine Schwester
arbeitet nicht mehr in der Apotheke. Vielleicht später wieder. Im Moment möchte
sie ganz Mutter sein.“
„Mutter ist doch eine lobenswerte
Tätigkeit. Auch in der heutigen Zeit noch, finde ich. Du nanntest deinen
Schwager eben Schnösel. Kann es sein, dass du ihn nicht so besonders leiden
kannst?“, lautet die nächste Frage Franziskas.
„Eigentlich ist er kein übler Kerl.
Er hat reichlich Geld, versorgt meine Schwester und meinen Neffen gut, liebt
alle beide und geht seiner Frau nicht fremd. Aber für mich ist er einfach ein braungebrannter
Schnösel mit Geld und einem neuen Mercedes, der außer dem Sportteil in der
Tageszeitung eigentlich nichts weiter liest. Alles an ihm ist irgendwie, nun
ja, irgendwie oberflächlich.“
„Was meinst du mit oberflächlich
genau?“
„Oberflächlich eben. Du kannst mit
ihm über Fußball, Partys und übers Geldverdienen oder Geld an sich reden. Aber
das ist es dann auch schon gewesen. Über Politik, Bücher oder solche Dinge
kannst du mit ihm nicht reden. Keine Chance. Eine Fit for Fun ist wohl das
Komplizierteste, was er jemals gelesen hat. Ich will nicht arrogant sein oder
so, doch komme ich zum ersten Mal zu einer Person nach Hause, gucke ich mir
zunächst die Bücher im Regal an. Bei meinem Schwager gibt es gar nichts,
nichts! Nicht mal eine Bibel oder ein Kochbuch. In der ganzen Wohnung kein
Buch! Mit solchen Menschen kann ich irgendwie nicht viel anfangen. ` ist leider
so.“
Eine Kellnerin bringt unser Essen
und verschwindet wieder.
„So, so. Du schaust also erstmal
nach den Büchern. Das habe ich gestern schon bemerkt“, sagt Franziska und nimmt
einen Bissen von ihrem Rindfleisch mit Gemüse in scharfer Sauce. „Liest deine
Schwester denn viel?“
„Eigentlich schon. Romane und
Biografien vor allem. Deshalb frage ich mich manchmal, was sie eigentlich von
diesem Typen will, der so...“
„So oberflächlich ist“, beendet
Franziska den Satz für mich. „Wo die Liebe hinfällt, sagt man doch.“
Ich nicke zustimmend und probiere
meine scharfe Ente. Das Essen schmeckt ausgezeichnet.
„So wird es wohl sein. Vielleicht
schafft sie es ja, ihn eines Tages zum Lesen zu bewegen. Aber jetzt hast du
mich genug ins Verhör genommen. Jetzt stelle ich die Fragen. Was machen deine
Eltern und deine Schwester?“
Von unseren gestrigen Gesprächen
ist mir bekannt, dass sie eine kleine Schwester hat, die noch daheim lebt.
„Mein Vater betreibt als Selbstständiger
eine Allianzniederlassung in Wesseling. Meine Mutter arbeitet im öffentlichen
Dienst. Sie stellt Strafzettel für den Kreis Bergheim aus. Kurz, sie ist
Politesse. So nannte man das jedenfalls früher. Meine Schwester geht noch zur
Schule. Sie ist ja erst fünfzehn.“
„Dann hat deine Mutter bestimmt
einen stressigen Job. Die lieben Deutschen und ihre Autos. Das muss, schätze
ich, manchmal ziemlich, ziemlich hart sein.“
Franziska streicht sich eine blonde
Strähne aus dem Gesicht.
„Das kannst du laut sagen“,
antwortet sie umgehend. „Meine Mutter kann schräge Geschichten erzählen. Einmal
ist ihr ein Typ, ein Fußballprofi vom 1. FC Köln, über eine Stunde
hinterhergelaufen und hat ihr immer weiter erklärt, dass er sie bis in die Steinzeit
verklagen wolle und dass sie die Knolle den Job kosten würde. Das stand sogar
im Express. Nun gut, am Ende musste die Polizei meine Mutter von der Litanei
dieses Musterprofis erlösen. Der Kerl wäre von alleine niemals gegangen. Der
hätte meine Mutter wahrscheinlich bis nach Hause verfolgt. Der Typ hat
tatsächlich geklagt. Er hat den Kreis Bergheim, meine Mutter und, was weiß ich,
wen noch verklagt. Unglaublich. Und das Ganze bei einem Typen, der
wahrscheinlich Einkommensmillionär ist, jedenfalls fuhr er einen Maserati mit
Camouflagelackierung. Kannst du dir vorstellen, was so ein Wagen kostet, und
das alles wegen eines Knöllchens von 15 Euro.“
„Was für ein Vollpfosten. Herrje.
Was es für dämliche Menschen auf dieser Erde gibt", empöre ich mich
aufrichtig. „Und nun will ich aber wissen, wer hat denn vor Gericht Recht
bekommen?“
„Der Kreis natürlich. Es macht
keinen Sinn, gegen einen berechtigten Strafzettel zu klagen.“
Wir stehen auf, um uns erneut am
mongolischen BBQ zu laben. Mein Kopf ist halbwegs frei von allen meinen Sorgen,
während in der Ferne die Glocken des Münsters die letzte Stunde dieses Tages
einläuten.
Kapitel 18
(Bonn im Sommer 2008) Dileks Sachen
befinden sich längst wieder an ihren angestammten Plätzen.
Seit Franziska meine Wohnung
verlassen hat, geht es mir erneut extrem dreckig. Die Sorgen, die Angst und die
innere Verwirrtheit sind zurück und das mit voller Schubkraft.
Ich stehe im Schlafzimmer und räume
einige Kleidungsstücke, mein Reisegepäck für den so schmerzvollen Abstecher in
die alte Heimat, in eine blaue Sporttasche.
Die Nacht mit Franziska, die im
Moment das einzige lebende Wesen zu sein scheint, das mich von meinem Dilemma
ablenken kann, war wieder unglaublich intensiv. Sie schlief auf Dileks Seite
vom Bett und schien sich innerlich darüber zu amüsieren, dass dort bis vor
Kurzem meine angebliche Ex genächtigt habe.
Während ich den Reißverschluss
meiner Sporttasche schließe, wird mir brutal schlecht, so dass ich eine
Viertelstunde über der Toilettenschüssel kauere und unter Tränen Schleim aus
meinem Körper herauswürge.
Später warte ich im Wohnzimmer auf
dem Sofa, dass der Zeitpunkt kommt, um zum Bahnhof aufzubrechen. Schließlich
endet man, wo ein Mensch zumeist endet, wenn er einsam daheim weilt und zu
nervös ist, um Texte oder tiefergehende Informationen aufnehmen zu können; vor
der Glotze.
„Das Kleinkind wurde im Kühlschrank
in der Wohnung des Vaters gefunden. Die Leiche des Zweijährigen befindet sich
mittlerweile in der Pathologie. Dem Bremer Jugendamt soll bereits seit längerer
Zeit bekannt sein, dass der 24jährige massive Drogen- und Alkoholprobleme hat.
Die Kriminalpolizei Bremen ermittelt nun wegen Mordes. Aus der Hansestadt
berichtet Dorothea Blank.“
Ein Mord und die
Kriminalpolizei. Solche Nachrichten kannst du im Moment überhaupt nicht
gebrauchen!
Schnell auf einen anderen Sender
geschaltet.
Horst Tapperts altes Gesicht mit
den markanten Tränensäcken und dem dünnen gescheitelten Haar erfüllt den
Bildschirm. Tappert sitzt hinter seinem Schreibtisch zusammen mit Fritz Wepper,
davor hockt ein unbekannter Schauspieler. Unschwer zu erkennen ist, dass wir es
hier mit der Wiederholung einer Derrick– Folge aus den 1980er Jahren zu
tun haben.
Derrick spricht zu dem Mann vor
seinem Schreibtisch: „Auf diesem Stuhl saßen schon so viele harte Burschen;
Mörder, Totschläger, Vergewaltiger.“
Herrje. Auch hier geht es um
Mord und Totschlag, wenn auch nur in Form eines Fernsehspiels. Ebenfalls für
dich ganz entschieden das falsche Programm zur falschen Zeit. Außerdem wirst du
selber bald auf einem solchen Stuhl vor einem solchen Schreibtisch hocken, nur
dass dann keine Schauspieler, sondern wahre Bullen dir gegenüber sitzen werden!
Irgendwo in den Tiefen der hinteren
Kanäle versuchen sie, Autopolitur für 29,95 Euro und zwei Schwämme gratis
obendrauf an den Mann zu bringen.
Eine solche Sendung kannst du
wesentlich besser ertragen momentan, aber im Endeffekt sitzt du so oder so mehr
dumm herum und starrst Löcher in die Zimmerdecke, als dass du TV schaust!
Immerhin werden sie dir erlauben, in deiner Zelle einen Fernseher zu haben,
mein Freund!
Die Schweißausbrüche suchen mich dermaßen
heftig heim, dass ich mich vor meiner Abreise tatsächlich noch einmal unter die
Dusche schwingen muss.
Irgendwann zeigt die Uhr dann kurz nach drei an und die Zeit bricht an, zum
Bahnhof zu gehen.
Weil sich das Ticket bereits in meinem Besitz befindet, könnte man die ganze
Sache eigentlich recht locker angehen lassen, doch statt Lockerheit findet
Folgendes in meinem Kopfe immer wieder in einer Endlosschleife statt.
Bald sitzt du im Knast, Freund
Jonas. Keiner wird dich besuchen kommen. Was werden deine Eltern wohl sagen,
wenn das alles ans Licht kommt? Deine lieben, guten, alten Eltern, die immer so
eine hohe Meinung von dir gehabt haben, Jonas Twelker. Die Mutter, die dich
schon als Professor sieht, und der Vater, der es sich nie nehmen ließ, den
Doktortitel seines Sohnes vor seinen Freunden und Bekannten zu erwähnen. Sie
sind so stolz auf dich. Doch bald werden sie deine Existenz und ihr eigen
Fleisch und Blut verfluchen.
Auf dem Bahnsteig sucht mich ein
heftiger Schwindelanfall heim, wobei alles um mich herum zu flimmern und sich
zu drehen anfängt. Ich stütze mich an einen Süßigkeitenautomaten, schließe die
Lider und versuche, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Langsam geht es mir etwas
besser, gewinnt die Welt ihre normalen Konturen zurück.
Auf dem Gleis steht nun der ICE – Diplomat
bereit, der von der alten in die neue Hauptstadt reist und auf seinem Weg einen
Zwischenhalt in Bielefeld einlegt.
Ich steige ein und finde schnell
einen unreservierten Fensterplatz.
Weiter vorne in diesem Wagon nimmt
ein älteres Paar Platz. Der Mann mag Anfang siebzig sein und stemmt das Gepäck
mühelos in die Ablage hinauf.
Der sieht viel kräftiger als Opa
Rainhard aus!
Äußerst schmerzhaft zieht sich mein
Magen zusammen und ich krümme mich kläglich in meinem Sitz zusammen.
Als der Zug schließlich Fahrt
aufnimmt und beim Blick auf den riesigen Sendemast, der hoch über der Stadt auf
dem Venusberg thront, überkommen mich plötzlich Wehmut und eine heftige
Niedergeschlagenheit.
Du willst überhaupt nicht weg
aus Bonn! Du willst nicht nach Bielefeld und über unangenehme Dinge reden, die
doch schon so lange zurückliegen! Du willst dich mit Franziska amüsieren oder
wegen mir auch mit Markus Herbig eine ausgedehnte Kneipentour bis in die frühen
Morgenstunden unternehmen.
Tränen steigen in meine Augen und
fast kommt mir wieder die Galle hoch, während der Zug schier geräuschlos durch
die ländliche Ebene zwischen Bonn und Köln gleitet.
Beim Halt in der Domstadt füllt
sich der ICE nun deutlich.
Neben mich in den Sitz lässt sich
eine junge Punkerin fallen, die, täte sie diesen ganzen Punkscheißdreck
weglassen, sicherlich ein ganz ansehbares Mädel ist. Immerhin gehört sie nicht
zu diesen Schmarotzerpunks, dafür sind die Klamotten zu edel, die
Irokesenfrisur zu perfekt gestylt, und passt daher eher in einen Musikvideoclip
auf MTV als schnorrend in die Fußgängerzone einer Großstadt. Die junge Frau
nickt mir kurz lächelnd zu, dann holt sie ein iPod heraus, stöpselt sich die
Hörer in die Ohren und verschwindet hinein in ihre eigenen Welt.
Der Zug fährt über den breiten
Fluss ins rechtsrheinische Köln. Mein Blick fällt auf all die Liebesschlösser
an den Gittern des Brückengeländers. Für den kurzen Moment denke ich, wie viele
der Paare, die einst die Gegenstände als Zeichen immerwährender Zuneigung hier
anbrachten, wohl noch zusammen sein mochten. Doch wirklich ablenken tut mich
das nicht.
Die Hände sind zitterig und
schweißnass, krampfartige Anfälle überkommen in schöner Regelmäßigkeit meinen
Magendarmtrakt und ich wünschte, Dileks Tavor aus der Nachttischschublade
mitgenommen zu haben, was aber leider in meiner Nervosität vergessen wurde.
Vielleicht könnte ein Weizen aus dem Speisewagen Abhilfe schaffen, den
grummelnden Magen und die zitternden Hände zu beruhigen. Allerdings ist die
Gefahr bei dieser Lösung groß, dass aus einem Weizen vier oder fünf werden und
ein gewisser Jonas Twelker bereits angetrunken in Bielefeld aus dem Zug steigt.
Draußen fliegt Leverkusen vorbei.
Ich mache die Augen zu und die
Erinnerungen kehren zurück.
Kapitel 19
(Bielefeld im Sommer 1995) Nach dem
Gezeche auf dem Grillplatz erwachen ich bei brüllendheißen Temperaturen gegen
14:00 Uhr. Ein Alkohol- und Nikotinkater
peinigt mich, mein Magen hat Schlagseite und ein leichtes Schwindelgefühl
durchdringt meinen Körper.
In Boxershorts und T–Shirt gehe ich
hinab in die Wohnung meiner Eltern, welche gerade dabei sind, den Mittagstisch
abzuräumen.
„Na, war` s heftig gestern?“, fragt
meine Mutter grinsend.
„Es ging. Vor allem lang.“
Weil der Nachdurst gewaltig in mir
wütet, hole ich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Nachdem ich
gierig einen viel zu großen Schluck von dem viel zu kalten Wasser genommen
habe, verkrampft mein Magen, so dass ich vor Schmerzen zusammenzucke und mich
am Esstisch niederlasse.
Mein Vater grinst.
„Willst du was essen? Es ist noch
warm. Spaghetti Bolognese. Dein Lieblingsessen.“
Obgleich die Aussage meines Vaters
zutrifft, dass Spaghetti Bolognese mein Lieblingsgericht sei, beleidigt der
Gedanke an Essen mich gerade.
„Später. Ich mache es mir dann
warm.“
„Dann war es wohl doch etwas
heftiger“, sagt meine Mutter lächelnd.
Anstatt ihr zu antworten, genehmige
ich mir lieber unter einem behutsameren Vorgehen einen weiteren Schluck Wasser.
Meine Schwester kommt in die Küche
und an unseren Gesichtszügen erkennt der neutrale Betrachter sofort, dass wir
Geschwister sind. Wir verstehen uns seit Ewigkeiten prima, haben keinerlei
Probleme mit- und untereinander.
„Und gestern gut getrunken?“, fragt
sie.
„Ja. Ging schon gut zur Sache und
es war eine ganz coole Party, bis auf dass der ekelhafte Frank Engel
vorbeigekommen ist und sich komplett abgeschossen hat. Und wie war es bei dir
gestern?“
Demonstrativ rümpft mein
Schwesterherz die Nase und legt einen angewiderten Gesichtsausdruck auf. Auch
sie kennt Frank Engel.
„Ich war bei David. Wir waren auf
ein paar Bier im Schlosshof und anschließend haben wir den Samstag bei zwei
Videos auf Davids Sofa ausklingen lassen. Ich bin vor einer Stunde erst
heimgekommen. Und in dieser Stunde hat Mark schon zweimal für dich angerufen.
Es muss wichtig sein. Er klang in jedem Fall aufgeregt. Positiv aufgeregt. Aber
trotzdem habe ich dich schlafen lassen, Bruderherz. Habe ich gut gemacht, nicht
wahr?“
„Perfekt Schwesterchen! Du bist die
Allerbeste! Ich kann mir schon vorstellen, was Mark mir erzählen will. Dieses
kleine arrogante Miststück hat dem jetzt schon den Kopf verdreht. Ojemine,
ojemine.“
„Wer verdreht Mark den Kopf?“,
fragen meine Mutter und meine Schwester synchron, worauf mein Vater fröhlich
vor sich hin lacht.
„Das erzähle ich euch später. Jetzt
gehe ich erstmal telefonieren.“
Ich nehme unser schnurloses Telefon
von der Station und wackele damit auf mein Zimmer hinauf. Normalerweise meldet
sich stets der Oberstudienrat und haucht ein tiefes „Wenzel“ ins Telefon, heute
allerdings befindet sich Mark direkt in der Leitung.
„Hey, Jonas. Ich muss dir was
erzählen“, sprudelt er.
„Na dann leg mal los.“
„Ich bin mit Sophia zusammen. Ich
hatte gestern gar keine Kopfschmerzen. Das war nur eine Ausrede, damit ich mich
noch mit ihr alleine treffen konnte. Oh Mann! Es hat so gewaltig zwischen uns
beiden gefunkt. Diese Frau ist einfach obergalaktisch.“
Den Hörer am Ohr lasse ich mich auf
mein Bett fallen.
„Das habe ich mir schon beinahe
gedacht.“
Mark ist verwundert.
„Warum?“
„Ich habe euch gesehen. Als ich
Holz suchen war. Der Kuss zwischen den Bäumen.“
„Das hast du mitbekommen, du
Aasgeier. Es war umwerfend, überwältigend. Ein Gefühl, das ich bisher echt
nicht kannte. Das hört sich jetzt vielleicht schleimig und kitschig an, ist
aber die volle Wahrheit“, jubelt Mark und sein Tonfall ändert sich ein wenig,
als er mich fragt: „Und hast du es schon jemanden von den anderen erzählt? “
„Nein. Habe ich natürlich nicht.“
„Gut! Danke! Das wollte ich nämlich
selber erledigen. So nach und nach.“
„War die Nacht wenigstens gut?“,
will ich wissen, um zu erfahren, ob diese hochnäsige Tussi wenigstens im Bett
ihre Qualitäten besitzt.
„Es war Wahnsinn. Wir waren bei
mir. Die Nacht war fantastisch, unbeschreiblich. Solche Gefühle habe ich noch
niemals erlebt vorher. Sophia hat bei mir übernachtet. Wir haben den
Sonnenaufgang zusammen beobachtet und nach dem Aufstehen hat sie meine Eltern
kennengelernt. Mein Vater findet Sophia echt okay. Und das heißt bei ihm ja
schon was.“
Das waren eigentlich nicht so ganz
die Informationen, die ich mir erhofft hatte, aber was soll ` s. Mark klingt so
begeistert, dass ich mich für ihn freue, obgleich mir diese Frau ein großer
Dorn im Fleische ist.
„Na dann wünsche ich dir alles Gute
und dass es etwas länger als die üblichen drei Wochen dauert. Wir lassen noch
für eine Weile den gestrigen Abend und besonders die Peinlichkeiten Engels
Revue passieren, bevor wir das Gespräch beenden.
Ich strecke mich gänzlich auf dem
Bett aus, worauf die Müdigkeit erneut von mir Besitz nimmt, ein klares Zeichen
dafür, dass es letzte Nacht eindeutig zu wenig Schlaf und zu viel Alkohol gab.
Ich greife nach der Fernbedienung und schalte die Glotze ein.
Ein in einer Fotokabine spielender
House–Musik–Videoclip flimmert vorüber. Der Typ, der ihn singt, hat lange
blonde Haare und sieht aus wie getrockneter Durchfall. Das Lied liegt im Moment
voll im Trend, wird rauf und runter gespielt und jeder geistige Tiefflieger,
von denen es jede Menge zu geben scheint, fährt voll drauf ab. Mir hängt es arg
zum Halse raus und deshalb schalte ich umgehend weg.
Auf einem anderen Kanal läuft Moby
Dick aus dem Jahre 1956.
Den restlichen Tag über bleibe ich
im Bett, wobei mich der brillante Sommer dort draußen ausnahmsweise einmal
nicht interessiert. Ich kuriere meinen Kater aus, gucke Fernsehen und döse hier
und da kurz weg, wobei ich einmal eine seltsame Traummontage gehabt haben muss,
die aber nur noch fragmentarisch in meiner Erinnerung existiert.
Ich saß mit Rassel und Mark auf dem
Baumstamm nahe der Steinbruchkante und da gab es noch eine vierte Person, die
ein unscheinbares Allerweltgesicht trug und der Steinbruch war mit unserem
Lieblingsplatz darüber nur Teil eines viel größeren Berges, auf dessen Spitze
ein dunkles Schloss stand.
Später am Abend ruft Andre Faust durch.
Im Rahmen dessen gibt es nur ein Thema. Rassel zeigt sich genauso besorgt wie
ich darüber, dass Frau Sophia Wehmeyer einen schlechten Einfluss auf unseren
gemeinsamen Freund ausüben könne.
„Mark ist doch nicht dumm“, erkläre
ich, als sich das Gespräch langsam dem Ende entgegen neigt. „Die Liebe blendet
ihn vorübergehend ein wenig, aber er wird schon wieder klarer sehen, wenn der
erste Gefühlsrausch verflogen ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das
zwischen Sophia und Mark all zu lange dauern wird.“
„Das glaube ich auch“, stimmt
Rassel mir zu. „Mark hat mit seinem Vater bereits eine Person, die ihm dauernd
reinredet. Da braucht er nicht noch eine weitere. Es wird nicht lange dauern.“
Doch wir sollten uns gehörig
täuschen. Mark Wenzel und Sophia Wehmeyer sollten lange, lange zusammenbleiben; sehr lange.
Kapitel 20
(Auf der Schiene im Sommer 2008) „Meine
Damen und Herren. In wenigen Minuten erreichen wir Hagen. Bitte beachten Sie,
dass in Hagen die untere Trittstufe nicht ausgefahren werden kann. Hier haben
Sie Anschluss an...“, plärrt eine männliche Stimme aus den Lautsprechern.
Ich setzte mich in meinem Sitz auf
und bin mir nicht ganz sicher, ob ich mich nur intensiv erinnert oder gar ein
wenig geschlafen habe. Der Halt in Wuppertal jedenfalls ging vollkommen an mir
vorbei.
In Hagen steigen ein paar Leute ein
und kaum einer aus, so dass der Aufenthalt lediglich von kurzer Dauer ist.
Die Fahrt geht bald weiter.
Jetzt gibt es in Hamm nur noch
einen Stopp auf meinem Weg zurück in die alte Heimat Bielefeld. Das Herz
schlägt höher, kalte Schauer überlaufen den Rücken, Angst wütet und ein äußerst
unangenehmes Grummeln erfüllt die Magengegend.
Eine junge Frau in der blauen Serviceuniform
der Bahn läuft durch den Waggon. Sie schiebt einen Handwagen vor sich her, in
dem sich Schokoriegel, eingeschweißte Sandwiches, Softdrinks und Bier befinden.
Weil ein Bier gerade echt von Nöten ist, um die ramponierte, in Flammen
stehende Psyche etwas zu kühlen, kaufe ich ihr, die recht süß aussieht, eine
0,33 Flasche Warsteiner ab. Das Bier läuft im Rekordtempo die Speiseröhre herunter
und gleich geht es mir ein wenig besser; zwar nicht gut, aber besser.
Ich blicke auf die vorbeifliegende,
in der Sonne liegende Landschaft und erinnere mich erneut.
Kapitel 21
(Bielefeld im Altweibersommer 1995)
Im frühen Herbst sind Sophia und Mark bereits über zwei Monate zusammen.
Natürlich gilt er Rassel und mir
nach wie vor als treuer Freund, doch müssen wir ihn nun teilen.
Auch Rassel befindet sich momentan
in den festen Händen einer pummeligen Blondine aus Halle in Westfalen. Ihr Name
lautet Patricia, sie ist nicht die hellste Glühbirne im Lampengeschäft,
entstammt dafür aber einem guten Hause, was für Rassel vielleicht einer der
Gründe sein mag, mit ihr zusammen zu sein. Rassel arbeitet um so härter an
seiner Karriere und da sind Kontakte in die besseren Kreise sicherlich nicht schädlich.
Zudem kommt Patricia relativ locker daher, hält ihren Andre an der langen Leine
und man kann ordentlich mit ihr Party machen gehen, das hat sie uns bereits nachdrücklich
bewiesen. Ich kann sie um einiges besser ausstehen als eine gewisse Sophia
Wehmeyer, was allerdings keine Überraschung sein dürfte.
Es sind die letzten schönen Tage im
Jahr und wir schreiben Freitagnacht.
Mark, Andre und ich waren im Pendel
auf das erste reine Männertreffen seit sechs Wochen.
Die Uhr zeigt 1:43 Uhr an, während
wir die Hauptstraße bei Motobeacane verlassen, zur Schulstraße hinaufstiegen
und nach einem kurzen Fußmarsch an den Häusern mit den schäbigen Appartements vorbeikommen,
in welchen Frank Säufer Engel und Sascha Quermann in ihrer Nichtigkeit und
ihrem selbstverschuldeten Elend vor sich hin vegetieren.
Um es genauer zu formulieren, wird
Quermann dort bald zu Ende vegetiert haben, denn zum Monatswechsel tauscht er
seine jämmerliche Bruchbude an der Schulstraße gegen eine Wohnung am Schwarzen
Kamp ein, in der eine Frau lebt, die zehn Jahre älter als Sascha sein soll.
Tatsächlich hält er sich bereits jetzt schon die meiste Zeit bei dieser
ominösen Frau auf. Es mag unglaubwürdig klingen, doch anscheinend existieren
tatsächlich Damen der Schöpfung, die einen Asozialen wie Sascha Quermann
ranlassen.
Offiziell sei es die ganz große
Liebe, verkündet es Quermann allen, die es hören wollen.
Inoffiziell gehen allerdings
Gerüchte umher, wonach Quermann sein Rattenloch nicht mehr finanziell halten
könne, weil er einen Großteil des Geldes in die Spielothek trage. Er solle mit
Anfang zwanzig bereits Schulden in Höhe von über zehntausend Mark am Hintern
kleben haben.
Nun hat Quermann seinen Sperrmüll,
als was anderes kann man den Krempel wahrlich nicht bezeichnen, all das Zeug,
was er nicht mit zu seiner Ollen nehmen darf, an die Straße gestellt; ein altes
Bett mit Lücken im Lattenrost, einen klapperigen Schreibtisch, einen klemmenden
Drehstuhl, aus dessen Rückenlehne der Schaumstoff quillt, ein alter Schrank,
der schon vom Hinsehen zusammenzufallen droht, ein kleiner stinkender Teppich
und der großer Pappkarton eines Röhrenfernsehers, der nun diverse unnütz
gewordene Artefakte aus dem jämmerlichen Leben eines Saschs Quermanns enthält.
Wir nehmen den Karton genauer unter
die Lupe.
Zerfledderte Zeitschriften über die
Feuerwehr, vergilbte Fernfahrermagazine, Schnellhefter in roten, blauen und gelben
Farben, die zumeist Papiere aus Quermanns kurzer Zeit an der Berufsschule
enthalten. Weiterhin finden sich alte Modelle; Schiffe, Flugzeuge,
Feuerwehrautos und selbstverständlich Lastkraftwagen. Sie sind jene
Jungenträume aus Plastik, die eines Tages dann brüchig zu werden beginnen.
Mark zieht ein ferngesteuertes Auto
hervor, einen Geländewagen aus billigster chinesischer Produktion, dem ein Teil
seines Kuhgitters fehlt. Die Antenne, ein Reifen und die Fernbedienung bleiben
unauffindbar.
Rassel betrachtet den Wagen genauer
und fängt heftig zu lachen an. Er nimmt das ferngesteuerte Spielzeug an sich
und hält es ins Licht der Straßenlaterne, die dem Sperrmüll hier am nächsten ist.
Wie Faust dort so steht und den Wagen in den weißlichen Schein reckt, sieht er
aus, als sei er ein Totengräber mit seiner Totenlampe in der Klaue, der gerade
erst frisch einer Schauergeschichte entsprang.
Mit der freien Hand zeigt er auf
das beschädigte Kuhgitter und erklärt: „Das war Sven Vogel. Quermanns
ferngesteuertes Auto stand auf der Tischtennisplatte und Sven hatte sein Auto
dahinter gestellt. Das war vor vier oder fünf Jahren, vielleicht auch vor sechs. Damals waren wir
alle irgendwie auf dem ferngesteuerten Auto–Trip. Alle hatten eines. Thomas,
Sven, Brauni, ich und eben auch Quermann. Jedenfalls stellt Sven sein Auto
hinter das von Quermann und schiebt es mit seiner Kiste von der
Tischtennisplatte und das Kuhgitter geht in ` Arsch. Quermann sagt: >>Ey,
was soll das?<< und Sven antwortet: >>Oh Entschuldigung, Sascha.
Ich bin aus Versehen an den Hebel von meiner Fernsteuerung gekommen.<<
>>Ist ja nicht schlimm<<, hat Quermann darauf gesagt. Man hat
gesehen, dass es in ihm gekocht hat. Dass er sauer ohne Ende war. Aber ihr
wisst ja, wie viel Angst Quermann vor Sven hat. Also hat er auf alles okay
getan. Und wisst ihr, was Sven noch getan hat?“
Mark und ich schütteln synchron die
Köpfe.
„Er hat, als Quermann weg war, das
abgesplitterte Teil vom Kuhgitter gesucht“, fährt Rassel fort. „Er hat es
gefunden und mit nach Hause genommen. Da hat er dann mit seinem Computer, den
ollen Schneider Amstrad, einen Mini–Ausdruck erstellt. Darauf stand: Treffer
Nummer Eins, Teil eines Kuhgitters von Sascha Quermann. Den hat er dann mit
Tesa an das abgesplitterte Teil vom Kuhgitter getan und sich das Ding in die
Vitrine gestellt.“
Wir lachen alle drei.
Rassel lässt den Wagen in den
großen Pappkarton zurückfallen.
„Mal sehen, was wir sonst noch
Geschichtsträchtiges in dieser Zauberkiste finden“, sage ich und fange das
Wühlen an.
Seine Mappen aus der
Berufsschulzeit werden durchgeblättert und schnell steht fest, dass Old Sascha
Q. wenig, eigentlich gar nichts mitgeschrieben zu haben scheint. Lediglich
kopiertes Unterrichtsmaterial findet sich, langweilige Skripte, die auf ein
langweiliges Dasein als Elektriker vorbereiten sollen. Schließlich taucht
zwischen zwei Mappen ein Block auf, den wir selbstverständlich ebenfalls
aufmerksam durchblättern, wobei sich rasch herausstellt, dass die meisten
karierten Seiten leer sind. Doch dann stoße ich auf kindliche Blockbuchstaben,
die eng beieinander stehend eine knappe Seite füllen. Punkt und Komma, der
halbwegs sprachkundige Mensch erkennt das schnell, finden nur fragmentarisch
Anwendung.
Ich fange das Lesen an, um kurz
darauf in heftiges Gelächter auszubrechen.
Rassel und Mark blicken mich
neugierig an.
„Was ist das? Los, zeig her!“,
fragt und befiehlt Rassel.
„Quermann hat eine Geschichte
geschrieben“, gackere ich. „Oder hat es vielmehr versucht.“
„Zeigen!“, fordern meine Begleiter
wie aus einem Mund.
„Okay. Ich lese es euch vor. Und
zwar so, wie es dort steht. Am besten guckt ihr mit rein, während ich lese. Das
müsst ihr selber gesehen haben. Sonst denkt ihr, dass ich euch verarsche.“
Und so setzen wir uns Mitten in der
Nacht auf einen Bordstein der Schulstraße und lesen im Lichte der
Straßenlaterne, was vor einer unbestimmbaren Zeit ein Herr Sascha Quermann
schriftlich verzapft hat.
Es würde an dieser Stelle, liebe
Leserinnen und Leser, zu weit führen, die ganze Geschichte wiederzugeben, daher
seien hier nur die Toprechtschreibböcke zitiert.
Früher
lagen in dem stetischen Krankenhaus fünf kleine Racker. Eines war ein besonders
häsliches Beby, das von den anderen vier täglisch maskrit wurde. Das häsliche
Beby hies Sven...Und so begab es sich das mann eine verzunkene Stadt suchen
sollte. Mit dabei waren Frank, der Kuing of fotball, und Alex Bein, der heligen
Haser, der alles über das Böse sprich Satanismuss weis...Das Seil reist und
Sven fält runter...Der Mark der sich so tol vorkomt...Dann ging es nach Angola
City. Befor mann die verzunkene Stadt suchte wurde zwei Wochen ficken und
seufen in Angola City...Der Weerwolfmann polirt Jonas die Feese...Rassel wird
von einem großen Sturm gepakt und von den Demonen mit einem glüenden Schwärt
gefolter...Mit einem Schraubenziher stiecht der Weerwolfmann Sven die Augen
aus. Sven schreit wie am Spis....
Tränen lachend sitzen wir auf dem
harten Bordstein.
„Eines ist klar“, erklärt Mark.
„Sven mag er überhaupt nicht. Noch weniger als uns. Habe ich euch schon
erzählt, dass ich Quermann letztens in der Stadt vor der Marktpassage getroffen
habe? Auf meine Frage, was er in der Stadt mache, sagte er mir, er wolle sich
ein Richtmikrofon kaufen, um Vogelstimmen aufzunehmen. Da solche Geräte für
Privatpersonen in diesem Land nicht gestattet sind, kann man davon nur einen
Bastelsatz erwerben. Wenn er so bastelt, wie er schreibt, kriegt er das Teil in
hundert Jahren nicht zusammengebaut.“
Rassel und ich schütteln die Köpfe
und wir alle drei lachen noch mehr.
„Wisst ihr, was wir machen? Wir
gehen auf ein zwei Bier zu mir und analysieren diese Geschichte. Zählen alle
Fehler und so weiter und so weiter“, schlage ich vor.
„Da werden wir aber einiges zu tun
bekommen“, sagt Rassel.
„Ich würde ja gerne mit euch
korrigieren“, spricht Mark relativ leise. „Aber ich habe Sophia versprochen,
dass ich heute nach dem Pendel noch mit dem Fahrrad zu ihr komme. Sie hat den
Schlüssel extra in einem Blumenkübel im Garten für mich versteckt und...“
„Ach Papperlapapp!“, krächzt
Rassel. „Die pennt doch eh schon und ihr ist es also Latten, ob du eine Stunde
eher oder eine Stunde später kommst.“
„Ich...ich weiß nicht so recht...“
„Ach natürlich weißt du. Das sehe
ich dir doch an. Du willst mit Jonas und mir mitkommen und diese gottverdammte
Geschichte von diesem ekelhaften Hurensohn korrigieren. Also schwing den Arsch,
Keule!“, drängt Rassel.
„Schon gut, schon gut! Ich komme ja
mit, Alter!“, gibt Mark nach.
Wir gehen die Straße runter, wobei
ich den kläglichen Versuch einer Geschichte zusammengerollt in meiner rechten
Hand trage. Lang sind unsere nächtlichen Schatten im Zwielicht, welches die
Laternen spenden. Dumpf ertönen unsere Schritte in der beinahe vollkommenen
Stille.
Kurz vor dem Haus meiner Familie
kommt eine Gestalt auf uns zugewankt, die leise eine Melodie vor sich hin summt.
„Guten Abend, Opa Rainhard“, sagen
wir beinahe gleichzeitig und nicken in seine Richtung.
„Guten Abend, Jungs! Na, wart ihr
auf Achse?“, lallt Opa Rainhard und trägt beim Sprechen eine starke Korn- und
Bierfahne vor sich her.
Opa Rainhard wohnt zwei Häuser
weiter als meine Familie die Straße runter. Schon immer war er dem Alkohol
zugeneigt, aber seit er berentet wurde, hat er sich ihm mehr oder weniger
ergeben. Jeden Freitag- und Samstagabend spaziert er bei Wind und Wetter durch
den Wald und über den Berg nach Gadderbaum, um dort seine Stammkneipe zu
besuchen und sich volllaufen zu lassen. Anschließend wankt er durch den Wald
nach Brackwede zurück.
Opa Rainhard mag viel trinken und
oft blau sein, aber dabei wahrt er stets Haltung, Würde und Verstand. Peinliche
Aussetzer gibt es keine. Er kommt immer nett daher, grüßt höflich, jedermann
kann stets einen netten, kleinen Plausch mit ihm halten und dass die Kinder und
Jugendlichen bis hin zu den jungen Erwachsenen ihn Opa Rainhard nennen, stört ihn
nicht im Geringsten. All diese Charaktereigenschaften machen den Rentner in der
gesamten Spielstraße zu einem gern gesehenen Nachbarn. Natürlich ist sein
Alkoholproblem allen Anwohnern bekannt, aber böse darüber reden, tut niemand.
„Das waren wir“, antworte ich. „Und
du auch?“
„Wie immer. Alte Stelle, alte
Welle. Ich wünsche euch Jungs noch eine schöne Nacht. Ich habe einen über den
Durst gepichelt und muss heim.“
„Danke. Ebenfalls. Bis bald mal
wieder.“
Opa Rainhard hebt noch einmal
grüßend die Hand, dann schlendert er in Schlangenlinien die letzten Meter bis
zu seinem Haus, wo leider keine Menschenseele mehr auf ihn wartet. Schon lange
ist sein Sohn außer Haus und selbst Familienvater und seine Frau verstarb viel
zu früh bereits vor Jahren bei einem Autounfall. Wahrscheinlich hängen dieser
Unfalltod und Opa Rainhards Alkoholkonsum eng zusammen.
„Ich traue dem Typen, diesem Opa
Rainhard nicht“, sagt Rassel leise, nachdem wir die Treppen zu der
Dachgeschosswohnung hinaufgestiegen sind und mein Zimmer betreten haben. „Der
tut immer so nett und kumpelhaft. Ich wette, der hat Försterfeld gesteckt, dass
wir damals über sein Auto gestiegen sind.“
„Ach Quark. Das glaube ich nicht.
Försterfeld wollte sich nur aufspielen. Du kennst ihn doch. Der wollte auf wichtigmachen,
was er für gute und tolle Kontakte in der Nachbarschaft besitzt. Er spielte
sich manchmal eben gerne auf. So wie damals, als er noch SS-Offizier gewesen war.
Försterfeld war eben langweilig von so vielen Jahren Pensionärsleben. Er hatte
das hundertprozentig alles selber gesehen, weil er auch nachts nichts Besseres
zu tun gehabt hatte, als aus dem Fenster die Spielstraße zu beobachten. Der
Alte war ein Dummschwätzer vor dem Herrn, mehr nicht. Das hat man damals schon
daran gehört, wie er zu uns sagte: >>Ich habe da meine ganz speziellen
Quellen in der Straße<<“, nehme ich Opa Rainhard in Schutz.
Rassel und Mark machen es sich
direkt auf dem besten Platz, der breit ausgebauten Fensterbank vor dem
Doppelfenster mit wundervoller Aussicht auf die Spielstraße, gemütlich.
In der Dachgeschosswohnung gibt es
den Anschlussplatz für eine Küche, wohin ich nun zielstrebig eile. Eingebaut
haben Schwesterchen und ich selbstverständlich keine, werden wir doch
verlässlich im Hotel Mama mit Speisen versorgt. Einen Kühlschrank hingegen, den
unsere Eltern ausgemustert hatten, haben wir im Schweiße unseres Angesichts
heraufgeschlappt und in diesem Kühlschrank befindet sich immer reichlich Bier. Drei Flaschen davon
entnehme ich nun und mache mich auf den Weg zurück in mein Zimmer.
Meine Freunde haben inzwischen das
Radio in der Stereoanlage eingeschaltet.
Der lokale Sender spielt eines
dieser unerträglichen Lieder des Jahres 1995; 74/75, eine schlimme
Schnulzennummer mit einem noch viel schlimmeren Videoclip dazu. Mir bleibt es
wohl auf ewig unverständlich, dass Menschen auf solche Musik abfahren und diese
auch noch kaufen. Obgleich die Nummer einfach nur zum Mäusemelken peinlich ist,
läuft sie dennoch seit Monaten im Radio und TV rauf und runter.
Bierflaschen werden geöffnet.
„Prost!“
„Prost!“
„Prost!“
Klirrrrrrrrrrrr!!
Während Mark und ich genussvoll
trinken, blickt Andre mit finsterer Miene raus auf die Straße.
„Und dieser alte Fotzenlecker Opa
Rainhard hat uns doch bei Försterfeld verpfiffen. Von seinem Haus hat man
ungefähr den gleichen Ausblick wie von hier. Seht ihr, dort drüben, wo jetzt
der Passat von eurem neuen Nachbarn parkt, stand früher immer Försterfelds
Mercedes. Beste Sicht drauf. Und nur Opa Rainhard sitzt um drei Uhr in der Früh
dumm am Fenster und säuft. Du hast selber erzählt, Jonas, dass bei ihm manchmal
um vier Uhr morgens noch Licht brennt. Und das mit Pätti war er auch. Den alten
Sack hat es gestört, dass Pätti sonntags mit seiner frisierten Mofa durch die
Spielstraße geheizt ist. Weil er deswegen seinen Rausch wahrscheinlich nicht
auspennen konnte. Ich war dabei, als er dich gefragt hat, ob wir den Typen
kennen würden, der da immer mit dem Mofa durch die Straße fährt. Weißt du das
noch, Jonas?“
„Ja, Mann!“, erwidere ich kurz
angebunden und etwas von dem Thema genervt.
„Ich sag es euch, der Typ ist
richtig hinterfotzig. Eine richtig hinterhältige Sau. Ich kenne diesen Schlag
Mensch. Das sind so die Leute, die im Dritten Reich ihre eigenen Eltern
angezeigt haben, wenn die etwas gegen den Führer gesagt haben“, steigert Rassel
sich weiter in diese Sache hinein.
Einen kurzen Lacher kann ich mir
trotzdem nicht verkneifen, denn Rassel geht mal wieder voll ab und ist dabei,
sich haltlos in etwas reinzusteigern ähnlich der Sache mit den ungeschriebenen
Gesetzten des Schulhofs und Sascha Quermann vor über drei Jahren.
„Ist ja gut, Mann. Dann ist er es
halt gewesen. Na wenn schon. Das ist doch jetzt alles lange her und vorbei“,
erklärt Mark seine Sicht der Dinge.
„Nichts ist vorbei!“, keift Rassel.
„Wegen dem alten Hurensohn musste ich für diese Scheiß-Inventurfirma arbeiten
und bei Rewe Brühwürfel zählen. Und hätte Försterfeld uns wegen Vandalismus
angezeigt und wäre das bis zur Bank vorgedrungen, dann wäre es das mit dem
Ausbildungsplatz gewesen. Dann hätte den ein anderer Kerl bekommen. Die Sache
ist niemals vorbei. Nie! Wir sollten den Knacker mal auflauern. Nachts im Wald!
Wenn er von seinen Zechtouren nach Hause kommt, sollten wir ihm den Schädel
einschlagen, bis die Suppe spitzt. Todsichere Methode. Keine Sau würde uns
sehen. Kein Schwein würde etwas mitbekommen. Ich sage euch...“
„Meine Güte! Du steigerst dich da
in was rein, Andre“, unterbricht Mark die Litanei. „Wir sind doch hier, um
Quermanns Geschichte zu korrigieren. Und leider habe ich nicht die ganze Nacht
Zeit. Also lasst uns anfangen!“
„Er hat Recht. Lasst uns Quermanns Geschmiere
auswerten“, stehe ich ihm bei.
„Okay, okay!“, willigt Rassel ein.
„Nehmen wir uns Sascha Quermanns geistige Ergüsse vor. Aber ich sage es euch,
Opa Rainhard nehmen wir uns ebenfalls vor, wenn die Zeit dafür reif ist.“
„Machen wir, Rassel! Machen wir!“,
sage ich beiläufig und rolle das Dina4–Blatt auf dem weißen Holz der
Fensterbank aus. „Wir schlagen ihn tot, bis die Suppe spritzt. Mark, gehst du
bitte zum Schreibtisch. Da muss ein Rotstift liegen.“
Auf der einen Seite finden wir sage
und schreibe 145 Fehler bei 210 Wörtern und dazu sind wir uns bei einigen
Wörtern hinsichtlich der Groß- und Kleinschreibung nicht ganz sicher. Worum es
in dieser Geschichte, die im Übrigen unvollendet ist, geht? Wer weiß, wer weiß.
Sicher ist nur, dass wir es hier mit dem Fehlerquotienten eines Sonderschülers,
wenn nicht gar dem eines geistig Behinderten zu tun haben.
Endlich macht die Sache einen
Heidenspaß und Mark muss sich richtig aufrappeln, um nach gut einer Stunde zu
seiner Sophia aufzubrechen. Rassel und ich bleiben noch etwas sitzen und killen
jeder ein weiteres Herforder, schwatzen lockeres Zeug daher und lauschen der
Musik im Nachtprogramm des Lokalradios, die sich, Gott sei Dank, zum Besseren
hin gewandelt hat.
„Ich frage mich, warum Quermann in
seiner Geschichte über Satanismus und Dämonen schreibt", kommt Rassel auf
die Geschichte zurück.
„Wahrscheinlich weil er es in einem
Horrorfilm gesehen hat. Der Idiot hat bei seiner Geschichte sicherlich sich
nichts selber ausgedacht, sondern einfach nur Sachen wirr zusammengeschmissen,
die er in der Glotze gesehen hat."
„So wird es wohl sein. Denn dass er
sich persönlich mit dem Thema beschäftigt und einen Dämonen heraufbeschwört, um
sich an uns zu rächen, dafür ist er viel zu dumm", spricht Rassel und
irgendwie habe ich den Eindruck, dass er plötzlich ernster geworden ist.
"Das ist doch so oder so nur
Hokuspokus und Aberglaube. Nur Idioten, die im Leben zu kurz kommen,
beschäftigen sich mit so einem Zeug."
„Das würde ich nicht sagen. Es gibt
sehr berühmte Menschen, die sich mit Satanismus und Okkultismus beschäftigen.
Schau dir nur mal Aleister Crowley an oder, aktueller, den Gitarristen von Led
Zeppelin. In wie vielen Musikstücken geht es versteckt um Satanismus? Hinter
wie vielen Symbolen steckt eine okkulte oder satanische Bedeutung? Jede Menge,
jede Menge? Das hat nichts mit Idioten zu tun."
„Wahrscheinlich haben sich all
diese berühmten Musiker nur zu viel LSD und Koks in die Birnen gehauen und
glauben deshalb an einen solchen Dreck. Es gibt keinerlei Beweise dafür. Genau
wie es keine Beweise für Gott gibt. Warum interessiert du dich eigentlich
dafür?", frage ich und als ich dabei an die seltsame Vision vor anderthalb
Jahren an eben dieser Stelle denke, bekomme ich tatsächlich fast ein wenig
Angst.
„Ach was, ich habe da nur mal einen
Artikel drüber gelesen, als ich in der Bank nichts zu tun hatte. An deiner
Theorie mit den Drogen wird wohl was dran sein. Habe ich dir eigentlich schon
erzählt, dass Helge sich ein Mobiltelefon gekauft hat?"
Er hält mehr von diesem Thema,
als er zugibt. Warum sonst hat er es angeschnitten. Er wollte dich dafür
erwärmen. Ach, quatsch nicht, Freund Twelker. Rassel hatte niemals den Hang zu
etwas Spirituellem. Der hat in der Zeitung darüber gelesen und gut ist es. Du würdest
einen solchen Artikel, wenn dir langweilig ist, auch lesen. Und dass er jetzt
darüber sprach, lag an Quermanns jämmerlichen Geschichte, ganz einfach!
„Oh, wen will denn der schlaue und
erfolgreiche Geschäftsmann Helge damit anrufen? Herrn Oetker persönlich oder
doch den Chef der Deutschen Bank?", spreche ich und vor lauter Ironie in
meiner Stimme könnte der Putz von der Decke fallen.
Rassel muss darüber so lachen, dass
er sich den Bauch halten muss.
Nach etwa einer Stunde geht diese
schöne Nacht zu Ende.
„Darf ich die mitnehmen?“, fragt
Rassel, als er gehen will, und zeigt auf die Geschichte. „Ich möchte sie mir in
der Bank kopieren. Soviel literarische Unfähigkeit muss zwingend für die
Nachwelt festgehalten werden.“
„Sicher. Nimm sie mit. Ich schenke
sie dir.“
Rassel faltet die Geschichte
zusammen, steckt sie in die Innentasche seines Jacketts und ich begleite meinen
Gast die Treppe runter zur Haustür.
„Leben Sie wohl, Herr Faust“, sage
ich scherzhaft.
„Sie ebenfalls, Herr Twelker“,
antwortet er genauso scherzhaft und sagt dann: „Opa Rainhard sollten wir uns
aber trotzdem vornehmen“, wobei diesmal keinerlei Humor in seiner Stimme
mitschwingt.
Rassel dreht sich um und
verschwindet in der Nacht.
Manchmal legt er wahrlich seltsame
Züge an den Tag; ein Buch voller Rätsel.
Meint er das mit Opa Rainhard
ernst? Würde er den armen, alten Mann im Wald abpassen?
Ich kann diese Frage weder
hundertprozentig mit ja noch mit nein beantworten.
Kapitel 22
(Auf der Schiene im Sommer 2008) Müde
rekele ich mich in meinem Sitz und frage mich erneut, ob mich der Schlaf oder
nur die intensive Erinnerung übermannt habt.
Auf dem roten Display am Kopfende
des Wagons leuchtet auf, dass der Zug Hamm in Westfalen bald erreicht.
Unaufhaltsam rückt die alte Heimat
näher und meine Gedanken, als sei dieses eine Schutzfunktion, wandern nicht
ganz erfolgreich zu Franziska.
Was sie wohl gerade tut? Ob sie
gerade an mich denkt? Nicht mehr lange und Bielefeld ist erreicht!
Mein Magen gleicht einem
riesenhaften Krebsgeschwür, während draußen das ebenso graue wie trostlosen Hamm
in Sicht kommt und ich mich weiter erinnere.
Kapitel 23
(Bielefeld im Spätherbst 1995) Der
Jahrhundertsommer ist Geschichte.
Nach langer Abstinenz, genau
genommen nach sieben qualvollen Jahren, rollt der Ball für unsere Arminia
wieder in der II. Bundesliga. Zwar verloren wir kürzlich gegen Carl Zeiss Jena
auf der heimischen Alm, stehen allerdings für einen Aufsteiger, der lange Zeit
durch die fußballerische Bedeutungslosigkeit trieb, enorm gut da.
Meine OS–Zeit biegt allmählich auf
die Zielgrade ein.
Nur noch gute sieben Monate sind es
bis zu den großen Abschlussprüfungen, die in mir weder Bangen noch Nervosität hervorrufen.
Es kommt mir vor, dass mit jedem Jahr, welches vergeht, auch die Zeit schneller
zu laufen scheint. Von daher werden diese sieben Monate ruckzuck vergehen, da
bin ich mir ziemlich sicher.
Mark geht der Zivildienst
inzwischen gehörig auf die Nerven.
Die behinderten Bethelaner, die er
hin und her kutschieren müsse, fuckten ihn gehörig ab. Er wäre besser zur
Bundeswehr gegangen, behauptet er mittlerweile immer häufiger.
Seine Freizeit verbringt er zu
einem Großteil in der Gegenwart von Sophia, mit der er erstaunlicherweise immer
noch zusammen ist. Über irgendwelche Spannungen in der Beziehung drang bis
heute leider weder Andre noch mir etwas in die Ohren und weil die beiden
mittlerweile seit über vier Monaten ein Paar sind, hat die
twelkerisch–faustsche Theorie, dass die Angelegenheit nur wenige Wochen halte,
wohl kläglich versagt.
Rassel hingegen sehe ich etwas
häufiger, wobei sich die Kontakte zumeist auf Termine unterhalb der Woche
beschränken, da er von Freitagnachmittag bis Montagmorgen meist bei Patricia in
Halle weilt.
Da dem nun mal so ist, unternehme
ich an den Wochenenden gelegentlich etwas mit Ralph Beermann, meinem OS–Kumpel.
Meist gehen wir in die Innenstadt ins Brauhaus auf ein paar Bier und wenn die
Stimmung sich dabei steigert, kann es sogar passieren, dass die Tour auf der
Tanzfläche des PC69 endet.
Ach übrigens; der unterbelichtete Karsten
Passfall flog unlängst, wie es zu erwarten stand, vom Oberstufen-Kolleg. Eine
Fachkonferenz unter Aufsicht des pädagogischen Leiters teilte ihm mit, dass er
das Ziel Allgemeine Hochschulreife selbst mit einer Rückstufung, das bedeutet
ein fünftes Jahr Ausbildungszeit, nicht mehr erreichen könne.
Tja. Game over, kann man da wohl
nur sagen.
Und wo wir schon über Versager
schreiben; Sascha Quermann lebt weiterhin im Hause seiner älteren Freundin. Er
sagt zu allen, die es hören wollen, dass er noch immer bei einer Firma im
Brackweder Süden beschäftigt sei. Allerdings geht zu diesem Thema ein Gerücht umher,
welches besagt, dass Quermann dort im Lager geklaut habe und er deswegen
fristlos gefeuert worden sei. Jedenfalls, Job hin oder her, zieht er immer noch
durch den Wald, um dessen gefiederte Bewohner zu beobachten.
An einem regnerischen
Donnerstagabend sitze ich in meinem Zimmer am Schreibtisch, höre Bruce
Springsteen und tippe einen roten Faden für ein Referat, welches ich kommenden
Dienstag halten muss, in den PC hinein. Ja, auch ich besitze nun einen Computer
jenseits von Amiga und C64.
Die kleine Lampe neben dem Monitor
brennt und spendet sanftes Licht, der Lernstoff geht mir zügig und leicht von
der Hand und vor gut einer Stunde rief mich Alexandra an und fragte, wie es
denn Morgenabend mit einer Pizza in der Stadt aussehe. Alexandra stammt aus
Polen und besucht das Oberstufen-Kolleg in einem jüngeren Aufnahmejahrgang. Sie
ist zwar keine perfekte Schönheit wie etwa Madeleine, besitzt aber ein süßes,
liebliches Gesicht und einen extrem heiteren Charakter. Vielleicht, so denke
ich manchmal, könnte es was Festes mit uns zweien werden. Die Zukunft, vor der
mir überhaupt nicht bange ist, wird es zeigen und so fühle ich mich extrem gut
und mit dieser Welt im Reinen.
Es klingelt.
Unten erkenne ich durch das
Milchglas der Haustüre zwei Gestalten; die eine groß, die andere klein. Deutlich
leuchtet der signalfarbene Container Herforder Pils in den Armen der größeren
Person. Unverkennbar selbst durch das verzerrende Glas sind das Andre Faust und
Mark Wenzel.
Ich freue mich und öffne die
Tür.
Zu dritt sind zehn 0,33 Flaschen
Herforder schnell getrunken und die Zeit verstreicht wie im Fluge. Rassel weiß
seit heute, dass ihn die Bank nach der Ausbildung unbedingt halten möchte und
selbstverständlich hat er sich zum Wintersemester an einer der zahlreichen
Fernuniversitäten für Betriebswirtschaftslehre und Informatik eingeschrieben.
Mark hingegen lästert über die
behinderten Menschen aus Bethel ab und wirkt dabei gar an manchen Stellen
ziemlich aggressiv.
„Die sind so schlimm. Da ist einer
dabei, der kramt, sobald er in diesen Scheiß-Bus gestiegen ist, sofort seinen
blöden Frühstücksbeutel heraus. Dann fängt er an, dumm darin herumzuwühlen und
zieht irgendwas heraus. Zum Beispiel einen Buttercroissant. Er hält ihn hoch
und fragt mit seiner verfickten Stimme, bei deren Klang ich jedes Mal kotzen
könnte: >>Schmeckt das gut, das Hörnchen?<< Da könnte ich ihm immer
den Gummiknüppel über den Schädel ziehen in der Hoffnung, dass es dann endlich
besser wird mit seinem Gehirnschaden. Manchmal könnte ich ein paar von diesen
Krüppeln killen. Nicht immer. Aber doch manchmal. Ich bin wirklich froh, wenn
ich wieder die Schulbank drücken darf bei meiner Ausbildung zum Diplom
Finanzwirt. Auch wenn das manchmal langweilig werden wird, ist es doch
tausendmal besser, als diese Zombies durch die Gegend zu kutschieren.“
Mark nippt an seiner Flasche
Herforder, Rassel grinst und weil Bruce Springsteen zu singen aufgehört hat,
krame ich im Regal nach einer neuen CD.
„Ach, Jonas, weißt du, wen wir an
der Westfalen getroffen haben, als wir den Conti gekauft haben?“, fragt Andre.
„Nee!“, sage ich mit Blick über die
Schulter zurück. „Aber du wirst es mir mit Sicherheit gleich sagen.“
„Den alten Opa Rainhard. ` hat sich
zwei Dosen Veltins und zwei Flachmänner Chantre gekauft. Dabei hatte er schon
eine Fahne, als hätte er ein ganzes Fass Weinbrand leer gesoffen.“
„Na und!“, antworte ich und suche
Steve Winwood. „Soll er doch. Seine Frau ist tot, das Kind erwachsen und längst
außer Haus. Er hat sein Leben lang gearbeitet. Nun vertrinkt er einen Teil
seiner hart verdienten Rente. Warum auch nicht? Er stört dabei doch keinen.“
Winwood steckt unter Dire Straits
und über The Who. Weil ich in solchen Nichtigkeiten einfach zu unaufgeräumt
bin, existiert kein alphabetisches Ordnungssystem für Tonträger und Bücher in
meiner Welt.
„Wo wir gerade beim Thema des
Saufens sind. Ich glaube, Quermanns Freundin trinkt auch“, sagt Mark.
Er hat sich auf meinen drehbaren
Bürostuhl gesetzt und stößt sich leicht mit den Füßen ab, so dass er leicht hin
und her rotiert. Mal geht es in die eine, mal in die andere Richtung. Früher
war er immer total ruhig, da wären solche Aktionen undenkbar gewesen, aber nun steht
er im Begriff, sich das Rauchen abzugewöhnen. Offizielle Begründung; Geld und
Gesundheit. Inoffizielle Begründung; Sophia Wehmeyer verlangt von ihm, dass er
dieses für sie so abscheuliche Laster aufgibt, was seinem Vater sicherlich nur
zu gut gefallen dürfte. Man merkt Mark an, dass ihm das nikotinfreie Leben noch
äußerst schwerfällt.
„Wer hat dir denn das erzählt?
Sascha Quermann persönlich?“, hake ich nach und Steve Winwood legt los.
„Nein. Als ich mit Sophia beim
Marktkauf war, haben wir Quermanns Alte gesehen. Sie hat Tiefkühlpizza und Korn
gekauft. Zwei Flaschen gleich. Natürlich den billigen. Dazu noch Bier, diese
Dosenpisse für 45 Pfennige.“
„Wenn Quermann in meiner Wohnung
leben würde, müsste ich auch täglich zum Korn greifen“, antworte ich trocken.
Mark dreht sich mit dem Stuhl um
die eigene Achse.
„Vielleicht säuft ja Quermann
mittlerweile selbst und sie hat den Stoff für beide zusammen gekauft“, wirft
Rassel seine Überlegungen zu diesem Thema ein.
„Glaube ich kaum. Quermann hängt
seit Jahren mit Frank Engel rum und eigentlich hat immer nur Engel gesoffen.
Quermann hat man höchst selten mal mit einem Bier gesehen. Und wenn einem ein
Frank Engel nicht zum Schluckspecht macht, dann tut es so eine alte Hippe
sicherlich erst Recht nicht“, entgegne ich.
„Quermann haben wir so selten mit
Bier gesehen, weil er nie Kohle hatte, sich welches zu kaufen. Und der
widerwärtige Engel hatte nie genug Asche, seinem Busenfreund den Schluck
mitzubezahlen. Eine ganz einfache Formel ist das“, interpretiert Rassel das Thema
neu.
„Sicher kann das eine Möglichkeit
sein. Ich denke aber weiterhin, dass Quermann eher Probleme mit dem Spielen als
mit dem Saufen hat. Er zockt und was an Kohle überbleibt, investiert die alte
Hure in Alkohol, damit sie das Elend besser erträgt. Das Elend mit Quermanns
Sucht meine ich an dieser Stelle natürlich. Und so erzeugt sie eine Sucht, um
eine andere Sucht besser verarbeiten zu können. Ein Teufelskreislauf entsteht,
wobei der eine den anderen immer wieder runterzieht. Haben wir da nicht ein
geiles Szenario?“, analysiere ich unter anderem die Lage einer Frau, die mir in
meinem Leben höchstens zweimal unter die Augen kam.
Mark und ich fangen hämisch zu
lachen an, während Rassel seltsamerweise ziemlich ruhig bleibt und auf der
breiten Fensterbank sitzend nachdenklich in die Dunkelheit dieses Herbstabends
schaut.
„Dein Gesaufe regt mich auf, du
alte Hippe! Ich geh jetzt in die Spielo, weil ich dich nicht mehr ertragen
kann“, parodiert Mark Sascha Quermann, was ihm ziemlich gut gelingt.
Zum einen lache ich nun, weil Mark
ein prima Theater auf die imaginären Bretter legt, zum anderen, da es schlicht
und einfach wieder schön ist, meine besten Freunde um mich zu haben. Solch
selten gewordene Momente muss man einfach genießen.
„Du bleibst hier!“, jetzt spielt
Mark Quermanns Alte. „Es ist meine Kohle, die du in die beschissenen Automaten
steckst! Meine! Such dir endlich Arbeit, du faules Schwein. Dann kannst du in
die Spielothek gehen, soviel du eben willst.“
Dann wechselt er wieder um auf
Sascha Quermann: „Ach, halt ` s Maul! Kipp dir noch einen doppelten Klaren auf
die Lampe und halt die Fresse! Ich tu, was ich will!“
Mark dreht sich erneut mit dem
Stuhl diesmal beinahe um 360 Grad. Mir fällt vor lauter Lachen der Tabakbeutel
aus der Hand.
„...brechen...“, murmelt auf der
Fensterbank Rassel plötzlich in seinen nicht vorhandenen Bart.
„Heh?“, machen Mark und ich
gleichzeitig.
„...ekte Verbrechen...“
„Was? Wer ist ein Verbrecher?“, erkundige
ich mich.
„Quermann wahrscheinlich. Ein
Intelligenzverbrecher“, spricht Mark, worauf wir zwei laut lachen.
„Das perfekte Verbrechen“, brüllt
Rassel plötzlich los und zwar so heftig, dass wir zusammenfahren.
Wir sagen dazu nichts, was Rassel
anscheinend entgegenkommt. Majestätisch steigt er von der Fensterbank hinab und
fängt an damit, in meinem Zimmer auf und ab zu gehen.
„Ein perfektes Verbrechen; Opa
Rainhard kommt des nachts aus seiner Stammkneipe in Gadderbaum und geht durch
den Wald zurück nach Hause. Auf Höhe des Hexenhauses lauern wir ihm auf, packen
ihn und machen ihm den Garaus. Wenn das erledigt ist, ziehen wir ihn ins
Hexenhaus und verscharren seinen Kadaver unter Laub, Erde und Unrat. Es wird
Wochen dauern, bis sein Sohn da unten in Schloss Holte–Stukenbrock ihn zu
vermissen anfängt, und weitere Wochen, wenn nicht Monate, bis man seine Leiche
findet, wenn das überhaupt passiert. Nachts hält sich kein Schwein im Wald auf.
Eine todsichere Sache. Weiterhin wird die Kriminalpolizei keinerlei Motiv
finden. Der Fall Opa Rainhard wird also niemals gelöst werden“, doziert Rassel
und mir kommt es vor, wie er da so den Raum rauf und runter abschreitet, als
fühle sich Andre Faust tatsächlich wie ein berühmter Gastprofessor, der vor
einem überfüllten Hörsaal seine neusten Theorien mit Argumenten untermauert.
„Ach hör doch auf!“, widerspricht
Mark. „Heute werden doch fast alle Morde aufgeklärt. Allein wenn wir in den
Wald gehen würden, um Opa Rainhard dort abzupassen, würden uns beim Betreten
des Waldes die ersten Nachbarn von Jonas sehen. Wir sind hier in der Gegend
doch ziemlich bekannt. Es muss nur einer von diesen Spannern aus dem Fenster
gucken, während wir Richtung Wald gehen und schon ist es aus mit deiner Theorie
vom perfekten Verbrechen. Opa Rainhard geht immer freitags und samstags saufen.
Da ist es eher auszuschließen, dass man uns nicht sieht oder wir gar niemanden,
der uns kennt, über den Weg laufen. Das perfekte Verbrechen ist doch nur ein
Märchen und mehr nicht.“
„Ist es nicht. Ist es nicht“,
widerspricht Rassel eifrig beim Auf- und Abgehen. „Es erfordert lediglich eine
sorgfältige Planung, eine pedantische, stringente Vorbereitung und natürlich
eisenharte Disziplin.“
Rassel spricht leise, aber
bestimmend. Keine Frage, es macht Spaß, ihm zuzuhören.
„Du hast“, fährt Andre fort,
„natürlich Recht, Mark, wenn du sagst, dass uns hier jeder kennt und dass uns
bestimmt irgendwer sieht, wenn wir hier in der Gegend den Wald betreten.
Deshalb betreten wir den Wald auch komplett woanders. Am besten tun wir das an
der Sparrenburg und von dort wird sich dann über dunkle Schleichwege durch den
Wald nach Brackwede zurückgearbeitet direkt bis zum Hexenhaus.“
„Das ist aber ein langer Weg. Da
bist du am Ende doch viel zu erschöpft, um Opa Rainhard noch den Garaus machen
zu können“, witzele ich.
Ich sitze auf dem Teppich vor
meiner Stereoanlage und beobachte Rassel aus großen Augen.
„Spaß beiseite, Jonas. So kommt man
umher, gesehen zu werden. Und wenn uns auf der Sparrenburg–Promenade jemand
sieht? Na und. Sei es was drum. Die Leute werden uns zu neunundneunzig
prozentiger Wahrscheinlichkeit persönlich nicht kennen. Wir sind ihnen vorher
nie über den Weg gelaufen und werden es wahrscheinlich auch danach nicht. Wie
auch? Unsere schöne Stadt Bielefeld hat weit über dreihundertzwanzigtausend
Einwohner. Außerdem wird es zu diesem Zeitpunkt dunkel sein. Keine zehn Minuten
später werden die Passanten, die uns sahen, nicht mal mehr wissen, ob wir
Männlein oder Weiblein und ob wir zu dritt, viert oder zehnt gewesen sind“,
referiert Rassel weiter und langsam aber sicher macht sich eine unüberhörbare
Begeisterung in seiner Stimme breit.
„Aber mal angenommen, wir begegnen
auf der Sparrenburg-Promenade tatsächlich jemanden, der uns persönlich kennt“,
gibt Mark zu bedenken und mir fällt auf, dass in seiner Stimme nun eine
gehörige Portion Ernsthaftigkeit mitschwingt. „Du sagtest selbst, man müsse
alles sorgfältig planen. Da musst du diesen geringen Zufallsfaktor aber auch
auf deiner Rechnung haben.“
„Du hast vollkommen Recht, Mark. Die
Sparrenburg ist ein beliebter Ort zum Spazierengehen. Nicht auszuschließen,
dass man dabei eine Person oder mehrere Personen trifft, die einem bekannt
sind. Ich glaube allerdings persönlich nicht, dass diese Person uns nachher,
wenn man den alten Knacker gefunden hat, mit der Tat in Verbindung bringt. Denn
zu weit liegen die Orte Sparrenburg-Promenade und Hexenhaus auseinander. Aber
das ist lediglich eine rein persönlich Annahme und von daher muss in einem
solchen Fall die Devise gelten, sicher ist sicher. Da Opa Rainhard jedes
Wochenende saufen geht und man die Aktion also jederzeit wieder durchführen
kann, wird das Ganze abgebrochen, sollte uns auf der Promenade oder auch
nachher im Wald eine Person über den Weg laufen, die wir kennen.“
Dass Rassels Berichterstattung
fesselt, muss ich mittlerweile anstandslos einräumen.
„Wenn sie den Alten finden, wird
die Polizei sicherlich in der ganzen Gegend hier herumfragen und ein Motiv
suchen. Dabei werden sie bestimmt auch einen von uns fragen, wahrscheinlich
sogar uns alle drei“, gibt Mark zu bedenken.
„Na wenn schon“, greift Andre Faust
dieses Thema sogleich auf. „Wir sagen einfach, dass Opa Rainhard ein netter
Kerl war und dass wir uns überhaupt nicht vorstellen können, wer so etwas
Entsetzliches getan haben könnte. Also genau das gleiche, was alle anderen
Befragten aus dem Bezirk sagen werden. Wir tauchen in der breiten Masse unter.
Die gute, alte breite Masse, in der niemand ein Motiv hat.“
„Und wenn die Sache mit Försterfeld
ins Spiel kommt. Wenn diese Geschichte irgendwer anschneidet. Dann hätten wir
doch tatsächlich ein Motiv“, wird durch mich ein neuer Faktor ins Spiel
gebracht.
„Bis auf uns hat die Sache doch
schon längst jeder vergessen. Und wenn nicht. Scheiß was drauf. Försterfeld ist
doch nicht das Opfer. Es war damals eine Sache zwischen Försterfeld und uns.
Dass Opa Rainhard am Fenster geschaut und uns verpfiffen hat, weiß doch keine
Sau, zumal der Hurensohn Försterfeld immer nur von seinen anonymen Quellen
geplaudert hat. Ich denke schwerlich, dass uns wegen dieser Sache irgendeine
Sau auch nur irgendeine Minute mit dem Mord an Opa Rainhard in Verbindung bringt.
Da fällt eher ein Verdacht auf den widerwärtigen, fetten Pätti, der wegen der
Sache mit dem Moped einen Grund hätte, sich tatsächlich an Opa Rainhard zu
rächen. Denn dem Fettarsch haben die Bullen das Moped stillgelegt, nachdem Opa
Rainhard ihn angezeigt hatte. Und Försterfeld wird den Polizisten nicht mehr
weiterhelfen können, durch eine Aussage, dass Opa Rainhard ihm damals gesteckt
hat, dass wir das waren, denn der ist ja mit einem Herzanfall umgefallen und
gestorben. Auch seine Frau kann den Bullen nicht mehr weiterhelfen. Denn die
ist nach Försterfelds Tod zu ihrer Tochter nach Süddeutschland gezogen und hat
nun, wie wir ja durch Jonas Mutter wissen, Demenz. Also sind alle Personen, die
etwas von der Sache mit dem Auto wissen, aus dem Spiel. Glaubt mir, im Kopf
habe ich das perfekte Verbrechen schon mehrfach von vorne bis hinten
durchgespielt.“
„Halt, halt, halt!“, protestiere
ich umgehend. „Nehmen wir mal an, Pätti ist tatsächlich verdächtig und schafft
es schnell, sich durch ein Alibi dem Verdacht zu entziehen. Dann hat die
Polizei keine Person mit einem Motiv mehr und dementsprechend sind dann alle
verdächtig. Auch wir. Die Polente wird uns wie alle anderen fragen, was wir in
der Tatnacht gemacht haben. Denn ist Opa Rainhards Leiche erstmal gefunden,
kriegt die Kriminalpolizei schnell den Zeitpunkt des Todes heraus.“
„Dann sollen sie uns doch fragen. Wen
interessiert das? Wir sagen einfach, dass wir in der Innenstadt gewesen sind.
Im Brauhaus oder in einer anderen von diesen riesigen Kneipen. Oder, noch
besser, im PC69. Dort werden wird dann auch tatsächlich nach der Aktion
hingehen. Dann haben wir die Bullen nicht mal angelogen.“
Nun spricht Mark, der sich nicht
mehr mit meinem Bürosessel hin und her dreht, sondern Rassel wie hypnotisiert
anblickt: „Aber die Polizei wird doch ein genaues Zeitfenster haben. Deren
Pathologen können den Todeszeitpunkt fast auf die Minute bestimmen. Und genau
zu diesem Zeitpunkt sind wir dann eben leider nicht im Brauhaus oder sonst wo
in der Innenstadt gewesen.“
„Gehen wir von der Situation aus,
dass sie den Kadaver des alten Knackers etwa zwei Wochen nach der Tat finden.
Legen wir seinen Todeszeitpunkt hier mal fiktiv auf 1:23 Uhr am Sonntagmorgen
fest. Dann ist es nach vierzehn Tagen vollkommen uninteressant, wo wir zu
diesem Zeitpunkt tatsächlich gewesen sind. Kein Kellner eines solch
gigantischen Gastronomiebetriebes wie dem Brauhaus oder einer Disco wie dem
PC69 wird sich mehr erinnern können, ob wir tatsächlich in dieser Nacht dort
gewesen sind oder nicht. Selbst wenn er sich grob an unsere Gesichter erinnert,
wird ihm die Zeit wahrscheinlich vollkommen abgehen. Er wird der Polizei sagen,
die drei Typen können tatsächlich dagewesen sein, vielleicht war das um 21:00
Uhr, vielleicht aber auch um 03:00 Uhr. Doch er wird niemals, es sei denn er
hätte ein Computergedächtnis, genaue Zeitangaben machen können. So hat die
Polizei nur unsere Aussagen, in der wir uns gegenseitig ein Alibi geben. Im
Zweifel immer für den Angeklagten. Die ganze Sache steht auf solidem Fundament.
Außerdem glaube ich weiterhin fest daran, dass niemals ein Polizist an uns
wegen dieser Sache herantritt. Man wird uns gar nicht erst fragen“, erklärt
Rassel, der sich nun in einen wahren Rausch geredet hat. „Wir haben kein Motiv,
das ist schon mal die halbe Miete. Niemals ist irgendeiner von uns dreien,
selbst im schlimmsten Vollrausch nicht, durch irgendwelche Straftaten
aufgefallen und durch Gewaltverbrechen schon gar nicht. Den Jugendstreich mit dem
Auto lassen wir mal außen vor, das war ja keine Straftat in dem Sinn, was man
eigentlich unter einer Straftat versteht. Und polizeilich gemeldet hat diesen
Vorfall auch keine Sau. Wir tragen blütenweiße Westen vor unseren Brüsten her.
Wir sind ehrenwerte, junge Bürger dieser Stadt. Wir gehen wählen und arbeiten
ein jeder für sich zielstrebig an unseren Karrieren. Wir fallen dem Sozialstaat
nicht zur Last und sind zukünftige Großsteuerzahler. Niemand, keine Sau wird
uns verdächtigen.“
„Was ist mit den Spuren, die man am
Tatort zurücklässt? Die Bullen können doch mittlerweile fast alles zum Sprechen
bringen“, gibt Mark zu bedenken.
Rassel, der kleine Mensch, legt
seine Stirn in Falten. In dieser Geste erinnert er mich plötzlich an Doktor
Joseph Goebbels.
„Kein Problem", greift Faust
die Frage auf. „Das kriegen wir doch mit links auf die Reihe. Natürlichen ziehen
wir Handschuhe an. Die Schuhe, die wir tragen, werden auf dem Waldboden Spuren
hinterlassen, auch wenn ich nicht glaube, dass diese zum Zeitpunkt des
Leichenfundes noch auffindbar sein werden. Der Wald und das Wetter werden diese
Spuren innerhalb von kürzester Zeit wieder tilgen. Doch auch hier müssen wir
nach dem Motto, sicher ist sicher, handeln. Die Schuhe der Tatnacht werden
direkt im Anschluss an unser perfektes Verbrechen in irgendwelchen Mülleimern
in der Innenstadt verklappt. In Rucksäcken werden wir Ersatzschuhe mit uns
führen. Wichtig ist auch, dass uns der Alte nicht kratzt oder an den Haaren
zieht. Gewebefetzen oder Haarreste unter den Fingernägeln des Opfers, das ist
dann meist das sichere Todesurteil. Deshalb schlage ich an dieser Stelle vor,
dass wir bei der Ausführung alte Parka tragen werden. Am besten die, die man
bei der Bundeswehr ausgemustert hat. Auch die müssen wir dann anschließend
entsorgen. Bei einem Parka kann Opa Rainhard uns so viel kratzen, wie er will.
Wen juckt es? Latten! Und damit er uns nicht an den Haaren ziehen kann, dafür
sollten wir Kopftücher tragen zum Beispiel. So wie Little Steven.“
Mark und ich sind zutiefst
fasziniert.
Gleich des Messias, der aus den
himmlischen Sphären hinabsteigt, sehen wir den kleinen, jungen Mann aus großen
Augen an. So ungefähr muss es auch an jenem finsteren Tag im Sportpalast zu
Berlin gewesen sein, als die Menschen Goebbels in seinen totalen Krieg folgten.
„Womit gedenkst du, ihn
kaltzumachen?“, fragt Mark leise.
„Nun, er darf natürlich nicht
schreien. Deshalb würde ich vorschlagen, ihn zunächst mit einem Schlag auf den
Kopf ruhigzustellen. Dafür könnte man einen Hammer oder schlicht und einfach
den zurechtgesägten schweren Stil einer
Schaufel nehmen. Sowas in die Richtung. Der Rest kann dann ruckzuck mit einer
Klinge erledigt werden. Natürlich werden die Waffen später ebenfalls verklappt.
Am besten entsorgt man sie in irgendwelchen Gullys, so dass sie im Wasser der
Kanalisation versinken. Es ist immer von größter Wichtigkeit, wenn die
Tatwaffen nicht gefunden werden“, erklärt Rassel mit einem breiten Grinsen auf
seinem gnomenhaften Gesicht.
Kapitel 24
(Auf der Schiene im Sommer 2008) Weil
mir diese Art der Erinnerungen plötzlich zu gewaltig sind, öffne ich die Augen
und blicke hinaus.
Du dumme Sau, Twelker! Du wirst
dich heute noch an ganz andere Dinge erinnern müssen, die noch wesentlich
unschöner sind! Was bist du nur für ein Feigling?
Vor den Fenstern fliegt das
Hauptwerk der Firma Miele vorbei, was bedeutet, dass der ICE Gütersloh bereits
passiert hat.
Ostwestfalen empfängt mich in einem
strahlendschönen Abendlicht, keine
einzige Wolke steht am Himmel.
Der Zug rast durch den winzigen
Bahnhof von Isselhorst-Avenwedde und für den kurzen Augenblick weilen die
Gedanken bei Helge.
Ich stehe auf, schnappe meine
kleine Reisetasche aus der Ablage und begebe mich zu einer der Ausgangstüren.
Ab hier kann ich den Weg im Schlaf
aufzeichnen. Zunächst kommen die Teiche im Wald südlich von Brackwede. Der Zug
durchfährt meinen alten Heimatstadtteil, bevor er den Hauptbahnhof erreicht,
vorbei an Ikea und dessen gigantischer Parkhausanlage und dem nicht minder
gigantischen Stellplatz. Er passiert das Gleisdreieck, wo die Brackweder
Jahrmärkte stattfinden. Heute jedoch liegt es verwaist in der Abendsonne. Nun
gleitet der Bahnhof von Brackwede vorüber, vom dem aus, wenn der Zug hier
halten täte, ich zu Fuß bei meinen Eltern vorbeischauen oder all die Orte
meiner Kindheit und Jugend aufsuchen und dabei vielleicht gar ein paar alte
Bekannte treffen könnte. All das wird aber nicht geschehen.
Plötzlich erfasst mich wieder eine
tiefgehende Niedergeschlagenheit und erneut wünsche ich mir, Dileks Tavor
mitgenommen zu haben.
Herrje. Diese ständigen
Stimmungsschwankungen hauen selbst den stärksten Eskimo vom Schlitten.
Aber solltest du doch noch nach
Brackwede gelangen, vergiss nicht, dir das Hexenhaus anzusehen, mein Freund!
Während ein Stich in der
Magengegend mich beide Hände auf meinen Bauch legen und das Gesicht verzerren
lässt, zieht jenseits der Scheibe Oetkers Firmensitz vorbei und nun gelangt der
Zug in den Bereich der eigentlichen Innenstadt Bielefelds. Hoch oben auf einem
bewaldeten Berg erhebt sich die Sparrenburg, das gräuliche Wahrzeichen der
ostwestfälischen Metropole, auf deren rundem Bergfried die Stadtflagge schlaf
in der beinahe windstillen Luft hängt.
Wie wäre es mit einem kleinen
Spaziergang auf der Promenade und durch den Wald dahinter? Damit hast du doch
Erfahrung, Freund Twelker!
Damit die Schmerzen in meinem
Inneren und meine immer weiter steigende Kraftlosigkeit mich nicht in die Knie
zwingen, muss ich mich mit einer Hand am Fenster der Ausstiegstüre abstützen.
Der Zug rollt in den Hauptbahnhof
und nervös durch die Scheibe blinzelnd konzentriere ich bereits bei der
Einfahrt den Blick auf die Menschen auf dem Bahnsteig, kann aber keine Rassel
ähnliche Person ausmachen.
Sanft, es tut nur einen leichten
Ruck, kommt der ICE zum Anhalten.
Ich drücke auf einen grünen Knopf,
worauf die Tür zur Seite surrend aufschwenkt und man sofort die typischen
Geräusche eines Großstadtbahnhofs wahrnimmt; Mengengemurmel,
Lautsprecherdurchsagen, das Quietschen bremsender Züge auf den Nachbargleisen.
Da hast du wohl die Höllenpforte
geöffnet, mein Freund! Wo ist denn der dreiköpfige Höllenhund Kerberos, der
diese Pforte bewacht?
Ähnlich einem Hunde schüttele ich
mich nun kurz, als könnte ich dadurch die maternden Gedanken vertreiben, bevor
ein Schritt getan wird und meine Beine auf Heimatboden stehen.
Menschen, von hinten steigen sie
aus dem Zug, von vorne kommend drängen sie hinein, schwirren um mich herum. Ein
hektischer Dicker, der Aufkleber der Lufthansa auf seinem Rollkoffer kleben
hat, und der nach mir aus dem ICE stieg, drängelt sich so unverschämt dreist an
mir vorbei, dass ich einen harten Schlag
in den Rücken spüre und beinahe aus dem Gleichgewicht gerate.
„Ey, sonst geht ´ s dir danke oder
was, du fetter Arschwichser!“, rufe ich in meiner angespannten, gereizten
Grundstimmung.
Der Fettarsch dreht sich nicht mal
zu mir hin, hastet weiter davon, hält mich wohl für einen Sascha Quermann
gleichen Niemand.
Während der Express auf seiner
Reise in die Hauptstadt wieder in Bewegung kommt, warte ich darauf, dass sich
das Heckmeck um mich herum langsam beruhigt und schaue dabei nervös den
Bahnsteig hinauf und hinab; kein Andre Faust.
Vielleicht war ja doch nur alles
ein böser Traum und gleich wachst du auf und Dilek oder Franziska stellt dir
Frühstück ans Bett. Wäre das nicht toll, Freund Twelker?
Mein Blick wandert über das neue
Bahnhofsviertel hinter der Station.
Als ich noch zur Schule ging,
befand sich hier ein dreckiges Ödland; Schuttberge der neu entstehenden
U-Bahnlinie 4, der sogenannte Punker–Pavillon, ein Treffpunkt für Ostwestfalens
Junkies, schlammige Stellplätze, von denen der Autofahrer über eine Brücke in
die Innenstadt gelangte. Heute hingegen sieht das ganz anders aus; ein
Multiplexkino, trendige Bars und schicke Restaurants, eine Großraumdiskothek,
ein Erlebnisschwimmbad mit dem Flair aus Tausend und einer Nacht, riesige
Parkhäuser.
Erneut wandert mein Blick den
Bahnsteig rauf und runter. Schweiß steht auf meiner Stirn.
Auch nach den verstrichenen sechs
Jahren ist Andre Faust, der lächelnd und selbstbewussten Schrittes auf mich zu
kommt, noch immer unverkennbar. Er trägt Anzug, Hemd und Jackett wie eigentlich
sein ganzes Leben schon, jedenfalls jenes Leben, welches ich von ihm kenne.
Bereits aus der Distanz sieht man, dass die Zeit der Stangenprodukte vorüber
und sein Anzug eine individuelle Maßanfertigung aus London ist, die den kleinen
Mann ganz klar von den übrigen Menschen an diesem Orte abhebt. Wahrscheinlich
kostet der dunkelgraue Zwirn mit dem weißen Oberhemd und der tiefblauen
Krawatte, den er gerade am Leibe trägt, mehr als der gesamte Inhalt meines
Kleiderschrankes. Perfekt wurde sein Gesicht rasiert, das Haar streng nach
hinten frisiert und aufgeföhnt.
„Jonas, Mensch.“
„Andre.“
Wir nehmen einander in die Arme,
wobei ich teures After Shave riechen kann. Es ist eine herzliche Begrüßung, die
dafür sorgt, dass es mir sofort etwas besser geht.
Nachdem die Umarmung gelockert
wurde, stehen wir uns für eine kurz Weile gegenüber, halten uns bei den Armen
und mustern einander aufmerksam.
„Es ist lange her, dass wir uns
gesehen haben“, sage ich, weil mir gerade nichts Besseres einfällt.
„Verdammt lange. Beim letzten Mal
hattest du gerade erst mit deiner Doktorarbeit begonnen. Das war der Tag mit
dem unseligen Finale bei der WM in Japan und Südkorea. Mir war das Spiel
vollkommen egal. Ich wollte einfach nur mit einem guten Freund kräftig einen
bechern. Kannst du dich daran noch erinnern?“
„Oh ja“, sprudelt es sofort aus mir
hervor. „Das Spiel war nachmittags und wir hatten im Pendel am frühen Abend bereits
die Hucke ganz gewaltig voll. Irgendeiner von uns kam auf die Idee, noch mit
der Bahn in die Innenstadt zu fahren, um dort weiter zu trinken. Irgendwann
mitten in der Nacht habe ich dann meine Eltern aus dem Bett geklingelt, nachdem
ich versucht hatte, mit meinem Schlüssel aus Bonn die Haustür aufzuschließen.
Die waren gar nicht begeistert und meine Mutter zieht mich noch heute damit
auf.“
Wir lachen herzhaft und ausgelassen
für eine kleine Weile.
„Weißt du noch, als wir damals den
Whiskey bei dir plattgemacht haben, die ganze verfluchte Pulle und noch einen
Conti dazu, und ich bei euch in der Garagenzufahrt lag und gepennt habe? Darauf
spricht mich deine Mutter auch heute noch an, wenn ich sie denn mal beim
Marktkauf treffe“, bringt Rassel eine noch ältere Geschichte ins Spiel.
Wieder ertönt herzliches
Männergelache, das den Bahnsteig entlangschwebt.
Plötzlich krampft sich mein Magen
zusammen und die Realität kehrt äußerst brutal zurück.
„Schade nur, dass wir uns unter
diesen Umständen wiedersehen“, murmele ich.
„Es könnte in der Tat schönere
Gründe für ein Wiedersehen geben. Aber nun wollen wir mal den Hund nicht in der
Pfanne verrückt machen, Jonas. Ich habe bereits ein wenig, nun sagen wir es mal
so, ein wenig recherchieren lassen. Die Lage ist ernst, aber nicht außer
Kontrolle. Ich denke, wir werden das Kind schon schaukeln.“
„Echt?“, frage ich voller Hoffnung.
„Echt! Ich verspreche dir, dass
diese dumme Sache gedeichselt wird.“
Rassels gnomenhaftes Gesicht
strahlt pure Zuversicht aus, worauf mein Magen sich schlagartig entspannt.
Andre Faust präsentiert den Schlag Mensch, der sein Leben voll und ganz im
Griff hat, der mit nichts angefangen und alles erreicht hat; vom Tellerwäscher
zum Millionär, der real gewordene kapitalistische Traum, in dessen Verlauf der
Erlebende jedes Hindernis aus dem Weg räumen muss, um diesen Traum am Leben zu
halten. Wenn ein Mensch schwerwiegende, scheinbar unlösbare Probleme beseitigen
kann, dann zweifellos mein alter Freund Andre Faust, zu dem mein Vertrauen
aktuell nicht größer sein könnte.
„Mir geht es schon besser.“
„Wirklich?“, fragt Rassel und beugt
sich leicht zu mir vor.
„Hundertprozentig, Andre“,
versichere ich eifrig.
„Gut. So muss es sein. Es wird
alles erledigt, Jonas. Niemand wird mehr etwas davon hören. In einer Woche ist
alles vorbei, aus und erledigt. Dann kannst du den ganzen Scheiß vergessen oder
drüber lachen. Und nun komm! Oder willst du etwa diesen schönen Sommerabend auf
dem Bahnsteig verbringen?“
Unaufgefordert greift Rassel nach
meiner Reisetasche und marschiert in Richtung Rolltreppe.
„Die kann ich auch selber nehmen“,
protestiere ich.
„Nichts da! Du genießt sämtliche
Vorzüge meiner Gastfreundschaft.“
Nebeneinander gehen wir den
Bahnsteig entlang, fahren mit der Rolltreppe in den Bahnhof hinab. Früher, es
ist gefühlt eigentlich noch gar nicht solange her, haftete dem Bielefelder
Hauptbahnhof etwas Schäbiges, Versifftes an. Die Unterführungen stanken, man
sah Obdachlose und Junkies, die Toiletten wollte man erst gar nicht betreten.
Jetzt ist hier alles saniert, modernisiert und rein. Obdachlose und Junkies sind
verschwunden und die privaten Sicherheitskräfte der Bahn sorgen dafür, dass sie
niemals wiederkommen. Blaue, hippe Neonschrift, die auch für einen angesagten
Szeneclub werben könnte, macht auf die WC–Anlage aufmerksam, vor deren Zugang
eine Servicekraft in weißer Tracht sitzt und aus deren Inneren der Geruch von
Zitrusreiniger bis zu uns herüberdringt.
Wir treten auf den Bahnhofsvorplatz
und passieren die bronzenen Gedenktafeln für die Bielefelder Opfer des
Nationalsozialismus. Es musste, das blieb deutlich in meinem Gedächtnis hängen,
lange unter den Lokalpolitikern diskutiert werden, bis diese kleine Gedenkstätte
endlich stand.
„Da runter“, Rassel zeigt
geradeaus. „Ich stehe etwas weiter unten gegenüber von der Stadthalle.“
Linke Hand taucht der gläsern
überdachte Zugang hinab zur Stadtbahn auf, von wo mir klassische Musik
entgegenschalt. Im Laufen drehe ich den
Kopf und sehe, dass Lautsprecher von der Decke des Zugangs herabhängen, was bei
meinem letzten Besuch in Bielefeld ziemlich sicher noch nicht der Fall war.
„Was ist das?“, wende ich mich an
Rassel.
„Das ist klassische Musik“,
antwortet der mir grinsend.
„Mensch, darauf wäre ich von
alleine niemals gekommen. Ich meine, was soll das?“
„Damit wollen sie Obdachlose und
Junkies und Prostituierte von hier fernhalten. Oder wegen mir auch alle drei
Gruppen gleichzeitig. Die Stadtväter sind fest der Meinung, diese Art der Musik
täte solche Menschen verscheuchen. Wahrscheinlich glauben sie, dieser Schlag
Mensch sei zu dumm, diese Art von Musik zu begreifen und würde deshalb davor
Reißaus nehmen.“
„Kein Scheiß, Mann?“, frage ich
verwundert.
„Kein Scheiß, Jonas. Das ist die
reine Realität, die sich vor deinen unschuldigen Augen auftut. Wobei ich
persönlich mich bei Problemen mit Obdachlosen und Junkies, die hier ihrem
kriminellen Tun nachgehen, immer noch für Gummigeschosse und Knüppel entscheiden
würde.“
„Stimmt. Das ist wirkungsvoller als
Wolfang Amadeus Mozart oder Ludwig von Beethoven und dafür müssen auch keine
Steuergelder für das Anbringen und die Wartung von Lautsprecherboxen
aufgewendet werden. Wie lange haben die Politiker denn an diesem Schwachfug
herumdiskutiert, bis sie diese Idee in die Tat umgesetzt haben? Solange wie für
die Gedenkstätte?“
„Nein, nein. Das ging viel, viel
schneller. Erstaunlich schnell für Bielefelder Verhältnisse.“
Wir lachen, überqueren die Straße
und erreichen Andres Wagen.
Rassel fährt auch anno 2008 noch
immer BMW, allerdings kein kastanienbraunes gebrauchtes 3er-Coupe, sondern
einen nagelneuen Siebener in metallic schwarz; eine lange Limousine, die in der
goldenen Abendsonne funkelt und eigentlich viel zu groß für einen solch kleinen
Mann daherkommt. Meine Reisetasche verschwindet förmlich in dem riesigen
Kofferraum, dessen Deckel sich durch den Druck auf eine Fernbedienung
automatisch öffnen lässt.
Das Innere des Fahrzeugs bestimmen
feines Leder, Wurzelholz und Aluminium.
Als ich auf dem Beifahrersitz aus heller
Tierhaut Platz nehme, bin ich mir ziemlich sicher, selten zuvor in meinem Leben
so bequem gesessen zu haben.
Vorsichtig fährt Rassel rückwärts
aus der Parkbox und sortiert sich in den Verkehr ein. Während wir an der
nächsten roten Ampel warten müssen, macht sich Rassel an der Bedienungskonsole
zu schaffen. aktiviert die Audioanlange und Queen spielen in einer Qualität
vor, die in einem Konzerthaus nicht besser sein könnte.
Auf der Fahrt hinauf in den
Nobelvorort Hoberge, wo Rassel mittlerweile lebt, reden wir kaum, sondern
lauschen der Musik und ich beobachte aufmerksam, wie draußen Teile meiner alten
Heimat vorbeiziehen.
Rassels Haus liegt ein Stück
abseits von dem verschlafenen Ortskern Hoberges entfernt.
Der BMW passiert ein weißes Tor aus
Metall, welches Rassel per Fernbedienung öffnet und dessen Flügel langsam nach
hinten von der Straße weg aufschwenken. Schon auf der Fahrt über den privaten
gepflasterten Zufahrtsweg erkennt der Betrachter, dass es sich bei Andres
Domizil um keinen protziger Palast, sondern eine helle, dezente, doch
hochelegante Villa handelt, über deren Wert ich mir besser keine Gedanken
mache.
Mein Freund betätigt einen weiteren
Knopf auf seiner Fernbedienung und das Tor zu einer Doppelgarage rattert nach
oben.
Neben einem weißen Porsche 911
Turbo kommt der BMW zum Stehen und mein Gastgeber führt mich durch eine Tür in
der Rückwand der Garage in sein Haus, während sich das Tor hinter uns wieder
schließt.
Rassels Reich hat zwei Etagen,
einen Keller und wurde beinahe komplett mit Parkett ausgelegt. Nach einem
kurzen Rundgang führt er mich in ein Wohnzimmer, das sicherlich fünfzig
Quadratmeter groß sein mag. Es ist spartanisch eingerichtet; spartanisch teuer,
was selbst ein Möbellaie mit Grünem Star mühelos erkennen sollte. Da sind ein
helles Sofa mit dazu passenden Designersesseln, ein Sofatisch aus Mahagoni, ein
riesiger, megaflacher Fernseher von Samsung, eine elegante Essenskombination
etwas im abseits stehend, ein Bücherregal, in dem sich nur wenige Bücher befinden,
was mich ehrlich gesagt kaum wundert, denn nie war Rassel ein großer Leser.
Einen ganz eigenen Platz hat die Stereoanlage. Rassel hat sie auf einem
Designertischlein vor einem breiten Regal, welches vor CDs und Langspielplatten
überzuquellen droht, gleich einem Altar positioniert. Ebenfalls, meine Blicke
magisch anziehend, findet sich eine kleine Mahagoni Bar mit drei Hockern vor
dem Tresen und reichlich Flaschen erlesener Spirituosen in der verspiegelten
Ablage dahinter. Direkt neben der Theke führt eine große Glastür raus auf die
Veranda, deren Boden aus rötlichen Granitplatten besteht. Es gibt keinerlei
Bilder oder Zeichnungen an den makellos weißen Wänden, sieht man von dem
Gemälde einer nackten, üppigen Frau unter einem Apfelbaum ab, um deren rechtes
Bein sich eine tiefschwarze gigantische Schlange windet. Der Kopf des
schaurigen Tieres mit seinen rot funkelnden Augen zeigt in Richtung des
Oberkörpers der molligen Gemalten und es kommt mir vor, warum auch immer, als
suche die Schlange den Weg hinauf in die Vagina, gleichzeitig glaube ich im
Gesicht der Frau fleischliche Lust zu erkennen.
„Schön, was", sagt Rassel.
„Irgendwie bedrohlich und gruselig.
Aber irgendwie dann auch faszinierend. Nicht schlecht, mein Freund."
„Es heißt Unter Edens Baum
und ein befreundeter recht bekannter Künstler hat es für mich gemalt",
erklärt Andre.
„Es ist eine
Wunschanfertigung?"
„Ja, genau. Du weißt doch
spätestens seit Patricia, dass ich eine kleine Schwäche für mollige Damen der
Schöpfung besitze."
Wir lachen gemeinsam, bevor Rassel
mich mit einer einladenden Geste bittet, auf dem Sofa Platz zu nehmen.
„Willst du was trinken?“, fragt
Rassel, nachdem ich Platz genommen habe. „Wasser, Wodka, Whiskey, Bier oder sonst
was? Ich habe alles hier, was du dir wünschen kannst, und selbstverständlich
ist alles in ausreichenden Mengen vorhanden.“
„Ein Bier wäre Klasse.“
„Herforder oder Detmolder?“
„Herforder natürlich.“
Rassel verschwindet hinter der Bar,
öffnet etwas, vermutlich einen Kühlschrank, und kehrt mit zwei
Kondenswasserperlen benetzten Flaschen Bier zurück; ein Detmolder für sich, ein
Herforder für mich.
„Prost!“, ruft Andre Faust.
„Prost!“, rufe ich.
Die Flaschen klirren aneinander,
der Klang hallt von den weißen Wänden wider.
Rassel nimmt eine futuristisch
aussehende Fernbedienung, drückt einen Knopf darauf und schon fängt die
Stereoanlage Tom Petty and the Heartbreakers zu spielen an. Andre lässt sich
schwer in einen der beiden Sessel fallen.
„Wann kommt Mark?“, erkundige ich
mich.
„Er wollte gegen halb neun hier
sein. Spätestens um halb zehn.“
Solange bleibt also noch Zeit, bis
wir gezwungen sind, über diese eine Nacht im Sommer 1996 zu reden, über ein
Ereignis, das während all der Jahre erfolgreich in die absoluten Tiefen des
Bewusstseins verdrängt wurde und somit eigentlich gar nicht oder wenn lediglich
schattenhaft existent war. Bis, nun ja, bis diese Post ins Haus flatterte und
alles, aber auch wirklich alles veränderte.
„Hast du noch Kontakt zu Sven,
Thomas und so weiter?“, frage ich.
„Alle Angaben, die ich dazu machen
kann, sind in die Kategorie einzuordnen: Soweit ich weiß oder nach letztem
Stand. Eigentlich habe ich mit diesen Leuten kaum bis keinerlei Kontakt und
mein Wissen hier beruht auf zufälligen Begegnungen beim Einkaufen oder auf den
Aussagen dritter Personen.“
Wir lachen kurz über Rassels
theatralische Ausdrucksweise, bevor mein Freund fortfährt: „Thomas ist
verheiratet und wohnt jetzt irgendwo in einem Bauernhaus in Senne, das er
selber renoviert hat.“
„Kinder?“
„Nein. Die Frau ist wesentlich
älter als er, bereits 41 Jahre. Und da es bis jetzt nicht geklappt hat, ist die
biologische Uhr wohl abgelaufen. Doch, wie man hört, sollen sie auch so recht
glücklich sein. Thomas Freundin arbeitet bei Schüco als Sekretärin und Thomas
betreibt mit einem Freund im Internet so eine Seite für
Fantasyrollenspielefreaks. Da können die dann ihren Krempel bestellen. Er kann
von den Einnahmen wohl leben und soll
sehr mit sich und der Welt zufrieden sein."
„Hört sich doch ganz nett an. Was
macht Sven Vogel?“
„Sven treffe ich noch öfters in
Brackwede, wenn ich dort mal bin, um meine Mutter zu besuchen oder um einfach
nur die Hauptstraße rauf und runter zu laufen. Er hat wirklich eine beschissene
Zeit hinter sich. Du weißt, dass seine Mutter gestorben ist?“
„Ich weiß. Meine Mutter hat es mir
erzählt. Sie hat mich damals deswegen sogar extra angerufen“, erkläre ich.
"Krebs, nicht? Das war vor ein paar Jahren."
„Genau. Es war Lungenkrebs. Den Tod
seiner Mutter hat Sven aber kaum mitbekommen“, setzt Rassel seinen Bericht
fort. „Denn zu dieser Zeit war er bereits seit vielen Jahren Alkoholiker. Im
Moment ist er seit Frühjahr 2007 trocken. Ich habe ihn vor zwei Monaten
getroffen und wir sind einen Kaffee trinken gegangen. Da hat er mir seine ganze
Leidensgeschichte erzählt. Die ganze Scheiße mit der Alkoholsucht hat so
richtig im Jahr 1997 angefangen, als er von zu Hause ausgezogen war, obwohl er
schon vorher ernste Probleme mit dem Alkohol hatte. Er konnte zum Beispiel nie
aufhören mit dem Trinken. Wenn er ein Bier getrunken hatte, soff er weiter und
hat sich Oberkante, Unterkante abgedichtet. Dann ist er ausgezogen. Zuerst hat
er noch alles auf die Kette bekommen, Arbeit und so weiter. Er hat sich jeden
Abend schnell und bündig die Rübe zugezogen und ist pennen gegangen und war
dann morgens oder nachmittags, je nachdem, wann seine Schicht angefangen hat,
relativ fit. Doch dann hat er mehr und mehr die Kontrolle verloren. Er hat
angefangen, vor der Arbeit zu trinken. Immer eine Pulle Wein und so kam Sven
dann über den Tag.“
„Sven und Wein? Er hasst doch Wein.
Jedenfalls hat er das früher immer getan.“
„Auf den Geschmack kam es ihm schon
lange nicht mehr an. Er brauchte eben ein bestimmtes Quantum, um über den
verschissenen Arbeitstag zu kommen. Bier, so hat er mir erzählt, hat da einfach
nicht mehr funktioniert. Er hätte vor der Arbeit über zwei Liter saufen müssen,
um halbwegs normal durch den Tag zu kommen. Und da er gerade vor der
Frühschicht immer gehörig unter Zeitdruck stand, hätte er niemals so viel Bier
zu sich nehmen können. Deshalb hat er zum Wein gegriffen. Eine ganz
pragmatische Entscheidung.“
„Krass. Und dann hat er angefangen,
auch auf der Arbeit zu saufen?“, erkundige ich mich weiter.
Sven Vogels Schicksal
interessiert mich eigentlich überhaupt nicht! Es wäre mir vollkommen Latten,
wenn er sich bereits totgesoffen hätte! Ich will nur ein paar Elendsgeschichten
lauschen, um mich von meiner eigenen Situation ablenken zu lassen, solange es
eben möglich ist.
„Ganz genau. Irgendwann ging es
ganz einfach nicht mehr anders. Sven musste auch auf der Arbeit saufen. Er
sagte, er hätte eines Tages Schmerzen im Brustbereich und Kreislaufprobleme
bekommen, wenn er nicht mindestens alle zwei Stunden ins Glas gucken konnte.
Also hat er in der Firma Wodka gesoffen, den er in seinem Spind versteckt
hatte. Dahin ist er immer mal wieder gegangen, um sich zu stärken. So hat er es
selber genannt: Sich stärken. Den Alkoholgeruch hat er mit Fishermans
Friends–Pastillen und ab und an mit Knoblauchpillen, die er im Mund zerbissen
hat, übertüncht.“
„Du meine Güte! Alkoholismus macht
innovativ. Knoblauchpillen im Munde zerbeißen. Da muss
man erstmal drauf kommen. Doch
irgendwann haben sie ihn dann erwischt?“
„Ja. Dann ist er erwischt worden.
Der Schichtführer ist ihm nach in den Umkleideraum, nachdem einigen Kollegen
immer häufiger dieser penetrante Knoblauchgeruch oder Mintgeruch aufgefallen
war, der immer dann geherrscht hatte, wenn Sven aus der Umkleide zurückgekehrt
war. Er hat ihn auf frischer Tat ertappt.“
„Das bedeutet also, dass ihn die
eigenen Kollegen verpfiffen haben, nur weil er nach Knoblauch oder Minze roch?“
„Genauso ist es“, bestätigt Rassel
nickend.
„Das ist aber ziemlich link, einen
Alki, eine ganz arme Sau, so in die Pfanne zu hauen. Echt eine ganz miese
Tour.“
„Auf den ersten Blick ja. Aber Sven
hat gesagt, für ihn sei es wie eine himmlische Eingabe gewesen. Ohne diesen
Vorfall in der Firma hätte er sich wahrscheinlich totgesoffen.“
„Sie haben ihn also nicht abgemahnt
oder gar gefeuert?“
„Nein, nein. Im Gegenteil. Weil er
immer untadelig gearbeitet hatte, haben sie ihm Hilfe angeboten und Sven hat
diese Hilfe angenommen. Ihm ist klar geworden, dass es so nicht weitergehen
konnte. Er hat gemerkt, dass er am Ende ist, wenn er mit dem Trinken
weitermacht. Und so hat er sich in eine Suchtklinik einweisen lassen und hat
unter stationärer Aufsicht entzogen. Nach dem Entzug hat er eine längere
Therapie gemacht und so weiter und so weiter. Eben alles, was so dazu gehört“,
erzählt Andre Faust Sven Vogels Schicksal weiter.
„Und jetzt ist er trocken?“
Zur Bestätigung meiner Frage nickt
Rassel.
„Fällt es ihm schwer, trocken zu
bleiben?“
„Er sagt, dass es ihm nicht
besonders schwerfällt, weil er ohne das Saufen erst sieht, wie schön die Welt
doch sein kann und wie gut es einem gehen kann. Außerdem besucht er regelmäßig
die Treffen der Ortsgruppe der Anonymen Alkoholiker in Brackwede.“
Rassel trinkt sein Detmolder, ich
mein Herforder und das Heimatbier mundet mir mit jedem Schluck besser.
„Bei den AA. Über die habe ich aber
nicht nur Gutes gehört. Da hört man von sektenhaften Zügen“, gebe ich zu
bedenken.
„Das ist mir natürlich auch zu
Ohren gekommen und natürlich habe ich Sven drauf angesprochen. Sven meint, für
manche sei es überhaupt nichts, für andere dafür um so mehr. So wie für ihn.“
„Und mittlerweile ist Sven auch
wieder am Keulen?“
„Ja. Er wurde stufenweise in den
Beruf zurückintegriert. Jetzt arbeitet er wieder in Vollzeit“, erklärt Rassel.
„Nun muss er nur noch trocken
bleiben“, murmele ich vor mich hin.
Es ist mir immer noch vollkommen
egal, wenn Sven sich heute Nacht kaputttrinken würde im Rahmen eines Rückfalls,
solange nur der Kelch des Sommers 1996 an mir vorbeigeht und ich nie wieder
etwas von der Sache höre.
„Jetzt haben wir lange genug über
so ein Deprithema gesprochen", fahre ich fort. „Erzähl mir was nettes,
Andre. Erzähl mir von Madeleine. Was macht die?“
„Ach ja, Madi, die geile Sau“,
grinst Rassel. „Ihre kleine Schwester läuft mir manchmal im Marktkauf über den
Weg. Madeleine wohnt in der Nähe von Frankfurt am Main. Sie hat BWL studiert.
Dabei hat sie auch ihren Ehegatten kennengelernt. Unsere süße Madi ist bereits
seit einigen Jährchen verheiratet.“
„Ach herrje! Du solltest mir doch
was Erfreuliches erzählen und nicht, dass Madi geheiratet hat“, scherze ich und
Rassel lacht. „Hat sie Kinder?“
„Ihre Schwester hat mir jedenfalls
nichts von Kindern berichtet. Aber ich schätze, dass jeder Mann Madeleine wohl
gerne ein Kind machen würde.“
„Oh ja. Du sagst es, Andre.“
Rassel grinst mich breit an.
„Was interessierst du dich
eigentlich so für Madeleine? Hast du mir nicht am Telefon von so einer Dilek
berichtet, so eine adrette Deutschtürkin, die eine relativ erfolgreiche
Kritikerin sein soll?“
Auf einmal wird mir wieder elend
wie einem hungrigen Hunde.
Bringen wir heute keine Lösung des
Problems in die Welt, könnte sich die Sache mit Dilek schnell erledigt haben
und die mit Franziska ebenfalls, denn die flüchtigen sich bei einer solch
unangenehmen Sache zügig in die Arme anderer Männer.
„Sicher. Ich bin auch froh, dass
ich eine solche Frau habe. Sie ist toll.“
„Überzeugend klingt das allerdings
nicht, mein Freund“, bemerkt Rassel wie aus der Pistole geschossen.
„Es ist nur...nur wegen dieser
ganzen Situation. Scheiße, Mann! Ich habe echt Angst, dass ich eingelocht
werde. Und sie somit für immer verliere.“
„Sachte, sachte, Jonas Twelker.
Soweit ist es noch lange nicht und soweit wird es erst gar nicht kommen.“
„Ehrlich?“, frage ich fast flehend.
„Ganz ehrlich. Wart ´ s einfach ab.
Warte, bis Mark eintrifft.“
Ein wenig Linderung meiner
seelischen Schmerzen tritt ein, ähnlich, wie es vorhin am Bahnhof sich zutrug.
Trotzdem möchte ich vom Thema her möglichst schnell weg von Dilek.
„Hast du mal was von Helge gehört?“
„So um die Jahrtausendwende hat
auch Helge versucht, auf den Internetzug aufzuspringen. Er wollte Geld durch
das Besorgen und Verkaufen von Ersatzteilen für Autos machen und dafür mit
diversen Schrottplätzen zusammenarbeiten. ` ist ihm wohl nicht gelungen. Soweit
ich weiß, wohnt er heute in Gütersloh und arbeitet noch immer als
Industriemechaniker.“
„Ist auch besser für ihn. Er hat
gar nicht die geistigen Fähigkeiten, ein eigenes Geschäft aufzuziehen. Das soll
jetzt nicht abwertend klingen, aber nicht jeder kann selbstständig sein und
damit über die Runden kommen.“
„Ich sehe Helge auch besser
aufgehoben in einer Manufaktur und an der Werkbank“, stimmt Rassel mir zu.
„Letztens habe ich Brauni...“
Es klingelt an der Haustür, worauf
ich heftig erschrecke und auf dem Sofapolster zusammenfahre.
„Ruhig, Jonas. Es ist nur Mark.
Bleib einfach ganz locker, lehn dich zurück und trink dein Bier.“
Rassel drückt auf einen Knopf der
futuristischen Fernbedienung, von dem ich annehme, dass er das Eisentor am Fuße
der Zufahrt öffnet und tippelt auf kleinen Schuhen aus dem Wohnzimmer und zur
Haustür.
Aber es handelt sich nicht um Mark,
der draußen vor der Türe steht, sondern es ist eine Frau, welche ich eine überschwängliche
Begrüßung flöten höre.
„Ich habe dir doch gesagt, heute Abend
nicht“, meckert Rassel ohne Vorwarnung los.
„Ich wollte dich überraschen. Dir
eine Freude machen“, antwortet sie leidvoll.
„Du machst mir damit aber keine
Freude! Ich habe dir gesagt, dass ich dich heute nicht sehen will, weil ich
keine Zeit habe. Keine Zeit! Soll ich es dir buchstabieren? Z. E. I. T.! Und
nun verschwinde! Ich habe schwer zu schaffen. Denn im Gegensatz zu dir muss ich
ständig für meine Kohlen schuften.“
„Du bist ein herzloser Holzkopf!
Jawohl, ein herz...“
Man kann deutlich hören, wie Andre
die Haustür zuschlägt, bevor es ein zweites Mal zu läuten anfängt, worauf
wiederum einige Sekunden verstreichen.
„Hau ab!“, brüllt Rassel los und
ballert erneut die Tür zu.
Ein drittes Mal klingelt es nicht.
Rassel kommt ins Wohnzimmer
zurückgetippelt.
„Jesus, Maria und Joseph! Was war
denn da los?“, frage ich neugierig.
„Frauen, Jonas, Frauen. Oder
vielmehr Weiber!“, antwortet mein alter Freund.
Rassel geht hinter die Bar und
greift nach etwas.
Zum Vorschein kommt eine lange
Zigarre, die er mit einem flachen goldenen Feuerzeug entzündet, um endlich
genüsslich dran herumzupaffen. Irgendwie, es gibt da kein Vertun, wirkt der
kleine Mann lächerlich mit der riesigen Zigarre zwischen den Lippen.
„Willst du auch eine?“
„Nein, danke.“
„Es sind handgerollte kubanische
Zigarren. Allerbeste Qualität. Ich lasse sie extra einfliegen, weil mich nur
diese Sorte anmacht.“
„Besser nicht. Davon bekommen ich
Durchfall. Wer war das gerade, deine Freundin?“
„Freundin wäre übertrieben. Es ist
eine Frau, mit der ich hier und da was habe. Oder wir fliegen mal für ein
verlängertes Wochenende nach Gomera. Mehr stellt sie nicht dar. Von der Sorte
habe ich gleich drei Stück auf Lager. Du kannst mir gerne eine abkaufen. Der
Preis ist Verhandlungssache.“
Rassel wirft kurz seinen Kopf
zurück in den Nacken und lacht, ein, jedenfalls erscheint es mir so, dämonisches,
ein diabolisches Lachen.
Ich schaue Rassel genauer an. Er
hat sich auf einen der lederüberzogenen Hocker an der Bar gesetzt, das Gesicht
zu mir gewandt. Wie er da hockt, die Zigarre zwischen den Lippen, ist es schwer
vorstellbar, dass es gleich mehrere Frauen gibt, die sich so behandeln lassen
wie die Dame gerade vor der Haustür, nur damit sie ein paar schöne Stunden mit
ihm auf einer kanarischen Insel verleben können.
Es muss wohl alleine nur das
Geld sein, denn an der Optik kann es definitiv nicht liegen.
„Also gibt es bei dir nichts
Festes“, stelle ich mehr fest, als zu fragen.
„Ne, ne. Feste Frauen sind
Geldvernichtungsmaschinen. Da lebst du günstiger, wenn du regelmäßig in den
Puff gehst und dort deine Kohle verfickst. Diese Weisheit hat mir ein
Nachttaxifahrer gezwitschert. Die Typen, die des nachts mit dem Taxi unterwegs
sind, haben mehr Lebensweisheit zu bieten als sämtliche Philosophen zusammen.“
Wir lachen schwach und kurz. Rassel
leert sein Detmolder und rülpst.
„Sorry, Jonas. Meine Leber ist
hinüber, da passiert so etwas schon mal ungewollt. Ich genehmige mir noch eins.
Willst du auch noch ein Herforder?“
Mit einem Lachen kommentiere ich
Rassels Spruch und durch ein Nicken das Angebot auf eine zweite Runde Bier.
Als Rassel gerade hinter der Bar im
Kühlschrank kramen tut, klingelt es erneut an der Haustür.
Wieder betätigt Andre den Knopf auf
seiner Fernbedienung, bevor er schnell das Bier vor mich auf den Sofatisch
stellt und sich zur Haustür aufmacht.
Bei seiner Rückkehr geht Mark an
seiner Seite.
Mark besitzt noch immer Ähnlichkeit
mit dem Abbild eines Engels; ein Engel in Replay Blue Jeans und schwarzem
Lacoste-Polohemd. Sein blondes, leicht gelocktes Haar wurde durch etwas Gel in
Form gebracht, das Gesicht tadellos rasiert und der Oberkörper unter dem
Polohemd wirkt ziemlich muskulös, was auf regelmäßige Besuche im Fitnessstudio
schließen lässt. Aber all diese optische Perfektion kann die tiefen, dunklen
Schatten auf seinem Gesicht und die Angst in seinen Augen nicht verbergen.
Nachdem Mark mich gesehen hat,
gelingt es ihm jedoch, sich ein Lächeln abzuringen.
Ich stehe auf. Wir nehmen uns in
die Arme.
„Mark.“
„Jonas. Es ist lange her. Schön
dich zu sehen. Trotz der Umstände.“
Wir lockern die Umarmung, worauf
das kurze freudige Aufflackern in Marks Gesicht erlischt und wieder sämtliche
Sorgen darauf liegen.
Rassel tritt zwischen uns.
„Setz dich Mark! Setz dich! Jonas
und ich sind gerade dabei, über ein paar Leute von früher und über das Thema
Frauen zu reden. Willst du ein Bier?“
Mark schaut auf diesen Vorschlag
hin nicht sonderlich begeistert aus.
„Ich würde ja gerne mit euch ein
paar Bierchen zwitschern und über die alten Zeiten reden, aber danach stehen
mir heute echt nicht die Sinne. Wir sollten schleunigst zur Sache kommen. Wir
wissen doch alle, warum wir hier sind.“
„Aber ein Bier kannst du doch wohl
trinken“, beharrt Rassel auf seinem Angebot. Er kommt wie die Ruhe selbst rüber
und seine Gelassenheit kann nur bewundernswert genannt werden. „Immerhin hast
du daheim bei Sophia doch erzählst, du wolltest nach all der Zeit mal wieder in
Ruhe mit deinen alten Freunden quatschen.“
Mark und Sophia sind vor sechs
Jahren den Bund der Ehe eingegangen. Natürlich war auch ich auf die Feier
eingeladen, aber einer Exkursion in die Alpen wegen verhindert. Das
Einladungsschreiben erreichte mich damals noch in meiner Studentenbude in dem
Bonner Verbindungshaus. Jemand, ich denke Sophia unter zur Hilfenahme eines
Kalligraphie–Sets, hatte es mit breiter Feder auf dunkelblauem dickem Papier
verfasst. Damals wollte ich anrufen und gratulieren, überlegte es mir
allerdings anders und schrieb, um Sophia zu beweisen, dass auch ein Jonas
Twelker mit Tinte und Papier arbeiten kann, einen handschriftlichen Brief, ein
paar nette Worte und Zeilen; alles Gute und Liebe dem Brautpaar, eine goldene
Zukunft und viele glückliche Jahre für euch und so weiter und so fort. Im
Postskriptum, ja natürlich musste ich etwas in diese Richtung erstellen, wurde
meine Hoffnung ausgedrückt, dass man sich mal wiedersehe. Die Antwort kam
online, war kurz gehalten und stammte von Mark. Danke für die netten Wünschen.
Sicher könne man sich mal wieder treffen, wenn sich die Gelegenheit dazu böte.
Ein Treffen gab es allerdings nie
und, es mag komisch klingen, so richtig traurig war sicherlich keiner darüber.
Zum einen weil Mark genau wusste (und weiß), dass ich Sophia nicht leiden kann,
zum anderen hatten wir uns zu diesem Zeitpunkt schon im wahrsten Sinne des
Wortes auseinandergelebt; meine Person am Rhein mit einem komplett neuen
Freundeskreis und akademischen Herausforderungen und Mark in Bielefeld als
junger Beamter mit ehrgeizigen Zielen innerhalb des Finanzapparats. Später, vor
zwei oder drei Jahren, kamen dann bei Mark und Sophia noch die Kinder ins
Spiel. Sophia schenkte ihrem Gatten Zwillinge, die die Namen Helena und
Johannes-Paul tragen. Mit dem Wissen, dass Sophia eine gute Katholikin verkörpert,
fällt es nicht schwer, zu verstehen, wer für diese Namen verantwortlich
zeichnete, wobei Johannes-Paul hier keiner näheren Erörterung bedarf und
Helena, da würde ich vieles drauf wetten, mit Sicherheit der Name irgendeiner
Heiligen ist. All das bekam ich ebenso wie Rassels kometenhaften Aufstieg innerhalb
der ostwestfälischen Unternehmerszene nur am Rande und zumeist durch Telefonate
mit meiner Mutter mit.
So lebte ein Jeder von uns in
seiner eigenen Welt und wahrscheinlich waren die Geschehnisse in der Nacht Ende
Juni 1996 noch viel ausschlaggebender als die eben erwähnten Gründe dafür, dass
es zu keinem Treffen mehr kam. Wir gingen uns insgeheim aus dem Weg, weil eine
Begegnung nur unnötige böse Erinnerungen nach oben gespült hätte.
Heute allerdings werdet ihr um
unangenehme Erinnerungen nicht umherkommen!
„Ich bin mit dem Wagen hier. Ich
muss noch fahren“, lehnt Mark Rassel Angebot erneut ab.
Rassel grinst und lässt nicht
locker.
„Ein Bier macht dich nicht
fahruntüchtig. Selbst in der heutigen Zeit nicht.“
„Ich weiß. Aber wenn dir einer
hinten drauf knallt, ist es vollkommen egal, ob du wenig getrunken hast. Hast
du auch nur den Hauch von Alkohol im Blut, bist du immer der Gearschte“, hält
Mark eisern dagegen.
„Nun gut. Dann spendiere ich dir
eben ein Taxi nach Hause. Dann kannst du sogar mehr als ein Bier trinken. Dann
kannst du wegen mir die ganze Bar wegtrinken“, weitet Rassel sein Angebot aus.
„Sophia braucht morgen den Wagen.
Sie muss die Kinder in den Kindergarten bringen und zum Einkaufen fahren. Dafür
reicht der Zweitwagen nicht, weil der keine Kindersitze hat. Außerdem finde
ich, dass das hier nicht gerade der richtige Anlass ist, sich Bier auf die
Lampe zu schütten und einen auf Wiedersehenstreffen zu machen. Die Lage ist
ernst, todernst. Wir sollten schleunigst auf den Punkt kommen und uns
überlegen, was wir jetzt machen. Aber wenn du vielleicht bitte ein Wasser für
mich hättest“, lässt Mark nicht von seinem Weg ab.
„Mit Kohlensäure oder ohne?“, gibt
Rassel nach.
„Mit bitte.“
Andre geht hinter die Bar und kehrt
mit einer kleinen dekorativen Glasflasche und einem nicht minder schicken Glas
zurück, welche er ordentlich auf den Sofatisch stellt.
„Na dann setz dich mal, Mark und
wir können mit dem Reden anfangen“, fordert Rassel ihn auf.
Mark setzt sich zu mir aufs Sofa,
während Rassel einen der Sessel so rückt, dass wir uns genau in seinem
Blickfeld befinden.
„Kannst du bitte dafür sorgen, dass
die Musik aus ist. Nichts gegen deinen Geschmack, aber ich bin wirklich nicht
in der Stimmung, wie auf einer Party Musik zu hören, während wir diese ganze
verfluchte Scheiße wieder aufwärmen müssen.“
Die Worte verfluchte und Scheiße
spuckt Mark Wenzel förmlich aus.
Rassel zuckt die Achseln, dann
greift er nach der ultraflachen Fernbedienung und die Stereoanlage, die
mittlerweile Huey Lewis and The News spielt, verstummt.
Bisher kam es mir immer so vor, als
sei ich die unsteigerbare Form der Angst. Mark jedoch hat es noch viel, viel
arger erwischt. Er zittert am ganzen Körper, ein dünner Schweißfilm steht auf
seiner Stirn und sein Blick wandert stets nervös von rechts nach links und von
links nach rechts. Sein Teint ist seit seiner Ankunft in diesem Raum mit jeder
Minute käsiger geworden.
„Verdammte Tat! Wie konnte das nur
passieren? Was war damals bloß in mich, beziehungsweise in uns gefahren? Wie
konnten wir sowas nur tun?“, murmelt er vor sich hin.
Jahrelang habe ich diese Fragen
verdrängt, sie mir niemals aufrichtig gestellt. Wozu auch? Die Sache mit Opa
Rainhard war ein Experiment oder wegen mir auch ein Unfall, von dem man nie
wieder etwas hören würde.
„Ich denke, die Antwort darauf ist
nun vollkommen unwichtig. Wir müssen nur noch sehen, wie wir diese Sache ein
für alle Mal beenden können“, spricht Rassel.
Automatisch hat sich ein Jeder
irgendeinen Punkt in dem großen Raum gesucht, den er immer wieder anfixiert. Ob
wir wollen oder nicht, unsere Gehirne kommen in Fahrt und mit ihnen die
Erinnerungen an jenen Sommer im Jahre des Herrn 1996. Wir denken alle dasselbe,
wenn auch jeder auf seine ganz eigene Art und Weise.
Teil II
Die Tat
„John stieg aus dem Auto aus,
und ich hörte diese Stimme, die sagte: 'Tu es, tu es, tu es.' Wahrscheinlich
war es meine eigene Stimme."
Mark
David Chapman
Kapitel 25
(Halle in Westfalen im frühen
Sommer 1996) Tief unter uns ertönt mit einem schrillen, an die Schmerzgrenze
gehenden Ton die Sirene, welche die Arbeiter des Steinbruchs in ihr
wohlverdientes Wochenende entlässt. Hoch über ihnen auf der Kante öffne ich
mein zweites Herforder–Pils.
Mein Abitur wurde mit dem äußerst
zufriedenstellenden Notendurchschnitt von 1,5 bestanden, was bedeutet, dass
sogar ein Medizinstudium im Bereich des Möglichen läge, damit ich in die
Fußstapfen meines werten Herrn Vaters treten könnte. Allerdings ist meine
Entscheidung für den Studiengang Biologie und den Universitätsstandort in der
Nochhauptstadt Bonn längst gefallen, so dass der Sohn endlich auf den Spuren
der Frau Mutter wandelt. Doch bevor die schönste Zeit des Lebens, das Dasein
als Student in einer fremden Stadt beginnt, gilt es eine letzte Hürde zu überwinden.
Gute drei Wochen bleiben noch, bis ich bei der Bundeswehr anrücke. Der
Einberufungsbescheid flatterte per Einschreiben ins Haus und besagt gnadenlos,
dass ein gewisser Zivilist Jonas Twelker sich am 01. Juli 1996 bis spätestens
18:00 Uhr im münsterländischen Coesfeld bei der Ausbildungskompanie eines
Instandsetzungsbataillon melden muss. Zehn Monate werden dann vor mir liegen,
die unter dem Motto stehen, Augen zu und durch, denn danach wartet das süße
Leben, das wahre Leben.
Rassel darf sich fertiger
Bankkaufmann nennen, gehörte in seinem Ausbildungsjahrgang gar zu den drei
besten Absolventen in Nordrhein–Westfalen. Weiterhin arbeitetet Andre hart an
seiner großen Karriere, indem er tagsüber für die Bank schafft und abends daheim
über den Büchern für sein Fernstudium in Informatik und
Betriebswirtschaftslehre brütet. Nachdem die Deutschen Bank ihn fest
eingestellt hatte, zog er bei seiner Mutter aus und suchte sich eine adrette
Wohnung an der Hauptstraße von Brackwede und selbstverständlich musste zu
diesem feierlichen Anlass eine neue Karosse her. Andre Faust ist nun stolzer
Besitzer eines BMW, der erst dreieinhalb Jahre und lediglich vierzigtausend
Kilometer auf dem Buckel hat; ein karminrotes Coupe der 3er Reihe, dem fast
zweihundert Pferdestärken innewohnen.
Marks Zivildienst wurde nach Ablauf
der Pflichtzeit beendet, worüber sich unser werter Herr Wenzel diebisch freute.
Nun müsse eine andere arme Sau die
Zombies aus Bethel durch die Gegend kutschieren, waren seine erste Worte zu
diesem beendeten Lebensabschnitt gewesen, bevor er sich genüsslich eine Dose
Herforder aufriss.
Zum Herbst hin wird er in einem
dualen Studiengang die schwere Ausbildung zum Diplom Finanzwirt (FH) antreten. Dass dieses die Erfüllung seines
finalen Traumes darstellt, kann nicht gerade behauptet werden, aber sein Vater
wollte und will es so und, was Rassel und ich stark vermuten, ist, dass Sophia
Wehmeyer ebenfalls hinter einer solch gehobenen bürgerlichen Ausbildung steht.
Ja, die zwei Turteltauben vom
Grillplatz, dort wo alles begann, sind immer noch in glücklicher Zweisamkeit
vereint und Rassel und ich können froh sein, dass Mark es heute geschafft hat,
sich für ein paar Stunden abzuseilen.
Wir sitzen also auf dem Baumstamm
in der Nähe der Aufschlusskante, trinken Bier und Pepsi und genießen das schöne
Wetter, von dem es in diesem Frühjahr und Sommer bislang leider viel zu wenig
gab.
„Tja, Jonas. Noch etwas mehr als
vierzehn Tage und dann bist du weg. Antreten beim Bund. Ich bin ja mal
gespannt, wie du in deiner Paradeuniform aussehen wirst“, sagt Rassel mit einem
breiten Grinsen auf dem Gesicht.
Der kleine Mann trinkt einen
Schluck von seinem Bier, stellt die Falsche vor den Baumstamm ins Gras und
zündet sich eine Marlboro an. Sichtbar genussvoll inhaliert er und pustet den
Rauch in Richtung Mark, der mit dem Nichtrauchen beinahe ein Jahr durchhält;
etwas weniger an Zeit, als Sophia und er nun ein Paar sind.
„Na wie sieht es aus, willst du eine quarzen?“, fragt Rassel grinsend in
Marks Richtung.
Rassel versucht immer wieder, ihn
durch verführerische Angebote weich zu kochen, damit er wieder zur Kippe
greift. Doch Mark bleibt eisern, lehnt auch diesmal mit einem Zuckerlächeln ab
und so greife ich zur Schachtel und genehmige mir eine Zigarette.
„Ich bin wenigstens kein
Vaterlandsverräter, so wie ihr beiden es seid“, erkläre ich.
Unabhängig voneinander tönen Andre
und Mark: „Jawohl, Herr General!“
Wir lachen alle drei.
„Jetzt mal ernsthaft“, fahre ich
fort. „Es sind tatsächlich keine drei Wochen mehr. Bis dahin werden wir es wohl
unter übel noch ein paar Male richtig krachen lassen. Dazu läuft noch die EM in
England. Du wirst deinen Durst echt steigern müssen, Mark. Dann kannst du mir
nicht wie heute mit Fahren müssen und Pepsi kommen.“
Wieder lachen drei junge Männer und
ihr Lachen schwebt über die Steinbruchkante.
Plötzlich, von einer Sekunde auf
die nächste, legt Rassel eine sehr ernst wirkende Miene auf, wobei er wirkt wie
eine Mischung aus Zirkusclown und Wahnsinniger.
„Wir werden es krachen lassen“,
sagt er leise und eindringlich. „Richtig krachen lassen. Im PC 69. Nachdem wir
den alten, versoffenen Arsch kaltgemacht haben.“
„Davon kriegst du wohl nicht genug,
Mann“, stellt Mark lächelnd fest, während er die Rauchwölkchen, die Rassel zu
ihm herübergepustet hat, mit der flachen Hand bei Seite fächert. „Wird dir der
Scherz nicht irgendwann einmal langweilig?“
Rassels Blick verfinstert sich.
„Ich meine es so ernst wie nie,
mein Freund. Ich meine es so ernst wie nie. Das hat überhaupt nichts mit
Langeweile zu tun. Es ist ein ernsthaftes Unternehmen. Ein dreckiger Job, der
getan werden muss“, lautet seine Antwort.
Auf welch schmalen Grad zwischen
Normalität und Wahnsinn wandelt Andre Faust? Kann es sein, dass ihm diese fixe
Idee, einen alten, alkoholkranken Mann zu massakrieren, tatsächlich ernst ist?
„Ach, komm!“, spreche ich mit
schnippischen Unterton. „Davon erzählen und sich geniale Pläne über das
sogenannte perfekte Verbrechen auszudenken, sind eine Sache. Aber den Plan
dann, wenn du Opa Rainhard Auge in Auge im Wald gegenüberstehst, in die Tat umzusetzen,
ist wieder eine ganz, ganz andere Hausnummer.“
„Ihr wette um alles, was ich habe,
dass ich den alten Sack kaltmache. Und ihr könnt es auch“, erklärt Rassel
leise.
„Das ist nicht so, wie eine Mücke
zu zerschlagen oder einen Vogel mit dem Luftgewehr vom Baum zu schießen. Wir
sprechen hier von einem Menschen. Sicherlich kannst du dich nachts im Wald an
Opa Rainhard heranschleichen und wenn du besoffen genug bist, schaffst du es
vielleicht, dich zu überwinden, ihm auf die Fresse zu hauen oder mit einem
Arschtritt ins Unterholz zu befördern. Aber umbringen? Nein, das glaube ich
nicht. Bei jedem von uns wird sich automatisch so eine Art Blockade einstellen.
Schließlich sind wir ja keine Tiere oder durchgeknallte Soziopathen“, erkläre
ich und schnippe die Zigarette über die Steinbruchkante.
Mark signalisiert Zustimmung durch
ein Kopfnicken und starrt dezent, aber dennoch sichtbar sehnsuchtsvoll auf die
Schachtel Marlboro neben Rassel auf dem Baumstumpf.
„In jedem von uns steckt ein Tier.
Es wartet nur darauf, dass man es loslässt. Was meint ihr, was das für ein
Machtgefühl ist, wenn man einen Menschen umlegt? Das kommt besser als jeder
Drogenkick und jeder Orgasmus. Hundertprozentig“, erklärt Rassel leise und
ruhig.
„Vielleicht hast du damit recht,
Andre. Vielleicht bekommt man davon einen unglaublichen Kick, der
seinesgleichen sucht. Man denke da nur an Brot und Spiele im alten Rom, daran,
wie Gladiatoren und Zuschauer abgegangen sind. Doch was ist mit dem Gewissen?
Was ist nach der Tat, wenn dir genau bewusst wird, was du getan hast?“, gibt
Mark zu bedenken.
„Ach was. Das mit dem Gewissen ist
doch Kokolores. Ein Gewissen kann man ausschalten und zum Schweigen bringen.
Was ist denn mit den Mafiapaten? Die lassen hunderte von Menschen durch
Fingerschnippen aus dem Weg räumen und genießen ihr Leben weiterhin in vollen
Zügen. Oder die SS–Männer. Hat die nach dem Kriege irgendeines ihrer Verbrechen
gereut? Ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Sie haben schön ihre
Kameradentreffen abgehalten, sich betrunken, alte Lieder gesungen und sich auch
nach dem Krieg wie die Herren der Welt gefühlt. Meint ihr, die haben auch nur
eine Sekunde an irgendeine Oma gedacht, die sie in die Gaskammer getreten
haben? Nein! Die haben ihre Taten später kräftig gefeiert. Oder die Besatzungen
von den Flugzeugen, die die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geworfen
haben? Zweihunderttausend Menschen auf einen Streich fritten, verdammte Tat!
Hat die was gereut? Ich habe letztens noch ein Interview mit einem von der
Besatzung gesehen. Der Typ war sogar stolz drauf“, redet Rassel mit einem
Leuchten in den Augen.
„Es habe aber auch von
Besatzungsmitgliedern der Bomber gelesen, denen es danach gar nicht gut ging. Die
haben danach wohl kein richtiges Leben mehr leben können“, hält Mark dagegen.
„Und außerdem, die meisten
Menschen, die du in deinen Beispielen genannt hast, können ihr Gewissen dadurch
beruhigen, dass sie sagen, wir waren Soldaten. Die Befehle kamen von oben und
als Soldat hat man sie nicht zu hinterfragen“, halte ich dagegen.
„Auf Befehlsnotstand haben die sich
nur rausgeredet, wenn sie vor irgendeinem Gericht standen oder Interviews
gegeben haben. In ihrem Inneren haben sie ihre Gräueltaten genossen. Jonas, du
hast mir selber erzählt, wie du als Kind mitbekommen hast, wenn Försterfeld seine
Kameradentreffen mit seinen alten SS-Freunden gefeiert hat und wie sie dabei
die Lieder von damals gesungen haben. Du hast gesagt, die haben so laut
gesungen, dass du es nachts in deinem Zimmer hören konntest. Meinst du, die hat
irgendwas gereut? Einen Scheiß hat die irgendwas“, gibt Rassel sich nicht
geschlagen.
„Aber unterbewusst konnten sie sich
immer einreden, wenn das schlechte Gewissen kam, ich war Soldat und habe nur
Befehle befolgt. Und das werden die sicherlich auch so gemacht haben“, sagt
Mark.
„So ist es nicht. Du denkst falsch.
Gehen wir mal eine Etage höher. Der Präsident, der die Atombombenabwürfe
angeordnet hat, den hat nichts gereut. Oder die Spitzen-Nazis, die in Nürnberg
vor Gericht standen. Keine Anzeichen der Reue, keine Andeutung einer
Entschuldigung. Diese Menschen waren vollkommen mit sich im Reinen. Und warum?
Weil sie wussten, wie geil es ist, dem inneren Tier zu folgen und ihm freie
Bahn zu lassen“, argumentiert Rassel. „Weil sie wussten, dass sie zu den
Menschen gehörten, die es gewagt hatten, diesem ganz natürlichen Trieb
nachzugeben. Und dabei haben sie noch nicht mal selbst Hand angelegt, sondern
sich nur die Art und Weise des Mordens erdacht und umsetzen lassen. Der Mensch
ist kein von Natur aus gutes Wesen. Und gibt man sich dem hin, erlangt man eine
neue Stufe der Erfüllung.“
„Okay. Wegen mir. Dann hat es also
diese Menschen, die du eben aufgezählt hast, nicht gereut. Aber ich glaube, ich
hätte mehr als ein schlechtes Gewissen, wenn ich den armen Opa Rainhard einfach
so umlegen würde. Es wäre so sinnlos“, argumentiert Mark.
„Sinnlos wäre es ja keineswegs. Der
alte Arsch hat uns ans Messer geliefert und es wäre nur die gerechte Rache für
seinen widerwärtigen Verrat. Aber es geht hier auch um noch etwas anderes. Es
geht um den Kick. Darum, die Bestie, die in jedem Menschen schlummert, sich
einfach entfalten zu lassen. Dieses unglaubliche Gefühl, Herr über Leben und
Tod zu sein. Wahrscheinlich haben wir es dabei mit der totalen Erfüllung zu
tun. Jeder Mensch sollte das einmal erlebt haben. Und der Zeitpunkt könnte kaum
besser sein, um dieses Erlebnis zu suchen. Lassen wir die angekettete Bestie
frei und bringen unseren Geist dadurch auf eine andere Ebene. Wer wünscht sich
nicht unterbewusst, genau das zu tun. Denkt immer an die angekettete, wilde
Bestie und das Potential, welches in uns schlummert“, spricht Rassel ruhig und
sachlich.
„Du bist verdreht. Total verrückt“,
antwortet Mark, aber recht überzeugt von seinen Worten, klingt er dabei nicht.
Auf eine gewisse Art und Weise
besitzt Rassels Gerede, so schlimm sich das anhört, einen wahren Kern. Ich
jedenfalls habe schon häufig in meinem Leben daran gedacht, die innere Bestie
von der Kette zu lassen. Ich redete niemals mit anderen Menschen über diese
Gedanken aus Angst, man könne mich für einen Psychopathen halten, aber
Gewaltphantasien tauchten immer wieder auf, mal von intensiver, mal von weniger
intensiver Natur. Mich fröstelt es trotz des sonnigen Wetters.
„Das mit dem Wunsch, die Bestie von
der Kette zu lassen, kann ich nur bestätigen“, wird es kleinlaut durch mich
eingeräumt und innerlich die Frage gestellt, warum ich ausgerechnet jetzt
darüber reden will.
Wäre es nicht besser, einfach
den Mund zu halten und das Thema am langen Arm verhungern zu lassen?
„In der fünften und sechsten Klasse
gab es einen Physiklehrer, der es auf mich abgesehen hatte. Er hat mich am
laufenden Band gedemütigt. Mensch, was habe ich mir gewünscht, diesen Kerl
langsam und qualvoll umzubringen.“
Der Name dieses Lehrers lautete
Manfred Ellermann, ein Hurensohn der ersten Kategorie. Jonas Twelker war damals
ein nervöser, ängstlicher Knabe, verspielt und mit dem Hang, im Unterricht zu
träumen. Wenn mir ein Fach also keinen Spaß machte, wurden einfach die inneren
Augen geöffnet und sich ins Wunderland geträumt. Gerade in Physik kam das
häufiger vor. Als Ellermann merkte, was für ein Träumer dort unter seinen
Eleven saß, beschloss er, mich zum Arbeiten zu motivieren, wofür der
Mutterficker seine ganz eigenen Methoden besaß. Immer nahm er mich
unaufgefordert dran und da ich fast niemals eine richtige Antwort auf die Kette
bekam, machte er es sich zum Vergnügen, lächelnd vor versammelter Klasse eine
Fünf oder eine Sechs in seinen roten Lehrerkalender einzutragen. Damit hörten
die Demütigungen allerdings noch lange nicht auf. Häufig kommentierte er meine
falschen Antworten durch Sprüche wie diese: „Falsch, falscher geht es nicht. Da
habe ich schon von meinen Turnschuhen bessere Antworten gehört“, und: „Leider
daneben getippt, Herr Twelker. Soweit daneben, dass man es nicht mehr in
Kilometern messen kann. Dafür braucht man als Maßeinheit schon Lichtjahre.“
Viele Mitschüler aus der Klasse
lachten, sie lachten mich aus und ich wünschte mir in jenen Momenten nichts
sehnlicher, als dass Ellermann auf dem Heimweg ein Kampfpanzer plattwalzen
täte. Statt eines Todes unter Ketten für ihn gab es leider weitere Demütigungen
für mich. An einem Tag vergaß ich meine Hausaufgaben. Sie waren mir schlicht
und einfach entfallen. Ein Klassenkamerad machte mich drauf aufmerksam und
einer Panik nahe versuchte ich, diese Hausaufgaben während der Physikstunde
unauffällig abzuschreiben, bevor Ellermann anfing, diese zu kontrollieren.
Natürlich wurde der Lehrer auf die Aktion aufmerksam. Mit wenigen Schritten war
er an meinem Platz, nahm mir das Hausaufgabenheft weg und verrieb die blaue
Tinte, dort wo sie noch nicht ins Papier getrocknet war, mit seinen Fingern zu
einem unleserlichen Geschmiere. Dann hielt er das Heft in die Höhe, so dass die
ganze Klasse es sehen konnte.
„Jonas zeigt uns heute, wie man
seine Hausaufgaben in keinem Fall machen sollte. Nämlich vor meiner Nase und
während der laufenden Schulstunde. Ich kann nur hoffen, dass soviel Idiotie
nicht ansteckend auf den Rest der Klasse wirkt.“
Er knallte das Heft auf meinen
Tisch.
„Jonas, Jonas!“, sprach er
herablassend. „Ich glaube, ich werde wohl einen netten, kleinen Brief an deine
Eltern schreiben müssen. Es tut mir ja leid, aber du musst es eben lernen und
anders kriegt man es wohl nicht in deinen Kopf rein. Wie gesagt, es tut mir ja
leid. Es ist nur zu deinem Besten.“
Nichts tat diesem gottverdammten
Hurensohn leid. Er tat das nur aus der Freude heraus, andere Menschen zu
demütigen. In diesem Moment stellte ich mir vor, dass ihm von mir mit einem
Baseballschläger die hässliche Rübe zu Mus geprügelt wurde. Dass ich ihn mit
einer Motorsäge die Gliedmaßen abtrennte und seinen Torso anschließend mit
Benzin überkippte und in Brand setzte. Das Verlangen, diesem Menschen massive
Gewalt anzutun, loderte so stark in mir, dass ich mich mit beiden Händen in die
Sitzfläche meines Stuhls krallte.
Jetzt, obgleich beinahe neun Jahre
verstrichen sind, kommt über das Berichten dieser intensiven Erinnerungen die
Wut mit voller Wucht zurück.
„Ich hätte den Typen bei lebendigem
Leibe anzünden können. Da demütigt das Schwein ein elfjähriges Kind vor
versammelter Mannschaft. Einen Elfjährigen, der sich keinen Deut wehren kann.
Was für ein Hurensohn! Was für ein Mutterficker! Ich sollte jetzt gleich zu ihm
nach Herford fahren und ihn und seine verfickte Hurenfamilie umbringen“,
schimpfe ich vor mich hin.
„Sehr schön, Jonas. Sehr schön“, sagt Rassel
mit leuchtenden Augen. „Aber der Kerl hatte es auch auf dich abgesehen. Sei mal
ehrlich, hattest du diesen Wunsch nicht auch bei Menschen, die dir gar nichts
getan haben? Einfach mal so?“
Ich nehme eine großen Schluck Bier,
worauf hin der Wutpegel etwas absinkt und denke über Rassels Frage nach.
„Doch. Könnt ihr euch noch an den
peinlichen Karsten Passfall erinnern, der bei mir auf dem OS war und auch auf
der Party auf der Fahnenspitze im letzten Jahr?“
Mark und Rassel nicken
gleichzeitig.
„Als wir mit dem Oberstufen-Kolleg
eine Partnerschule in Rumänien besucht haben, hatte Passfall einen riesigen
Ghettoblaster dabei“, fahre ich fort. „Kaum hatten wir unsere Zimmer in der
Jugendherberge bezogen, warf Passfall den CD–Spieler an und spielte dieses megapeinliche
Lied Was wollen wir trinken sieben Tage lang. Er stand da neben seinem
Ghettoblaster, grinste über seine behinderte Fresse und freute sich über das
Lied. Er war fest der Meinung, dass seine Aktion lustig gewesen wäre und wollte
uns mit der Musik wohl auf eine geile Partyzeit einstimmen. Er war fest der
Meinung, wir würden es witzig finden, diese Musik zum Auftakt des Aufenthalts
zu hören oder so. Dabei war es schlicht und einfach nur peinlich. Alle
empfanden das als peinlich. Nach dem Lied legte Passfall eine CD von
irgendeinem Schlagerfutzi ein, es gibt wohl keine peinlichere Musikrichtung auf
diesem Planeten als Schlager, und spielte wieder einen abfuckenden Song über
Saufen und Partymachen. Auch hier fühlte er sich wohl als großer Stimmungsmacher. Doch auch
hier war er nur noch peinlich, unterirdisch peinlich. Da hätte ich ihm am
liebsten die Zähne aus der grinsenden Fresse geprügelt, den Ghettoblaster auf
seinem Schädel zerschlagen und ihn angeschrien: >>Du dummes Schwein!
Merkst du geistig behindertes Stück Scheiße eigentlich nicht, dass du nur noch
peinlich bist und außer dir das hier keine Sau lustig findet?<< Ich
musste damals hart dagegen ankämpfen, ihm nicht die Visage einzutreten.“
Rassel, der meinem Bericht
aufmerksam gelauscht hat, schaut sehr zufrieden drein. Nun greift auch Mark das
Thema auf.
„Gott bin ich froh, dass dieser
Zivildienst zu Ende ist. Da war einer von diesen Behinderten, der hieß Roger,
der ist mir so dermaßen auf den Sack gegangen. Ich habe bei dem immer das
Gefühl gehabt, dass der gar nicht so übel dran ist wie die anderen. Häufig hat
der auf der Fahrt zur Arbeit und zurück Lieder gesungen, die er sich selber
ausgedacht hat. Irgendwas über die stinkende Scheiße meist. Dieses Gesinge hat
die anderen Zombies dann immer vollkommen kirre gemacht. Es hat sie angesteckt
und schon war in dem Kleinbus der Teufel los.“
Ich stelle mir vor, wie ein ganzer
Bus voller behinderter Idioten Lieder über die stinkende Scheiße trällert und
fange an, heftig zu lachen. Rassel schaut mit einem breiten Grinsen zu, lässt
mich eine Minute lachen, bevor er mir mit einer Armbewegung zu schweigen
gebietet, damit Mark ungestört weitererzählen kann.
„Jedenfalls kriegen dieses Spastis
alle ihren Anfall. Nur weil dieser Typ immer singen muss. Und wenn du ihm sagst
>>Lass das!<<, dann grinst er dich nur dumm an und zeigt dir so,
dass er überhaupt nicht versteht, was du von ihm willst. Dabei versteht er dich
ganz, ganz genau. Das siehst du ihm nämlich an. Er tut auf unverständig und
singt dann einfach weiter. Er macht sich über dich lustig, weil er weiß, dass
er auf Grund seiner beschissenen Behinderung unantastbar ist. Ihre Behinderung
auszunutzen, lernen diese Schweine relativ schnell. Er hat einfach Spaß daran
gehabt, mich und die anderen Personen, die sich um ihn kümmern und dafür
sorgen, dass er ein menschenwürdiges Leben führen darf, zu ärgern. Einmal habe
ich ihn von der Werkstatt abgeholt und da fing er schon vor dem Einsteigen an,
seine dummen Lieder zu singen. Ich habe ihm gesagt, er solle aufhören, aber er
lachte nur blöde und sang weiter. An der Mauer der Werkstatt lehnte ein Spaten.
Nur zwei Meter von diesem Irren und mir entfernt. Ich stellte mir vor, wie ich
mir den Spaten schnappte und ihn Roger über den Kopf zog. Ich stellte mir vor,
wie ich ihn wieder und wieder auf seinen Schädel mit der Schaufel einprügelte,
bis sein krankes Gehirn durch die Gegend spritzte. Ich musste mich für einen
Augenblick wirklich zusammenreißen, nicht zum Spaten zu greifen.“
„Ja, ja“, sagt Rassel und zündet
sich eine neue Marlboro an. „Das Gefühl kenn` ich, das Gefühl kenn` ich. Was
meint ihr, wie oft schon jemand in die Bank kam, Kunden mit viel Geld, die
meinen, die Welt gehöre deshalb ihnen, und den kleinen Angestellten wie ein
Stück Scheiße behandeln. Wie ein Stück Eigentum. Einen kleinen Hund, den sie
tanzen lassen können, wann immer sie es wollen, nur weil sie einen goldenen
Löffel im Arsch stecken haben. Ich sage euch, ich habe auf der Arbeit in der
Bank schon so oft Blut und Hirn vor meinem inneren Auge gesehen und mir
gewünscht, endlich einmal meine innere Bestie von der Kette zu lassen. Und
jetzt werdet euch bewusst, dass Opa Rainhard uns bei Försterfeld verpfiffen und
damit ans Messer geliefert hat. Wäre er nicht gewesen, hätten wir den ganzen
Mist danach nicht gehabt. Nur wegen diesem alten Säufer haben wir damals einen
Riesenanschiss bekommen, nicht wahr?“
„Oh ja“, murmelt Mark vor sich hin.
„Wie könnte ich das vergessen, verdammt noch mal.“
Sicher haben wir alle einen auf die
Zwölf bekommen, als wir einst betrunken über Försterfelds Auto gelaufen sind.
Der Schaden belief sich auf fast 3500 DM. Mein Vater und meine Mutter hielten
mir einen endlosen Vortrag über die Dummheit, so etwas direkt vor der eigenen
Haustür zu machen, dem doch eigentlich recht guten Verhältnis zu Herrn
Försterfeld und seiner werten Gattin, aber der Schwerpunkt dieser Standpauke
lag ganz klar auf dem Geld. Dreitausendfünfhundert geteilt durch drei waren
knapp 1170 Mark, die ein Jeder von uns zu berappen hatte. Meine Eltern hatten
das Ganze zunächst so geplant: Sie legten das Geld vor und gaben es Herrn
Försterfeld, nachdem dieser die Rechnung der Werkstatt vorgelegt hatte. Sie
kürzten mein Taschengeld auf zweihundert Mark herunter, so dass ich auf diese
Art und Weise die Schadenssumme in einer Art von Raten an meine Eltern
zurückzahlen sollte. Nach Abzahlung der Schuld würde mein Taschengeld wieder
auf den alten Betrag ansteigen. Doch meine Eltern zeigten sich gnädig. Nach vier
Monaten erließen sie mir die Restschuld und stockten das Taschengeld wieder auf
und damit war die Sache für sie vom Tisch.
Mark traf der Zorn des Vaters und
wer Oberstudienrat Wenzel kennt, der weiß, wie sehr er ausgerastet sein muss,
als er erfuhr, dass sein damals siebzehnjähriger Sohn in eine Straftat
verwickelt war. Denn nichts anderes stellte das mutwillige Beschädigen eines
Kraftfahrzeuges für ihn dar. Unsere Aktion war in seinen Augen entsetzlicher
Vandalismus, den Herr Oberstudienrat
Wenzel eher mit linken Autonomen, gelangweilten Asozialen oder
trinkenden Arbeitslosen in Verbindung brachte als mit seinem eigen Fleisch und
Blut, welches nun aber unleugbar in ein solch schreckliches Kapitalverbrechen
verstrickt war. Dementsprechend fiel dann auch die von ihm verhängte Strafe
über seinen Sohn aus. Ursprünglich sollte Mark Rassel und mich niemals
wiedersehen, weil nur Rassel und ich die Urheber einer solchen Katastrophe
gewesen sein konnten. Offiziell wurden es dann drei Monate, während denen
Oberstudienrat Wenzel sein einziges Kind von uns fernhielt und ganz inoffiziell
stahl Mark sich hier und da zu Faust und mir davon. Die Kohle, die seine Eltern
an Försterfeld vorgestreckt hatten, musste Mark über zwei Jahre in Haushalt und
Garten abarbeiten, wobei der Fokus klar auf dem Garten lag; Rasenmähen, Unkraut
jäten, Gras aus Ritzen zwischen Bodenplatten kratzen, Laub zusammenkehren.
Oberstudienrat Wenzels Garten hatte und hat stets penibel gepflegt ausschauen.
Endlich schuftete Mark so viel, dass der Schaden, wenn man die Arbeitsstunde
mit nur zwölf DM ansetzte, doppelt und dreifach abgearbeitet war.
Wahrscheinlich hätte sich Mark von seinem Arbeitsaufwand einen gebrauchten
Kleinwagen leisten können und trotzdem hat er in unserer Gegenwart nie gegen
seinen Alten gemeckert und die Strafe ohne zu murren Stunde um Stunde
abgeleistet.
Bei Rassel gab es niemanden, der
ihm seinen Anteil an dem Schaden hätte vorschießen können. Er musste während
zwei Schulferien in die Fabrik – er war ohnehin auf Schülerjobs angewiesen, um
halbwegs vernünftig leben zu können und sah sich nun gezwungen, noch mehr
seiner Freizeit für niedere Tätigkeiten zu opfern - und außerhalb der
Ferienzeit an Freitagabenden für ein Subunternehmen in Supermärkten Inventuren
durchführen, bis endlich die Kohle auf Jägertals Tisch lag.
Während dieser Zeit des
Zurückzahlens machte Oberstudienrat Wenzel keinen Hehl daraus, was er von einem
Andre Faust und dessen sozialem Status hielt.
In einem Telefonat mit meinem
Vater, wo es um die Regulierung des Schadens ging, zog er ganz offen vom Leder,
während ich über den Lautsprecher mithörte.
„Der Umgang mit Ihrem Sohn ist für
Mark bereits problematisch genug, ich sage nur: das Trinken und das Rauchen und
kann nur hoffen, dass die nicht heimlich Marihuana oder noch Schlimmeres
konsumieren. Aber der Umgang mit diesem Andre Faust setzt allem die Krone auf.
Der kommt aus einer zerrissenen Familie aus den Hochhäusern. Das Scheitern
solcher Menschen ist vorprogrammiert, Herr Doktor Twelker. Sie haben Freude
daran, andere Menschen mit sich immer wieder hinab in den Sumpf zu ziehen, in
dem sie gefangen sind. Und ein solcher Sumpf beheimatet dann eben auch
Straftaten wie Vandalismus. Ich würde mir an Ihrer Stelle überlegen, ob Ihr
Sohn diesen Faust weiterhin sehen darf. Ein schlechter Umgang für Kinder aus
Familien wie den unsrigen.“
„Es war eher meine Idee, Papa“,
sagte ich kleinlaut, nachdem das Gespräch beendet worden war. „Rassel hat eher
mitgezogen.“
„Ich weiß. Dieser Wenzel ist doch
das größte Arschloch mit Ohren hier in der Nachbarschaft. Natürlich kannst du
dich weiterhin mit Andre treffen. In meinen Augen ist er ein anständiger Kerl,
der seinen Weg fleißig geht. Vielleicht ist er ein wenig verrückt, doch unterm
Strich geht er in Ordnung. Er kann nichts dafür, dass er in eine Familie mit
einer depressiven Mutter und einem gestörten Vater geboren wurde, der Frau und
Kind vernachlässigt. Du zahlst Mutter und mir das Geld zurück und dann
vergessen wir die ganze Sache. Okay?“
Mein Vater war und ist echt in
Ordnung.
Oberstudienrat Wenzel hingegen ließ
Andre Faust ab diesem Tag seine ganze Abneigung und Geringschätzung spüren. Er
grüßte ihn nicht mehr, wenn er ihn auf der Brackweder Hauptstraße traf und
warf ihm abwertende Blicke zu. Außerdem
ließ er nicht davon ab, in seinem Bekanntenkreis jeden davor zu warnen, was für
asoziale Subjekte Andre Faust und seine Familie doch darstellten.
Das, die harte Arbeit bei Thyssen
im Walzwerk und das Zählen von Konservendosen an Freitagabenden, der schönsten
Zeit der Woche für einen volljährigen Schüler wie ihn; Rassel hatte sicherlich
am meisten unter den Folgen der Aktion mit Försterfelds Auto zu leiden.
Eine kleine Wolke verdeckt die
Sonne über dem Steinbruch, worauf unser bequemer Baumstamm in Schatten fällt.
„Juckt es dich nicht, es diesem
alten Schwein heimzuzahlen? Er hätte es wesentlich mehr verdient als deine
Behinderten, gegenüber denen du diese extremen Gewaltfantasien hast. Dieser alte
Säufer hat dich doch tausendmal mehr geschädigt als deine Pflegefälle, die auch
noch ein geistiges Handicap mit sich herumtragen“, zischt Rassel wie die böse
Schlange Edens und hat dabei Mark im Auge.
„Ähm...ja...nun...wo du es sagst.
Aber eigentlich habe ich darüber noch nicht nachgedacht. Du bist verrückt,
Rassel.“
Mark schaut zur Seite, als könne er
Andres Blick nicht standhalten. Andre Faust scheint diese Tatsache zu freuen.
„Dieser verfluchte alte Bastard.
Wie sieht es in der Sache mit dir aus, Freund Jonas?“
„Es ist eine Sache, große Sprüche
zu reißen, aber eine ganz andere, tatsächlich Taten folgen zu lassen. Ich bin
nach wie vor überzeugt, dass keiner von uns in der Lage wäre, einen Menschen
aus einem solchen Grund heraus zu ermorden. Das gilt auch für dich, Rassel.
Stehst du erstmal dort im Wald vor Opa Rainhard, dann wird von deinen großen
Reden nicht mehr viel über sein. Du wirst gar nichts unternehmen, ihm einen
schönen Abend wünschen und nach Hause gehen.“
„Nun aus deinem Mund in mein Ohr.
Wir werden es sehen, wir werden es sehen“, spricht Rassel gedehnt.
In der gleichen Nacht.
Ich liege wach. Ich denke nach.
Rassel ist tatsächlich ein Demagoge
allererster Klasse, der mich immer mehr an Doktor Goebbels erinnert. Während
ich mich in meinem Verlangen nach Schlaf hin und her wälze, geistern Bilder
durch den Kopf, wie wir Opa Rainhard im Wald auflauern. Ich denke daran, meiner
Wut, die sich über all die Zeit angestaut hat, ein Ventil zu geben. Niemals
zuvor habe ich dergleichen in meinem Leben in die Praxis umgesetzt. Es gab
niemals Schlägereien, keine Randale, sieht man von der lächerlichen Schnapsidee
mit Försterfelds Auto ab, nicht mal Sportarten, welche verdeckte Aggressionen
lindern können. Nie erhielten mein Ärger und meine Wut die Möglichkeit, zu
entweichen. In jedem Menschen, und in uns Männern umso mehr, schlummert Gewalt,
die einfach raus muss. Ich stelle mir vor, dass ich dem alten Trunkenbold die
Visage zu Brei kicke und mich einfach fallenlasse und meiner Wut freien Lauf
lasse.
Trotzdem werden wir es nicht tun
und unter Garantie sieht Rassel diese Pläne hinter ernster Miene wohl eher
scherzhaft. Seine Fantasie ist rege, das wissen wir alle, und er arbeitet
mittlerweile fünfzehn von vierundzwanzig Stunden. Tagsüber steht er in der Bank
und nach Feierabend wird bis in den späten Abend hinein für sein Fernstudium
gelernt. Und das alles, man sollte es immer vor Augen haben, schafft Andre mit
gerade dreiundzwanzig Jahren, wo andere seines Alters damit beginnen, mit
bewusstseinserweiternden Drogen zu experimentieren oder sich überlegen, das
Studienfach zu wechseln. Da muss man ihm zur Ablenkung doch seine Spinnereien lassen.
Zufrieden mit dieser Feststellung
überkommt mich endlich der Schlaf.
Am nächsten Tag hängen dunkle
Wolken tief über ganz Ostwestfalen, aus denen unablässig Nieselregen auf das
Land hinabfällt.
Ich sitze vor meinem Nintendo,
spiele International Superstar Soccer Deluxe auf dem kleineren meiner
zwei TV-Geräte. Immer näher rückt das Datum der Einberufung. Es ist bereits so
nahe, dass ich bald an meinen Händen die Tage abzählen kann und meine Gedanken
nun immer häufiger um die Armee kreisen. Immerhin lenkt mich die diesjährige
Fußballeuropameisterschaft in England ein klein wenig ab. Auch heute führt für
mich kein Weg an dieser sportlichen Großveranstaltung vorbei. Gerade eben wurde
in Nottingham um 17:30 Uhr das Spiel Kroatien gegen Portugal angepfiffen,
welches über die Mattscheibe meines zweiten Fernsehgerätes flimmert.
Die virtuellen Kroaten hingegen
fahren einen schönen Angriff über die rechte Seite und ihre einzige Sturmspitze
markiert das 0:1 in der 65. Minute. Meinen Italiener rund um Roberto Baggio
droht das Aus im Viertelfinale. Ich habe mich nicht richtig konzentriert und
muss nun einem Rückstand hinterherlaufen.
„Verdammte Bundeswehr. Nur wegen
dir hat Suker jetzt dieses Scheiß-Tor geschossen. Ich habe keine Böcke auf
diesen Wichsladen!“
Kurz vor Ende der regulären
Spielzeit macht mein grauhaariger Mittelstürmer den Ausgleich.
Just in diesem Moment klingelt es
an der Haustür, so dass ich das Spiel auf Pause drücke und öffnen gehe.
Rassel steht unten.
Er trägt einen dunkelgrauen Anzug
mit hellem Hemd und Krawatte und hält in beiden Händen mehrere Plastiktüten,
deren Gewicht der kleine Mann kaum alleine tragen kann. Aus diesem Anblick
lässt sich schlussfolgern, dass er nach der Arbeit zum Einkaufen ging, um sich
anschließend direkt hierher zu begeben; untypisch, denn normalerweise stürzt er
sich unter der Woche nach einer Stunde Ruhepause direkt in sein Fernstudium.
„Was machst du denn hier?“, frage
ich.
„Ich spiele Eishockey mit der
kanadischen Nationalmannschaft. Was glaubst du denn wohl“, kreischt Rassel und
meint es nicht ganz so ernst. „Würdest du jetzt die Freundlichkeit besitzen,
mir welche von den Tüten abzunehmen!“
In meinem Zimmer stellen wir die
Armada an Plastiktüten vor die breit ausgebaute Fensterbank und anschließend
hängt Rassel sein Jackett ordentlich über die Rückenlehne meines Bürostuhles.
Er fängt an, in einer der Riesentüten zu wühlen und zieht einen gebrauchten,
ausgeblichenen Parka heraus.
„Hier!“, sagt er und hält ihn mir
direkt unter die Nase. „Davon habe ich drei Stück gekauft. Für jeden von uns
einen. Bar bezahlt im Army–Discount.“
„Häh?“, antworte ich, obgleich es
auf der Hand liegt, warum Rassel diesen Krempel hier angeschleppt hat.
„Die ziehen wir an. Am Samstag.
Vielmehr Samstagnacht, wenn wir uns in den Wald schleichen, um mit Opa Rainhard
abzurechnen.“
Ein kurzes Lachen bricht aus mir
hervor.
„Du bist total verrückt. Du gehst
in die Stadt und kaufst diese Dinger. Was hast du noch in diesen Tüten?“
Er grinst und langt in eine
dunkelblaue Tragetasche mit dem Aufdruck Karstadt, um kurz darauf ein flaches
in Plastik eingeschweißtes Etwas ans graue Tageslicht zu ziehen. Ich nehme es
in die Hand, sehe es mir genauer an und erkenne, dass auf der Verpackung eine
Frau abgebildet ist, die mit einer Plastikhaube auf dem Kopf unter der Brause
steht.
„Duschhauben. Davon habe ich
ebenfalls drei Stück besorgt. Damit der Hurensohn uns nicht an den Haaren
ziehen kann und diese Haare unter seine Fingernägel gelangen“, erklärt Rassel.
„Meine Herren, meine Herren.“
Wieder ein raschelnder Griff in
eine der Tüten und kurz darauf kommt ein verblichener gebrauchter
Militärrucksack ans Tageslicht.
„Davon haben wir zwei. Damit wir
uns in aller Ruhe umziehen können nach der Tat. Alle Sachen, die wir brauchen,
werden locker hineingehen.“
Er wirft den Rucksack zu den Parkas
und den Duschhauben auf die Fensterbank.
Als nächstes zeigt Rassel mir eine
durchsichtige Plastikverpackung mit drei Teppichmessern darin.
„Die Dinger werden zwar schnell
stumpf, aber bei der ersten Benutzung sind sie noch sauscharf. Und mehr als
einmal werden sie so oder so nicht benutzt.“
Während Rassel die Messer zu den
anderen Gegenständen auf die Fensterbank befördert und erneut in einer der
Tüten zu wühlen anfängt, bin ich vollkommen sprachlos.
Andre hält einen Schraubendreher
hoch, über dessen Spitze noch der Plastikschutz steckt.
„Eine wirkungsvolle Stichwaffe
falls die Teppichmesser versagen oder um ihm einfach nur so einen zu
verpassen.“
Nachdem Rassel den Schraubendreher
ebenfalls auf der Fensterbank platziert hat, kramt er aus einer der Tüten einen
Pappkarton hervor.
„Das sind Einweghandschuhe. Damit
hinterlassen wir keine Fingerabdrücke. Wir haben in der Bank im Putzschrank
mindestens zehn Kartons davon. Fällt keiner Sau auf, wenn da einer von fehlt, und
schon gar nicht dem Putzpersonal, so saublöd wie die sind.“
Auch der Karton findet seinen Weg
zu den anderen bereits ausgepackten Gegenständen. Es folgen zwei kleine, aber
starke Sägen, ein Beil, drei gebrauchte Armeehemden und die dazugehörigen Hosen
in Oliv, drei paar Turnschuhe einer No Name-Marke, eine Rolle schwarzer
Müllsäcke, drei Klappspaten. Eine große Flasche türkisches Eau de Cologne sowie
eine Familienpackung Feuchttücher kommentiert Rassel mit den Worten: „Damit wir
uns, wenn der Job erledigt ist, frischmachen können. Zudem nehmen wir auch noch
stilles Wasser in Plastikflaschen mit.“
Von allen diesen Gegenständen, die
nun hier auf der Fensterbank liegen, behauptet Rassel, dass man ihren Kauf
nicht rückverfolgen könne.
„Mann oh Mann“, murmele ich. „Du
bist unglaublich, Andre. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder lachen soll. Du
meinst es doch nicht wirklich ernst oder?“
„Ich meine es todernst! Diesen
Samstag, Jonas, im Wald. Nur Opa Rainhard und wir. Sei dabei oder geh kacken“,
zischt Rassel.
„Was sagt Mark dazu?“
„Mit dem müssen wir noch reden.
Glaub mir, er wird dabei sein. Ich kenne ihn. Er hat dieses brave Antlitz, aber
in ihm brodelt es. Am besten, reden wir noch heute mit unserem guten Freund.“
Irgendwie schaffen wir es an jenem
grauen Sommertag tatsächlich, Mark aus den Klauen von Sophia zu befreien. Der
Regen hat aufgehört und Andre Faust schleppt uns in den Wald, wo er uns seinen
Plan zur Beseitigung Opa Rainhards genauer erörtern möchte. Weil das Spiel bereits
zur Pause zugunsten Portugals entschieden zu sein scheint, kann ich Rassel
diesen Spaß gönnen. Aber warum Mark und ich diese Sache überhaupt ansatzweise
mitmachen, darauf wissen wir beide wohl selbst keine genaue Antwort. Nachdem
Mark die Gegenstände auf der Fensterbank betrachtet hatte, schüttelte er nur
lächelnd den Kopf.
Voller Überzeugung denken sowohl
Mark als auch meine Person, dass Andre Faust uns einfach nur eine gruselige
Show bieten möchte, um sich von der Arbeit, beziehungsweise der ganzen Büffelei
abzulenken und um endlich vielleicht auch mir ein Abschiedsgeschenk zu machen,
bevor es für mich zu diesem Verein geht, der sich Bundeswehr schimpft.
Mitten im Wald stehen wir auf einem
breiten ansteigenden Weg.
Linker Hand befindet sich das
Hexenhaus, was eigentlich nichts weiter als der Überrest eines alten Bunkers
ist; ein graues, moosbewachsenes Betonquadrat, etwa fünf Meter abseits des Weges,
den Rassel nun hinauf zeigt.
„Von da oben wird er kommen. Voll
wie eine Haubitze wird er also den Weg heruntergeschwankt kommen und völlig
guter Dinge sein. Wir werden ihn ansprechen und der falsche Hund wird so tun,
als freue er sich, uns zu sehen. Ihr beiden werdet ein wenig Smalltalk mit ihm
führen und in der Zeit werde ich mich hinter ihn stellen, einen Knüppel, den
ich noch aus einem schweren Schaufelstiel sägen werde, aus dem Rucksack nehmen
und ihm eines über den Schädel ziehen. Dann werden wir ihn schnell knebeln und
vom Weg zum Hexenhaus tragen. Kommt mit rüber.“
Wir folgen Rassel hinüber zum
Hexenhaus.
Inzwischen ist die Sonne durch die
Wolken und einige ihrer Strahlen durch die majestätischen Baumkronen gebrochen,
so dass auf dem Waldboden dort und hier goldene Lichtflecken tanzen. Die Vögel
scheinen auf einmal lauter zu singen, ganz so, als wollten sie dem Sonnenschein
einen Willkommensgruß machen. Die Szenerie wirkt einfach nur traumhaft schön
und steckt voller süßer, friedlicher Harmonie und selbst der Ansatz einer Gewaltphantasie
wirkt hier vollkommen fehl am Platze.
Am Rande des dachlosen Hexenhauses stehen wir nun und schauen über
diesen etwa zweieinhalb Meter hinab. Im dicken Beton existiert unterhalb
unseres Standpunktes eine Art Loch, durch welches man ins Innere gelangt. Der
eigentliche Boden bleibt verborgen, denn er ist bedeckt von Ästen, dem Laub
vieler Jahre, menschlichem Müll wie Plastiktüten, Glasflaschen und
Aluminiumdosen, von denen einige bereits durchrostet sind. Der Geruch
schimmeligem Holzes schlägt uns entgegen. Natürlich tun wir diese Beobachtungen
erst, nachdem wir uns vergewissert haben, dass kein Spaziergänger in unserer Nähe
flaniert. Rassel besteht auf diese „präventive Vorsichtsmaßnahme“, wie er sie
nennt.
„Nachdem wir Opa Rainhard am
Hexenhaus kalt gemacht und seinen Kadaver zerlegt und in die Plastiksäcke
verpackt haben, werfen wir seine Überreste hier hinein, kriechen durch das Loch
und verscharren sie unter dem Zeug dort unten. Glaubt mir, es wird dauern, bis
irgendein Schwein seine dreckigen Überreste findet, sofern das überhaupt
passiert“, legt Rassel uns dar.
Mark und ich schauen einander an.
Obgleich wir die Sache wohl noch
immer für einen Spaß halten, sind wir fasziniert von der Genauigkeit und der
Boshaftigkeit, mit welcher der kleine Andre Faust uns seinen Plan voller Eifer
vorstellt. Vielleicht schleppt er uns diesen Samstag tatsächlich hierhin. Denn
Samstag ist mein vorerst letzter Samstag als Zivilist und wir wollen, da kann
könnte der Sturz eines Supermeteoriten auf die Erde unmittelbar bevorstehen, in
jedem Fall meinen Ausstand feiern, wofür Mark sogar von seiner Herrin
freibekommen hat. Rassel möchte uns und vor allem mir ganz großes Kino bieten,
wozu er uns in den Wald schleppen wird und wenn Opa Rainhard auftaucht, ruft er
Buh und dann unterhalten wir uns ein bisschen mit ihm, um anschließend in die
Stadt oder zurück zu mir zu ziehen und weiter Party zu machen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass
dem so ist, blicke zu Mark und nehme an, dass mein Freund diese Sache ebenso
sieht.
Wir verlassen den Wald nach einem
kleinen Spaziergang nahe der Hochhäuser.
Zwanzig Meter hinter dem Waldrand
läuft uns ein alter Bekannter über den Weg; Sascha Quermann. Er hat ein
Fernglas um den Hals, ein Buch für
Vogelkunde in der Hand und einen Rucksack auf dem Buckel.
„Na, Sascha, gehst du wieder Vögel
beobachten?“, fragt Rassel.
„Ja“, antwortet Sascha Quermann
knapp, sieht keinen von uns dabei an und verschwindet zügigen Schrittes im
Wald.
Ich blicke ihm nach und schätze,
dass ihm langsam klar geworden ist, wie mies wir ihn über all die Jahre
behandelt haben. Weshalb sonst sollte er gerade so kurz angebunden gewesen
sein?
Wir passieren den Schulhof, wo
übrigens bereits seit dem letzten Jahr keiner mehr von uns hingeht, nicht
einmal, um auf dem Tartanfeld vor den Fußball zu treten. Irgendwann entwächst
man schlicht und einfach dem Alter, in dem es noch okay geht, seine Freizeit
auf Schulhöfen zu verbringen. Das erkennt man auch daran, dass sich dort
mittlerweile ein neue Generation an Kids tummelt, die andere Musik hört, andere
Kleidung trägt und über ganz andere Themen in einem ganz anderen Stil redet.
Unterhalb des Schulhofes trennen
wir uns für heute.
Mark stapft zu seiner Sophia,
Rassel zu seinen Lehrbüchern und ich heim zu meinem Nintendo. Im Moment sind
meine Gedanken mehr bei der Bundeswehr als bei dem von Andre Faust geplanten
perfekten Verbrechen. Daran ändert sich auch nichts, als ich in mein Zimmer
zurückkehre und all die Dinge sehe, die Rassel mit den Worten „die bleiben bis
zu ihrem Gebrauch am Samstag hier“ auf der Fensterbank zurückgelassen hat.
Obgleich ich Rassels großen Plan lediglich für einen Jux halte, mache ich mir
erstaunlich große Mühe, all den Krempel in einem meiner Kleiderschränke unter
reichlich Bettzeug zu verstecken.
Anschließend befreie ich das
Videospiel von der Pause und Italien schlägt Kroatien in der Verlängerung
endlich doch noch deutlich mit 3:1. Im Halbfinale dieser virtuellen
Weltmeisterschaft warten die Argentinier.
Kapitel 26
(Bielefeld im Sommer 2008) „Wie
konnten wir es nur tun? Wie konnten wir es nur tun?“, jammert Mark. „Wie
konnten wir nur so blöd sein, verdammte Tat? Wie konnten wir nur so blöd sein?
Warum haben wir es getan? Warum?“
Seine Stimme befindet sich hart an
der Grenze zur Hysterie, denn er sieht seine Felle davon schwimmen, sieht die
drohende Strafe, den Verlust seines Beamtenstatus, sieht das Entsetzen in den
Augen seiner Ehegattin, wenn sie erfährt, was ihr geliebter, perfekter Ehemann
und Vater ihrer Vorzeigekinder einst getan hat. Er sieht sie weglaufen mit den
Zwillingen im Schlepptau, sieht seine ach so heile Welt in Trümmern liegen,
sieht kalte, graue Gefängnismauern.
Während ihm Tränen in die Augen
steigen und über seine Wangen laufen,
krallen sich seine manikürten Fingernägel in den feinen Stoff des weißen
Sofas.
„Wir Idioten! Wir gottverdammten
Idioten!“, seine Stimme hat die Grenze zur Hysterie nun deutlich überschritten.
„Ihr Schweine! Nur wegen euch beiden ist das passiert! Ihr gottverdammten
Schweine! Nur wegen euch! Nur wegen euch! Ihr Bastarde! Nur wegen euch! Nur
wegen euch!“
Rassel steht langsam und in aller
Ruhe auf.
„Ihr Bastarde! Nur wegen euch! Nur
wegen euch!“
Er geht zu Mark hinüber und baut
sich vor ihm auf.
„Mark, Junge, bleib ganz ruhig.
Diese Tour nutzt jetzt keinem was.“
„Halts Maul, Andre! Es ist alles
nur wegen dir geschehen! Du hast mich dazu angestiftet! Und Jonas! Du gehörst
in den Knast und nicht ich! Ich gehe nicht für dich in den Bau! Ich gehe nicht
für dich in den Bau!“, seine Stimme schraubt sich höher und höher. „Nicht für
dich in den Bau! Nicht für dich in den Bau! Nicht für dich in den Bau!“
Rassel beugt sich leicht vor und
knallt ihm eine; erst rechts, dann links. Von den tadellos weißen Wänden hallen
die Backpfeifen wider.
„Reg dich ab, Mensch! Mit der
Scheiße hier bringst du uns in keiner Weise weiter“, faucht Rassel.
Mark guckt schockiert, hört aber
mit dem Geplärre auf. Er sagt nun nichts mehr, blickt lediglich geradeaus durch
Rassel und die Wand hindurch in eine unendlich weite Ferne.
„Also Schluss jetzt mit solchen
Aktionen!“, Andres Stimme klingt nun wesentlich sanfter. „Reden wir über diese
Nacht. Fassen wir sie zusammen, um dahinter zu kommen, wer uns diesen Scheiß
hier eingebrockt hat. Wer möchte anfangen?“
Keiner sagt was.
Ich spiele mit meiner leeren
Flasche Herforder in der Hand und habe immer noch furchtbaren Durst auf was
Alkoholisches.
„Okay. Dann fange ich an“, sagt
Rassel schließlich. „Irgendwelche Einwände dagegen?“
Es gibt keinerlei Einwände,
lediglich eine Frage meinerseits.
„Kann ich noch ein Bier haben?“
„Na klar. Hol dir, so viel du
möchtest. Im Kühlschrank hinter der Bar.“
Ich stehe auf und schlendre hinter
die Bar, öffne den großen sündhaft teuren Kühlschrank, dessen Innenraum mit
Flaschen vollgestopft ist; westfälisches und lippisches Bier, Mineralwasser,
Cola, Limonaden, Fruchtsäfte, Weißwein und Champagner der Marke Dom Perignon.
Plötzlich stelle ich mir Rassel als
James Bond vor. Man sieht ihn durch den Lauf einer Pistole in einem seiner
Anzüge aus der Savile Row.
„Dom Perignon, was. Wie James Bond 007“,
scherze ich.
„Verdammt, Jonas! Bleib doch mal
ernst!“, schimpft Mark.
Es ist das erste Mal seit den
Ohrfeigen, dass etwas über seine Lippe kommt.
Zurück auf dem Sofa.
„Okay. Ich schildere jetzt in aller
Ausführlichkeit, was sich damals ereignet hat. Sollten meinem Gedächtnis etwas
entfallen sein, an das ihr euch erinnert, so ergänzt mich bitte“, beginnt
Rassel seinen Vortrag.
Er referiert stehend. Während Andre
spricht, fängt vor meinem inneren Auge ein gestochen scharfer Film zu laufen
an.
Kapitel 27
(Bielefeld am 29. Juni 1996) An
jenem Datum, der Nacht vor dem Finale der Fußballeuropameisterschaft, treffen
wir uns bereits früh bei mir daheim in der Mansarde. Es ist der Abend meines
Ausstandes aus dem zivilen Leben, den man eigentlich auch hätte im Pendel
feiern können. Doch da gehen wir drei seit diesem Frühjahr nicht mehr hin, was
weniger an der Kneipe selbst, als an den alten Bekannten liegt, die sich
freitags und samstags dort wie eh und je einfinden. Es soll nicht arrogant
klingen, allerdings haben wir eindeutig festgestellt, dass uns die Leute der
alten Garde keinen Zentimeter im Leben voranbringen, da sie unübersehbar in
ihrer geistigen Entwicklung stagnieren. Die von ihnen besprochenen Themen
sind immer die gleichen und selben und
gleichen und selben. Alles dreht sich um Autos, Tuning und die Maloche. Mit dem
Pendel ist es ähnlich wie mit dem Besuchen des Schulhofs. Manche Zeiten währen
nicht ewig, gehen vorbei und mit ihnen schwinden alte Freunde und Bekannte.
Alkoholische Getränke habe ich
reichlich besorgt. Mark, der als erster meiner zwei besten Freunde eintrifft,
hat heute von Sophia tatsächlich soweit freibekommen, dass er offiziell feiern
darf, bis der Arzt kommt.
Mit dem ersten Bier warten wir
nicht auf Rassel.
Wir trinken, reden über alles
Mögliche, nur nicht über Opa Rainhard. Mark hat sich bei einem Freund, der den
Wehrdienst bereits seit zwei Jahren hinter sich hat, über Details aus der
Soldatenwelt erkundigt und erzählt mir alle möglichen Horrorgeschichten über
Dummfick der Vorgesetzten, Nächte ohne Schlaf und Schindereien unter Gasmasken.
Grinsend macht Mark mich darauf aufmerksam, dass man auch nachträglich noch
einen Antrag auf Wehrdienstverweigerung stellen könne.
Es klingelt an der Tür.
Rassel erscheint und da fällt mir
doch wieder ein, was heute für eine besondere Nacht sein soll; die Nacht der
Abrechnung mit Opa Rainhard. Auf Rassels Kopf sitzt ziemlich schief ein rotes
Barett. Nachdem er in der Mansarde angekommen ist und die Zimmertür hinter sich
geschlossen hat, vollführt er einen Gruß, der nicht minder schief ist, als dass
das Barett auf seinem Kopfe sitzt. „Herr Hauptmann, Schütze Twelker meldet sich
zum Dienst. Darf ich ihren Offiziersarsch küssen und ihren Soldatenschwanz lecken?“,
tönt er.
Wir alle lachen.
„Du hast eine ziemlich gute Laune
dafür, dass doch heute die Nacht der Abrechnung sein soll. Eine todernste Sache
also, Rassel“, kontere ich.
„Den Alten packen wir uns später.
Dann wird es noch ernst genug werden. Doch nun ist der Abend noch jung. Erstmal
wollen wir es richtig krachen lassen. Bier her!“, jubelt Rassel.
Ich lege Musik auf; Dire Straits.
Wir reden und lachen, ziehen über
die alte Garde aus dem Pendel her, die wir intellektuell, das steht sicher
fest, längst überholt haben. In deren Köpfen gibt es seit neustem nur noch
Quads. Ein Quad ist ein Motorrad auf vier Rädern, welches man mit einem
Führerschein der Klasse 3 fahren darf und ein solch unnützer Scheiß kostet dann
knappe 14.000 Deutsche Mark. Wegen dieses Mistes haben Helge und Thomas, man
muss sich derartig viel Idiotie vor Augen halten, tatsächlich Kredite
aufgenommen. Bei Helge, der ohnehin nur mit dem Hirn eines Sonderschülers
gesegnet wurde, war das abzusehen, doch bei Thomas überrascht eine solche
Aktion schon wesentlich mehr. Nun ziehen sie sich an den Wochenenden im Pendel
daran hoch, wie geil es doch sei, zu den Quadfahrern zu gehören, was für sie in
ihrer ganzen primitiven Denkweise wohl eine Art Symbol für Männlichkeit darstellt.
Sie hängen am Stammtisch, kippen sich Bier in die hohlen Köpfe und freuen sich
wegen dieser Quad–Scheiße den Arsch ab, der allerdings voller Schulden hängt.
All das wissen wir von Thomas Exfreundin Sandra. Weil diese junge Frau sich
ebenfalls geistig weiterentwickelt hat und dieses dauerhaft flach bleibende
Niveau nicht mehr ertrug, gab sie Thomas den Laufpass und bekräftigt somit
unser Modell einer geistigen Überholspur.
Als es auf 23.00 Uhr zu geht, haben
wir ein jeder an die drei Liter Herforder intus. Der Rauch in meinem Zimmer
macht die Luft zum Zerschneiden dick, lässt sie eher einer viskosen Masse als
einem Gasgemisch ähneln. Ich frage mich voller Bewunderung, wie Mark es auf die
Kette bekommt, solche Mengen trinken zu können, ohne sich dabei wieder eine
Zigarette anzuzünden zu müssen.
„Es wird Zeit. Wir sollten uns auf
den Weg machen. Auf zur Sparrenburg und von dort ab in den Wald“, sagt Rassel.
„Herrje. Du meinst es wirklich
ernst oder?“, fragt Mark beinahe genervt klingend von diesem Thema.
„Wie oft soll ich es dir das noch
sagen, dass ich es todernst meine. Kommt ihr jetzt mit? Sonst gehe ich allein
und knöpfe mir den alten Hurensohn vor.“
Ich erhebe mich von der
Fensterbank.
Mir ist bis zum heutigen Tag nicht
klar, warum ich damals sagte, was ich sagte. Vielleicht weil ich Rassels Getöne
noch immer für einen Scherz hielt, vielleicht, um ihm eine Art Gefallen zu tun,
vielleicht, weil ich schlicht und einfach angetrunken war. Garantiert wählte
ich meine Worte nicht in der Absicht, gleich ein bestialisches Gewaltverbrechen
zu begehen.
„Okay. Dann gehen wir. Bringen wir
Opa Rainhard um die Ecke und lassen ihn für seine Schuld bezahlen.“
„Ihr seid bescheuert. Total! Wollt
ihr jetzt allen Ernstes durch den Wald schleichen, nur um einen alten Saufaus
zu erschrecken?“, fragt Mark.
Genau wie ich hält er das Ganze für
eine Art Abschiedsscherz, der sich an mich richtet.
„Na los, Mark. Tu Andre doch den
Gefallen. Er will mir zum Ausstand aus dem Zivilleben eine gute Show bieten.
Verderbe es ihm also bitte nicht.“
Mark stöhnt gedehnt, aber er steht
aus dem Sessel auf.
„Na gut. Also gehen wir und machen
einen Nachtspaziergang. Das soll ja immerhin gesund sein. Aber ein Bier wird
man sich doch noch mitnehmen dürfen?“
„Na klaro“, antwortet Rassel und
fängt an, die Armeekleidung zu verteilen.
„Packt eure normale Kleidung in
diesen Rucksack hier mitsamt den Schuhen. Schließlich wollen wir ja noch feiern
gehen, wenn die Rechnung beglichen ist“, erklärt Rassel mit leuchtenden Augen.
„Ach komm schon. Wer weiß, wer in
diese Hosen schon alles reingefurzt hat“, stöhnt Mark.
„Mach es richtig oder lass es
bleiben!“, zischt Andre seine Antwort.
Mark schaut etwas genervt. Doch
endlich wechselt er wie wir alle seine Kleidung und streift auch die Turnschuhe
ohne Namen über, die Rassel in den genau richtigen Größen gekauft hat.
„Parka und Duschhaube ziehen wir
erst am Zielpunkt an. ` würde ja auch ein wenig Panne wirken, damit in der Bahn
oder auf der Straße gesehen zu werden“, erklärt Rassel.
Zwanzig Minuten später sitzen wir
unter Neonkunstlicht in einer Straßenbahn der Linie 1 in Richtung Schildesche
mit Stationen in der Innenstadt.
Der Zug ist voller junger Menschen,
die diese Nacht in der Bielefelder Innenstadt feiern und das Leben genießen
wollen. Einige haben ähnliche Rucksäcke bei sich oder tragen Armeehosen und ich
stelle mir die Frage, warum Menschen tatsächlich aus eigenen Stücken eine
solche Pennerkleidung tragen.
Ausgemusterte Soldatenkleidung!
Was läuft schief in diesem Land?
Wir fallen also überhaupt nicht
auf, sind lediglich ein kleiner Teil des Massengesichts.
Am Adenauer–Platz steigen wir aus
und müssen einen steilen Berg hinauf zur Burg erklimmen, die dort oben von
Scheinwerfern illuminiert über der Stadt thront. Um diesen hübschen Anblick zu
genießen, haben wir keine Zeit. Rassel treibt uns über die Promenade in
Richtung Wald davon. Ein Pärchen zieht engumschlungen an uns vorüber. Im
Schutze der Nacht kann man nicht erkennen, ob sie jung oder alt, hässlich oder
hübsch sind. Sie sind zwei Schatten, die so schnell wieder in der Nacht
verschwinden, wie sie aus dieser auftauchten. Nach einer Weile weicht die
gepflasterte Promenade erdigem Grund und die Grenze zum Wald ist überschritten.
Hier verflüchtigt sich mein
Orientierungssinn, der doch eigentlich so gut funktioniert. Rassel hingegen
scheint damit weniger Probleme zu haben. Ohne eine Lichtquelle, dem Einsatz von
Taschenlampen hat er zunächst gnadenlos eine Absage erteilt, führt er uns
voran, biegt links und rechts ab, tippelt geradeaus.
In einem Tal überqueren wir eine
verwaiste Straße.
Wenn mich nicht alles täuscht, befinden
wir uns nun wieder in Brackwede. Rassels Orientierungssinn muss phänomenal sein
oder ist er in seiner Verrücktheit den Weg bei Nacht schon einmal abgegangen.
Wir steigen wieder einen Berg
hinauf und kommen an eine Kleingolfanlage, die einsam und verlassen in der
Dunkelheit liegt.
Ab hier kenne nun auch ich den Weg
aus dem FF. Während der Marschzeit herrscht übrigens ein von Rassel
angeordnetes Redeverbot und gesprochen werden darf nur das Nötigste und das am
besten in Kurzform.
Es geht bergab und dann erreichen
wir das Hexenhaus.
„So, halt! Genau hier warten wir!“,
flüstert Rassel und blickt auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. „In etwa
fünf Minuten macht die Spelunke in Gadderbaum dicht. Wir haben also noch
reichlich Zeit. Los Mark, leg deinen Rucksack ab und verteil Parka, Einmalhandschuhe
und Duschhauben!“
Mark tut, wie ihm geheißen wurde.
Ich ziehe die dicke Bundeswehrjacke
über, bevor die Duschhaube über meinen Kopf wandert. In einer solchen Kleidung,
in einer solchen Sommernacht, an einem solchen Ort komme ich mir schon ziemlich
blöd vor, so blöd, dass ein herzliches Lachen aus mir hervorbricht.
„Psst!“, macht Rassel. „Leise
Mensch!“
Mir gelingt es, das Lachen zu
unterbinden und ich streife mir die Einmalhandschuhe über. Das Gummi fühlt sich
widerwärtig auf meiner Haut an und mich überkommt das tiefe Verlangen, sie
direkt wieder abzustreifen.
Sämtliche Gegenstände wie etwa die
Umverpackung der Duschhauben wandern in die Rucksäcke zurück, wo auch die
leeren Bierflaschen lagern, die wir auf unserem Wege leertranken. Anweisung von
Rassel: Nur keinen Müll, äh, keine Spuren hinterlassen.
Schneller, als ich gedacht habe,
sind wir fertig für das perfekte Jahrhundertverbrechen.
„Los, Rucksäcke aufnehmen! Wir
warten hinter den Bäumen und Sträuchern am Wegesrand auf den alten Knacker“,
erteilt Rassel weitere Anweisungen.
Da es nur zwei Rucksäcke sind,
brauche ich keinen zu nehmen.
„Du wirst beim Bund noch genug
schleppen müssen. Darum nehmen Mark und ich sie“, begründete er diesen Zustand,
als wir noch daheim in meinem Zimmer saßen.
Der Weg wird verlassen, wir
pirschen uns knirschend ins Unterholz.
„Los hinlegen!“, befiehlt Rassel.
„Sollten andere Menschen als Opa Rainhard hier vorbeikommen, dürfen sie in
keinem Fall bemerken, dass wir hier sind.“
Mark und ich tun Rassel auch diesen
Gefallen und legen uns hinter einen Busch flach auf die Bäuche gleich Soldaten,
die sich vor feindlichem MG-Feuer in Deckung bringen.
Zu warten, heißt es nun.
Wegen des Flackerns eines
Feuerzeuges und des Glühens einer Zigarettenspitze hat Andre übrigens ein
striktes Rauchverbot erlassen, was mir gerade gewaltig zu schaffen macht.
Heldenhaft bekämpfe ich jedoch meine Sucht, wobei mir Rassel eine Hilfe ist,
der ebenfalls nicht qualmt und was der als gnadenloser Kettenraucher schafft,
schaffe ich doch schon lange.
Die Zeit verstreicht in einem nicht
zu identifizierenden Tempo.
Alles wirkt plötzlich intensiver.
Ich höre ganz genau, wie Mark sich seicht neben mir bewegt und ein Nachtvogel
in der Ferne seine Geräusche ausstößt. Beim Hören dieser Laute geht mir nicht
ganz unlogisch die Frage durch den Kopf, ob Sascha Quermann wohl in der Lage
wäre, dieses Tier an Hand seiner Geräusche zu identifizieren. Eine ganz leichte
Brise streicht durch die Baumkronen, lässt sie rascheln.
Ich komme mir auf einmal sehr
komisch vor, so als stünde ich neben mir und beobachte eine andere Person, die
in meinem eigenen Körper steckt.
Nun wird mir schlagartig bewusst,
dass das hier nicht der harmlose Abschiedsspaß ist, den ich noch vor einer
Minute erwartet habe. Dass diese Geschichte hier wird ganz, ganz übel ausgehen
wird. Allerdings existiert da auch die Gewissheit, dass man die ganze Chose zu
sofort beenden könnte. Niemand hält mich davon zurück, einfach aufzustehen und
nach Hause zu gehen, morgen das Finale Deutschland gegen Tschechien zu schauen
und endlich am Montag um 18:00 Uhr meinen Wehrdienst anzutreten. Rassel würde
vielleicht keifen und zetern, mich einen Verräter und Kollegenschwein
schimpfen, aber könnte – und würde es wahrscheinlich nicht mal versuchen - er mich niemals dazu zwingen, hier mit ihm im
Dreck liegenzubleiben.
Etwas, ich sehe es ganz genau,
schwebt über dem Hexenhaus. In der Finsternis angedeutete Konturen bilden ein
gehörntes Wesen mit menschlichem Oberkörper und dem Kopf eines Tieres, eines
Ziegenbocks. Weil eine Fackel zwischen den zwei gebogenen Hörnern aus dem Kopf
wächst und mit einem matten, grünlichen Feuer brennt, kann man diese Kreatur,
die mich mit einer einladenden Geste seiner Hand zu sich zu rufen scheint,
überhaupt erst sehen. Dunkelrot glühen seine zwei Augen dazu in der Finsternis.
Nachdem ich vor lauter Schreck
zusammengezuckt bin und mir ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen ist,
schließe ich meine Augen und zähle mit klopfendem Herzen und einem merkwürdigen
Gefühl in der Magengegend stumm bis vier und als sich die Lider wieder öffnen,
ist dort über dem Hexenhaus nichts weiter als schwarze Lichtlosigkeit.
Eine optische Täuschung und
nichts weiter! Gerade an einer Stelle wie einem nächtlichen Wald kann das
schnell passieren, mein Freund! Gerade wenn eine nicht unerhebliche Menge an
Alkohol dabei im Spiel ist!
Ein Licht, ein kleiner heller Kegel
in der Finsternis, dieses mal äußerst real und keine optische Täuschung, tanzt
auf der Kuppe des Weges, den wir vorhin hinunterstiegen. Opa Rainhard führt
stets eine Taschenlampe mit sich, wenn er nach seinen Sauftouren durch den Wald
nach Hause zurückgeht.
„Da ist er“, erklärt Rassel leise.
„Los! Raus aus der Stellung!“
Er steht auf und tritt mitten auf
den Waldweg. Mark und ich folgen ihm, wobei Mark nur zögerlich aus der Deckung
kommt.
Wackelnd kommt Opa Rainhard näher.
Er geht Schlangenlinien, was man unübersehbar deutlich am Lichtkegel der
Taschenlampe erkennt, den er wie seinen Blick stur auf den Boden vor sich
richtet. So bemerkt der alte Mann uns erst, als wir keine zwei Meter vor ihm
stehen.
„Guten Abend, Opa Rainhard“, grüßt
Andre Faust liebenswürdig.
„Wer...“, lallt der alten Mann und
richtet seine Taschenlampe auf uns.
Langsam huscht der Schein über
unsere Körper hinweg und Opa Rainhard erkennt uns der Reihe nach; zuerst den
leicht vorne positionierten Rassel, dann mich und zuletzt Mark, der ein wenig,
wenn man es so formulieren möchte, im Abseits steht.
Während er mir kurz ins Gesicht
leuchtet, blinzele ich mit den Augen und bringe ein leises „Hallo, Opa Rainhard“
hervor. Mark hingegen nickt nur und sagt gar nichts.
„Ach, ihr seid es. Was macht ihr
denn hier zu so später Stunde?“, er leuchtet uns noch mal kurz ab und fragt
lallend: „Alles klar, Jungs? Wie seht ihr denn aus? Was habt ihr denn da auf
den Köpfen?“
„Wir gehen auf eine Techno-Party in
Gadderbaum. Da muss man ausgeflippt rumlaufen“, antwortet ihm Rassel
freundlich.
„Na, für sowas bin ich wohl schon
zu alt. Das verstehe ich einfach nicht mehr. Nun gut. Ich wünsche euch eine
schöne Party. Ich muss jetzt heim, habe etwas zu viel getankt. Ihr wisst ja,
wie das so ist“, lallt er.
Plötzlich geht alles ganz schnell,
läuft in Lichtgeschwindigkeit und gleichzeitig in einer Superzeitlupe ab.
Woher der Schaufelstiel in Rassels
Hand auf einmal kommt, vermag ich bis zum heutigen Tage nicht genau erklären.
Wahrscheinlich hielt er ihn unter seinem Parka versteckt.
Von der Seite her kommend erwischt
er Opa Rainhard voll am Kopf, worauf dieser recht laut aufstöhnt und wie ein
nasser Kartoffelsack auf den Waldweg plumpst.
„Du alter Bastard!“, zischt Rassel.
Ich bin vollkommen unfähig mich zu
bewegen oder etwas zu denken und glotze hinab, wo sich Opa Rainhard, schemenhaft
zu erkennen, stöhnend auf dem Waldweg windet. Rassel beugt sich leicht vor und
verpasst ihm den nächsten Knüppelhieb auf den Kopf, der klingt, als schlage man
mit dem Griff eines Buttermessers gegen eine reife Wassermelone.
„Du alter Bastard!“, faucht Andre
erneut.
Opa Rainhard liegt nun still dort
vor uns.
Rassel geht in die Knie und fasst das
Opfer mit seiner von Gummi behandschuhten Hand an den Hals, was ihn absurderweise
mit eben diesen Einmalhandschuhen wie einen Ersthelfers am Ort eines Unfalls wirken
lässt.
„Keine Sorge. Der alte Knacker ist
noch putzmunter. Los! Schaffen wir ihn vom Weg und bringen ihn rüber zum
Hexenhaus. Dort geben wir ihm den Rest.“
Mark und ich rühren uns nicht.
Ich komme mir original wie in einem
Kinofilm vor. Ich bin der Zuschauer und betrachte das Geschehen eines
spannenden Psychothrillers mit gruseligen Elementen auf einer Leinwand. Fast
kann ich dabei den Projektor rattern hören.
„Na los! Schleppen wir den Alten
hier weg!“, wiederholt Rassel sich energischer.
„Du hast es wirklich getan“, bricht
Mark leise sein Schweigen. „Du hast ihn wirklich niedergeschlagen. Oh mein
Gott!“
„Was meinst du denn, warum wir hier
sind. Wir haben das doch alles genaustens abgesprochen. Und jetzt helft mit,
den Alten zum Hexenhaus zu schleppen!“, keift Rassel leise.
„Ich dachte, du machst nur Spaß“,
spricht Mark ebenfalls leise. „Ich habe gedacht, alles wäre nur Spaß.“
„Jetzt spiel nicht den Dummkopf,
Mann!“, zischt Andre. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich den ganzen
Krempel hier gekauft und angeschleppt hätte, das alles geplant hätte, wenn ich
zum Scherzen aufgelegt wäre. Und nun fass mit an, Mensch!“
„Ich bin ` s nicht gewesen“,
flüstert Mark. Du warst es! Ich habe nichts gemacht! Ich werde jetzt einfach
nach Hause gehen und...“
„Das glaubst du vielleicht“, raunt
Rassel. „Der Alte hat uns alle drei gesehen. Und so stark, dass er sich nicht
erinnert, war der Schlag vor den Kopf auch nicht. Wenn wir jetzt gehen und Opa
Rainhard zu sich kommt, wird er schon noch wissen, was abgelaufen ist. Was
willst du machen, wenn sie dich fragen, warum du in diesem Outfit mit uns durch
den Wald gelaufen bist? Wegen einer Technofete? Wohl kaum. Gut, ich alleine
habe zugeschlagen. Also wird es mir nicht mehr drauf ankommen, was ich alles
erzähle. Dann bist du wegen Beihilfe zur schweren Körperverletzung dran.
Vielleicht auch wegen versuchten Mordes. Und mich daran gehindert, das hast du ebenfalls
nicht. Nicht mal im Ansatz, mein feiner Freund. Auch das erfüllt den
Straftatbestand. Weißt du, was das heißt? Beamtenkarriere ade! Auf Nimmerwiedersehen!
Und was meinst du, was dein gnädiger Herr Vater dazu sagen wird? Oder noch
besser, deine süße Sophia?“
Andre Faust erscheint es sehr
wichtig, bei seinem letzten Satz eine besondere Betonung auf den Namen von
Marks Freundin zu legen.
„Ich war es nicht! Ich war es
nicht!“, jammert Mark.
„Rassel hat Recht“, erkläre ich.
„Wir hängen da jetzt mit drinnen. Wir haben bis hier mitgemacht und jetzt gibt
es kein Zurück mehr. Also fass mit an, Mark!“
Es scheint, dass ich meine Worte
nicht selbst wählen würde, als täte das irgendwer anderes, nur nicht ein Jonas
Albrecht Twelker, geboren am 06. August 1975 in Bielefeld-Brackwede.
„Da siehst du es. Auf Jonas kann
man sich verlassen“, raunt Andre Faust.
Rassel packt Opa Rainhards Arme und
ich greife nach dessen rechtem Bein.
„Nimm das andere Bein, Mark! Hilf
uns endlich!“, befehle ich oder irgendwer.
Mark brummelt etwas
Unverständliches leise vor sich hin, aber er kommt herüber und fasst mit an.
Wir schleppen Opa Rainhard vom Weg zum Hexenhaus hinüber und legen ihn in einer
Senke nahe des Lochs im Beton ab.
Rassel greift in den Rucksack und
holt den Knebel hervor, den er nach eigener Angabe daheim an seinem
Schreibtisch angefertigt habe.
„Was machst du?“, fragt Mark leise,
aber schrill klingend.
„Ich knebele ihn, damit wir ihn in
aller Ruhe kaltmachen können, ohne dass seine Schreie uns verraten“, erklärt
Andre Faust so sachlich, als lese er aus der Bedienungsanleitung für eine
Küchenmaschine vor.
Während Rassel das Lederband des
Knebels hinter Opa Rainhards Kopf zuzieht, kommt dieser langsam zu sich.
Rassel greift erneut in den
Armeerucksack. Der Schraubenzieher kommt zum Vorschein. Opa Rainhard registriert
seine Situation und beginnt zu zappeln
und fängt hinter dem Knebel an, unidentifizierbare Laute von sich zu geben;
seltsame, gedämpfte Geräusche der puren, ungefilterten Furcht.
Rassel holt weit aus und rammt das
Werkzeug Opa Rainhard in den Bauch. Es tut ein schmatzendes Geräusch, das mich irrerweise
an Geschlechtsverkehr denken lässt. Der alte Mann bäumt sich auf, aber der
Knebel erfüllt seinen Zweck und erstickt den Schrei und wir bekommen nur
ersticktes Gewürge zu hören.
Rassel reißt den Schraubenzieher
aus dem Körper und sticht erneut zu, wobei seine Bewegungen in der Dunkelheit
roboterhaft kontrolliert wirken. Ich kann Andres Gesicht nicht wirklich
erkennen und wüsste nur zu gerne, was ihm jetzt durch den Kopf geht. Rassel
belässt das Werkzeug einen Augenblick in Opa Rainhards Bauch und fixiert dessen
sich windenden Körper mit seinem rechten Knie auf dem Waldboden, so dass er in
Seelenruhe den Schraubendreher aus der Wunde ziehen kann. Nachdem Faust sich
aufgerichtet hat, dreht er sich mechanisch auf der Stelle, um mir im Anschluss
das Werkzeug mit dem Griff voran unter die Nase zu halten.
„Los, Jonas, it ´ s your turn!“,
sagt er klar und ruhig.
Traumgleich greife ich nach dem
Plastikgriff, der sich sehr, sehr merkwürdig durch das Gummi des Handschuhs und
sehr, sehr schwer, als wöge er etliche Kilos, anfühlt. Für einen Moment geht
mir der unerklärliche Gedanke durch den Kopf, einen Gegenstand in der Hand zu
halten, welcher ganz sicher nicht von dieser Welt stammt. Auf dem Metall haftet
etwas Schwarzes und ich weiß nur zu genau, dass es Menschenblut ist.
Ganz langsam nähere ich mich Opa
Rainhard.
Endlos kommen mir die wenigen Meter
vor, so als befände ich mich auf einer Reise durch die Weiten des Sonnensystems;
unterwegs von der Erde zu den eiskalten Objekten des Kuipergürtels. Irgendwer
steuert mich dabei fern, lenkt Jonas Twelker von einem entfernten geheimen Ort
aus, der vielleicht nicht in dieser Galaxie, diesem Universum, sondern weit
darüber hinaus entfernt liegt.
Das bin nicht ich. Das kann
unmöglich ich sein. Oder vielleicht doch?!
Ich beuge mich hinab, hole weit
aus, steche zu und ramme das Werkzeug in Opa Rainhards Bauchgegend. Als das
spitze Metall durch den Stoff des Hemdes und des Fleisches darunter in die
Eingeweide dringt, tut es ein erneut schmatzendes Geräusch und wieder muss ich
an eine Vagina denken, die heftig von einem Penis genommen wird. Vor Qualen zuckt
der alte Körper auf dem Waldboden zusammen.
Das Gefühl ist überwältigend.
Adrenalin schießt durch meine Adern und mein Gehirn, durchflutet mich von den
Zehennägeln bis hinauf in die Haarspitzen unter der Duschhaube. Die Macht, die ich jetzt gerade verspüre, hat
grenzenlose Größe, lässt sich in keine Worte fassen, bildet einen eigenen
Kosmos.
Ich bin der Herr über Leben und
Tod! Ich darf Gott spielen!
Opa Rainhard würgt heiser hinter
dem Knebel.
„Halt ´ s Maul, Scheißkopf!“,
zische ich und trete ihm mit dem rechten Fuß vor die Brust, um direkt im
Anschluss erneut mit voller Gewalt in Bauch und Gedärme zu stechen.
Das helle Hemd des alten Mannes
färbt sich peu a peu schwarz.
Thomas Harris schrieb in seinem
Buch Roter Drache, dass Blut im Nachtlicht tiefschwarz wirke.
Ich merke, dass ich eine Erektion
habe. Mir geht es wunderbar, unbeschreiblich.
Ich reiße, wobei ich mir fast auf
die Zunge beiße, den Schraubendreher aus der Wunde und will einen erneuten
Stich landen, da hält Rassel mich zurück, in dem er nach meinem Arm greift.
„Halte ein, Kamerad!“, befiehlt er
freundlich. „Lass noch was für unseren Freund über!“
Rassel deutet mit dem Daumen der
freien Hand auf Mark, der etwa zwei Meter starr abseits steht. Man kann gerade
noch erkennen, dass er beide Hände vor den Mund geschlagen hat. In dieser Geste
und besonders mit den Einweghandschuhen ähnelt er einem Chirurgen, der eine
Operation versaubeutelt hat und endlich erkennt, dass es keine Möglichkeit mehr
gibt, den Patienten zu retten.
„Genau. Jetzt bist du dran“, jubele
ich in meiner Erregung euphorisch.
„Ich...ich...ich...“, stottert
Mark.
„Komm schon! Zeig ` s ihm!“,
befiehlt Rassel freudig.
„Nein...nein...bitte...nein...“
„Na los, du Pfeife! Du hängst da
mit drinnen. Also zeig uns, dass du kein Waschlappen bist!“, sage ich kichernd.
Mark kommt langsam näher. Er
zittert am ganzen Körper.
„Nimm das Ding und stich zu!“,
zische ich und halte Mark den Schraubenzieher unter die Nase.
Mark steht neben uns, macht aber
noch immer keine Anstalten, es Opa Rainhard zu zeigen.
„Na los, Mann! Schwing den Arsch,
Keule! Zeig uns, was in dir steckt! Lass dem inneren Tier freien Lauf!“, redet
Rassel ihm gut zu.
Noch immer halte ich Mark den
Schraubenzieher unter die Nase und noch immer zeigt der keine Reaktion.
„Komm schon! Tu es!“, flüstere ich
sanft.
Langsam, als liefe auf einmal alles
wieder in Superzeitlupe ab, greift Mark nach dem Werkzeug, welches nach der
Übergabe in seiner Hand stark zittert. Schwerfällig geht er ein paar Schritte,
beugt sich nicht minder schwerfällig zu Opa Rainhard herab und holt langsam aus,
als sei sein Arm mit Gewichten belastet. Dann sticht der zukünftige höhere Finanzbeamte
Mark Wenzel zu und treibt den Schraubendreher ins Bein; nicht besonders hart,
jedoch stark genug, dass das Werkzeug stecken bleibt. Opa Rainhard zuckt und
krümmt sich, greift automatisch nach dem Gegenstand in seinem Körper. Rassel
tritt Opa Rainhards Hand beiseite und faucht: „Los, Mark! Jetzt nimm das Teil
und ramm es ihm richtig in die Wampe! Du sollst ihm nicht ins Beinchen pieken!“
Mark zieht das Werkzeug aus dem
Oberschenkel und sticht drei oder vier Mal auf Opa Rainhards Bauch ein, wobei
er längst nicht soviel Kraft aufwendet wie Rassel oder ich zuvor. Schließlich
lässt er den Schraubendreher neben dem alten Körper auf den Boden fallen und
tritt ein paar Schritte zurück.
„Mark, jetzt nimm das Scheißteil
und zeig es dem alten Hurensohn richtig! Du stichst ja lascher zu als meine
Großmutter. Bist ` ein Mädchen oder was?“, spreche ich hämisch.
„Ach, lass ihn!“, sagt Andre,
während er im Rucksack wühlt und die Packung mit den drei Teppichmessern
herausnimmt. „Komm Jonas, geben wir es dem alten Knacker richtig!“
Rassel reißt die Plastikverpackung
auf und reicht mir eines der Messer, bei denen man die Klinge mit einem
seitlichen Schieber aus dem Plastikblock herausrattern lassen kann.
Diesen Arbeitsschritt vollführt
Rassel lange vor mir.
Er nimmt sich Opa Rainhards Gesicht
an, schneidet tief in dessen rechte Wange, wobei ein langer, gerader Schnitt
entsteht; ein Schmiss, worauf manch schlagender Student stolz wäre.
Opa Rainhard würgt hinter dem
Knebel und zappelt, wobei es jedoch nicht mehr zu übersehen ist, dass seine
Bewegungen bereits deutlich an Kraft eingebüßt haben. Ein brutaler
Handkantenschlag von Rassel auf dessen Hals lässt all das wieder ersterben.
Währenddessen schneide ich Opa
Rainhards linken Hemdsärmel auseinander.
Schräg, nachdem der Stoff entfernt
wurde, dringt meine Klinge in seinen Arm ein, so tief, bis der Knochen ein
Weitereindringen unmöglich macht. Also ziehe ich das Messer nach unten hin, was
ziemlich schwer vonstattengeht, da Muskeln und Gewebe recht zäh sind, und die
Klinge endlich abbricht.
Unser Opfer zittert in Todesqualen,
was mich kurz an die Kriegszitterer des I. Weltkrieges denken lässt, die ich
einst in einer Dokumentation sah.
„Rassel, was für einen Schrott hast
du da gekauft?", frage ich oder irgendwer mit einem breiten Grinsen auf
dem Gesicht.
In Opa Rainhards Nase führt Rassel
die Klinge ein und zerschneidet ihm die Nasenwand.
„Das habe ich in dem Film China
Town gesehen und wollte sowas immer schon in Echt machen", erklärt Andre
dämonisch grinsend.
Opa Rainhard bäumt sich ganz schwach
auf. Wäre der Knebel nicht, der Wald würde wahrscheinlich von kläglichem
Gewimmer erfüllt werden, weil meinem Nachbarn zum Schreien bereits die Kraft
fehlt. Rassel schlägt Opa Rainhard volles Pfund mit der Faust auf die Nase und
jault kurz auf, schüttelt seine rechte Hand und zischt: „Verdammte Arschgeburt!
Was hast du für eine Fresse? Meine arme Hand! Das wirst du Hurensohn mir
büßen!“
Er macht sich an Opa Rainhards
Jeans zu schaffen, öffnet den Gürtel.
„Ich werde die Sau kastrieren!
Meine arme Hand! Das wird er mir büßen!“
Ich lache kurz und zerschneide Opa
Rainhard die andere Gesichtshälfte, wobei der Schnitt sich vom Auge bis hinab
zum Halse zieht.
Ich bin total im Rausch, nehme
nichts mehr außer der geilen Gewalt wahr, habe den Tunnelblick des totalen
Mordrausches, könnte vor Hochgefühl in die höchsten Sphären mühelos
hinaufschweben.
Das ist das reine Glück! Jetzt
weißt du, wie es sich anfühlt! Sei stolz, Freund Twelker! Nur ganz wenige
Menschen kennen es!
Rassel hat den Gürtel und die Hose
geöffnet und zieht nun unter einigen Mühen die Jeans herunter. Die Unterhose,
ein weißer Liebestöter, wird von ihm mit wenigen Bewegungen sauber
zerschnitten. Schlaff und verschrumpelt hängt das Glied auf den Waldboden hinab,
bevor Rassel dessen Spitze mit der linken Hand ergreift und es brutal stramm
zieht.
Opa Rainhard versucht die letzten
Kraftreserven zu mobilisieren und windet sich panisch in dem Bewusstsein
dessen, was nun Unbeschreibliches mit ihm geschieht. Jedoch stellt auch dieses
Winden mehr ein Zittern dar.
Mit beiden Händen und aller Kraft
drücke ich seinen Kopf förmlich in den Waldboden hinein.
„Keine Angst. Es macht doch nur
schnipp“, kichere ich.
Rassel schneidet Opa Rainhard den
Penis und die Hoden direkt am Ansatz ab, wofür er nur wenige Schnitte benötigt.
Noch einmal windet sich unser Opfer in seinen Teufelsqualen. Noch einmal tut er
den letzten verzweifelten Versuch des Aufbäumens, welcher einhergeht mit einem
unmöglich zu beschreibenden Geräusch hinter dem Knebel. Endlich erlöst das Koma
Opa Rainhard von seinen Schmerzen und er bleibt reglos liegen.
Rassel erhebt sich langsam und hält
triumphierend seine blutige Trophäe hoch.
„Oh mein Gott!“, jammert Mark
leise. „Was tut ihr da?“
Wieder hat er beide Handflächen
vors Gesicht geschlagen, aber Rassel und ich nehmen ihn kaum wahr.
„Der ist platt! Alle!“, gibt Rassel
mir zu verstehen und legt Penis und Hoden auf Opa Rainhards Brust. „Schneiden
wir ihm die Kehle durch und verklappen ihn.“
Rassel hat es kaum ausgesprochen,
da zieht er schon das Teppichmesser quer über Opa Rainhards Hals. Ein tiefer
Schnitt entsteht, der bald stark zu bluten anfängt.
Apropos Blut; es ist überall, Opa
Rainhards Hemd ist damit getränkt, sein Körper badet förmlich darin, es klebt
überall auf unseren Klamotten und dem Waldboden.
„Das wars, Alter!“, sagt Rassel
ganz ruhig und steht langsam auf. „Na los! Entsorgen wir den Alten und machen
uns vom Acker.“
Aus dem Rucksack holt er das Beil,
die zwei Sägen und die Müllbeutel aus schwarzem Plastik.
„Ich trenne zunächst den Kopf ab.
Jonas, du sägst ihm danach die Arme ab und Mark, du fängst mit dem rechten Bein
an und ich übernehme das linke. Wer zuerst fertig ist, unterstützt die anderen.
Aber erst kriegt der Alte die Rübe ab."
Rassel hebt das Beil, holt hoch
über seinen gnomenhaften Kopf aus. Die Klinge saust hinab und trifft den Hals
der Leiche. Es benötigt fünf oder sechs kräftige, maschinenhaft ausgeführte
Hiebe, bis der Schädel vom Rumpf abgetrennt ist. Rassel fasst den Kopf bei den
wenigen Haaren, hält ihn, so wie einst die französischen Revolutionäre die
Häupter der guillotinierten Adeligen dem nach
Gerechtigkeit schmachtenden Volke präsentierten. Anschließend legt er Opa
Rainhards Kopf etwas oberhalb der Leiche ab und fängt an, diese zu umschreiten,
wobei er Arme und Beine der Leiche bewegt, sie penibel auszurichten scheint,
als folge er irgendeinem Scheme.
„Was machst du da, verdammte
Tat?", frage ich leise.
Er hat einen fünfzackigen Stern
gelegt oder, wenn man es anders bezeichnen will, ein Pentagramm. Sieh doch,
Freund Twelker, sogar in der Dunkelheit kannst du es erkennen. Der Kopf oben
ist die hohe Spitze, die zwei horizontal ausgerichteten Arme bilde jene der
Seiten und die zwei Beine, die Rassel V-förmig angeordnet hat, symbolisieren
jene Zacken, die bei einem Pentagramm
nach unten zeigen. Oder nach oben, je nachdem wie man es sehen möchte.
Es ist immer nur eine Frage der Perspektive. Aber dir, Freund Twelker, der
nichts weiter liest als seine Formatlehrbücher und ein paar
Durchschnittsromane, brauche ich nicht mit Symbolen wie dem Pentagramm zu
kommen.
„Ich mache nur ein wenig moderne
Kunst", antwortet Rassel freundlich und sehr entspannt. „Aber jetzt hat es
sich für mich ausgekünstelt. Die Zeit drängt. Wir werden jetzt genauso
verfahren, wie ich das vorhin gesagt habe. Also auf, auf!"
Meine Person, oder wer auch immer,
hat die Säge schon ergriffen und macht sich daran den Arm abzusägen, während
Rassel das Beil wieder aufgenommen hat und sich am linken Bein zu schaffen
macht. Mark steht immer noch wie angewurzelt dort und hat die Hände vor den
Mund geschlagen.
„Nimm die Säge und fang an, Mann!
Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit“, faucht Rassel. „Alles muss jetzt Hand in
Hand gehen.“
Mark bewegt sich noch immer nicht,
sondern murmelt lediglich etwas vor sich hin. Es könnte durchaus sein, dass er
betet.
Rassel lässt sein Beil auf den
erdigen Waldboden plumpsen, geht zu Mark herüber und knallt ihm die flache Hand
ins Gesicht. Der Gummihandschuh ist so voller Blut, das ein Teil davon
schwärzlich auf Marks Wange haften bleibt. Dann packt er Mark am Kragen des
Parkas.
„So! Du gehst jetzt dort rüber und fasst
mit an! Wir brauchen dich. Also reiß dich endlich am Riemen!“, schnauzt er leise,
aber deutlich.
Er zieht Mark mit sich zu dem Toten
und drückt ihm die zweite Säge in die Hand.
„Jetzt fang endlich zu sägen an!“,
mault er.
Mark steht einfach nur dort, hält
die Säge, die heftig hin und her zittert, und macht keine Anstalten, Rassels
Befehl in die Tat umzusetzen.
„Ja, Mark! Fang an! Tu es! Trenn
ihm sein Scheiß–Bein ab! Wir sind auf dich angewiesen“, gebe ich meinen Senf
dazu und versuche gutmütig dabei zu klingen.
Mir wird erst sehr viel später
bewusst, dass Mark in dieser Nacht unter Schock stand. Etwas Unverständliches
murmelnd geht Mark neben Opa Rainhards Leiche auf die Knie und fängt mechanisch
langsam an, an dem Oberschenkel des Toten herumzusägen.
„Na also. Es geht doch. Los, Jonas.
Fang auch du an!“, sagt Rassel ruhig.
Ich nehme mir den linken Arm zuerst
vor und säge ihn, als sei er ein Stück Kantholz und merke, dass Knochen zu durchtrennen
ganz gehörig anstrengt.
Während ich meine schwere
kraftzehrende Arbeit ausführe, lassen mich der in meinem Körper kreisende
Alkohol und das ausgeschüttete Adrenalin die Strapazen recht gut ertragen.
Als der Job getan ist, packe ich
den Arm in einen der Müllbeutel und mache mich daran, Opa Rainhards zweite
Gliedmaße abzusägen, während Rassel Mark zur Hand geht, der noch immer
vollkommen apathisch an dem Bein herumwerkelt.
„Jetzt schau mal, wie man so eine
Arbeit richtig ausführt!“, spricht Rassel und beginnt, wie der berühmte
Berserker auf das andere Bein einzuhieben. Die Arbeit dauert wesentlich länger,
als das beim Kopf der Fall war, und Rassels Atemzügen gleichen dabei dem
Schnaufen einer Dampflokomotive.
Inzwischen bin ich mit dem zweiten
Arm durch.
Rassel hat den apathischen Mark beiseite
gedrängt, um sich um das letzte verbliebene Glied an Opa Rainhards Körper zu
kümmern.
Endlich sind sämtliche Teile der
Leiche im schwarzen Plastik verpackt.
„Los, verklappen wir den Scheißkopf
im Hexenhaus!“, befiehlt Andre Faust.
Wir verscharren die Müllsäcke etwa
einen Meter tief unter Laub, Geäst, Erde und Unrat des alten Bunkers, wobei die
Klappspaten zum Einsatz kommen und ausgezeichnete Dienste leisten.
Nachdem alles erledigt ist, greift
Rassel nach der Taschenlampe, deren Besitzer bereits tot und begraben ist, und
leuchtet von oben in das Hexenhaus hinab. Ich stehe neben ihm und meine Augen
folgen dem Lichtstrahl.
Mark hält sich derzeit im Abseits
auf. Beim Graben half er mechanisch wirkend mit. Jetzt hat er sich wohl
endgültig ausgeklinkt.
„Perfekt! Alles schaut aus wie
zuvor. Man müsste schon ganz genau hinschauen, um zu sehen, dass hier gegraben
worden ist. Eine sehr gute Arbeit“, lobt Andre Faust.
Anschließend leuchtet Rassel kurz
zum Platz des Verbrechens hinüber. Die Erde schwimmt und klumpt vor Blut. Mit
den Füßen verteilen wir Laub und frische Erde darüber, was raschelnde,
schmirgelnde Geräusche erzeugt.
„Bei Sonnenaufgang ist das Blut eh
nicht mehr zu sehen“, erklärt Rassel. „Los, packen wir zusammen, ziehen uns um
und machen uns sauber!“
Wir schlagen uns hinter die Büsche.
Alles, was mit der Tat zu tun hat,
wandert in die Rucksäcke. Wir reinigen uns mit Feuchttüchern und Wasser aus
Plastikflaschen, reiben uns mit dem türkischen Eau de Cologne ein und schlüpfen
anschließend in unsere Stadtklamotten. Gelegentlich blitzt die Taschenlampe
kurz auf, um den Fortschritt der Transformation zu kontrollieren. Nachdem alles
getan wurde, brechen wir in aller Ruhe vom Tatort auf.
Rassel bleibt plötzlich stehen,
dreht sich um und starrt den Weg hinab in die Dunkelheit.
Er flüstert: „Ist da was?“
„Wo?“, frage ich ganz leise.
„Den Weg da runter. Wenn man
Richtung Spielstraße geht.“
Er zeigt mit seinem dünnen Arm in
die Finsternis.
„Nein...bitte...“, stöhnt Mark.
„Ich glaube, da ist nichts“, sage
ich, könnte es aber nicht hundertprozentig schwören.
Bewegt sich weiter den Weg hinab
jemand in der tiefsten Nacht? Ein menschliches Wesen vielleicht oder der Satan,
der sich vom Tatort hinfortstiehlt?
Ich zucke heftig über diese
Gedanken zusammen.
Wir stehen alle in einer Reihe und
starren gebannt in die Nacht hinein.
„Ach was! Da war und ist bestimmt
nichts. ` habe mich wahrscheinlich nur getäuscht. Das kann des nachts schon mal
passieren. Oder es war nur ein Tier. Ein Fuchs oder ein Vogel, der über den Weg
gegangen ist. Kommt, Jungs, kratzen wir die Kurve!“, sagt Rassel bemüht lässig,
doch Überzeugung in der Stimme klingt anders.
Synchron drehen wir uns um und
gehen weiter, ohne noch einen Blick zurück zum Weg oder Tatort zu werfen.
Als wir die Straße erreichen, die
den Teutoburger Wald in einem Tal teilt, und diese passieren, ohne dabei ein
Auto gesehen zu haben, erfolgt der letzte Teil der Transformation, indem wir
das Schuhwerk wechseln.
Wortlos stapfen wir weiter durch
den Wald und erreichen schließlich wieder die Promenade nahe der Burg, auf der
selbstverständlich keine Seele mehr unterwegs ist.
Wir kommen an einem Ausflugslokal
vorbei, vor dessen Toren ein großer, schwarzer Müllcontainer einsam in der
Nacht steht.
Schnell streift Rassel OP-Handschuhe
über und öffnet den Abfallbehälter. Bis fast zum Rand türmen sich
Plastikmülltüten voller Speiseresten, Zigarettenkippen und klumpigem
Kaffeesatz. Er wühlt einige der Tüten beiseite und vergräbt den Rucksack mit
den blutigen Klamotten, den erdrückendsten Beweisstücken, tief unter ihnen.
Wir lassen das Lokal hinter uns und steigen in die leuchtende Stadt hinab.
Die ersten Menschen begegnen uns
auf der breiten Detmolder Straße in Gestalt von vier betrunkenen Männer, die schief
ein Fußballlied grölen, welches sich eindeutig auf das Halbfinale am
vergangenen Mittwoch bezieht. Sie würdigen uns keines Blickes.
„Schade England! Alles ist vorbei!
Alles ist vorbei! Alles ist vorbei! Schade England! Alles ist vorbei! Alles ist
vorbei! Alles ist vorbei!“, tönt es im Takte von Yellow Submarine, um
sich bald in dieser Sommernacht zu verlieren.
Über Seitenstraßen ziehen wir am
städtischen Krankenhaus, ein hoher Turm aus Stahl, Beton und Glas in der
Dunkelheit, vorbei in Richtung PC69.
In einem Gully verklappt Rassel die
Allzweckmesser. Er lässt sie grinsend zwischen die Metallstreben fallen und wir
hören sie plumpsend ins Wasser der Kanalisation eintauchen. Zweihundert Meter
weiter und in einer anderen Querstraße verschwindet die Axt in einem Siel.
An verschiedenen Mülltonnen, die überall vor
den Häusern an den Straßen stehen, werden die Sägen, Klappspaten und die Schuhe
entsorgt. Rassel vergräbt sie tief unter dem Unrat der Zivilisation. Bevor
Andre eine der Mülltonnen berührt, zieht er sich stets Einmalhandschuhe an und
putzt über die zu entsorgenden Gegenstände mit einem Feuchttuch. Am Montag wird
die Müllabfuhr den ganzen Dreck dann nach Heepen in die Verbrennungsanlage
karren.
Kurz vor unserem Zielort wird der
letzte Rucksack, dessen Inhalt lediglich noch aus den leeren Bier- und
Wasserflaschen, sowie dem Karton mit den Einmalhandschuhen besteht, in einer
schwarzen Tonne vergraben und verklappt. Nun sind alle Beweise von uns gewichen.
Fünf Minuten später stehen wir vor
der großen, flachen Halle, die das PC69 beheimatet.
Die Stunde ist bereits derart
fortgeschritten, dass Eintritt nicht mehr bezahlt werden muss, aber drinnen
steppt noch der Bär.
Menschen zwischen achtzehn und
dreißig zappeln schwitzend auf der Tanzfläche zu den Beats von The Writings
On The Wall, frisch gefundene Paare knutschen in den zahllosen dunklen
Ecken und Winkeln, machen sich heiß für das noch Kommende. Einige verstrahlte,
schwer angeschlagene Gäste sitzen auf den Barhockern oder einfach nur auf dem
Boden, haben die Hände vor ihre Gesichter geschlagen und versuchen, wieder
klarzukommen, kämpfen einen verzweifelten Kampf gegen den Cocktail aus Alkohol
und Drogen in ihrer benebelten Gehirnmasse. Über all dem hängt ein schwerer
Schleier aus Zigarettenrauch, der Duft von ranzigem Bier und Menschenschweiß,
während die Lautstärke nur knapp unterhalb der absoluten Schmerzgrenze liegt.
Unser erster Weg führt zu einer der
Bars.
Beim Bestellen spricht Mark die
ersten Worte, seit wir vom Tatort aufgebrochen sind, in dem er Whiskey-Cola
ordert und reicht der jungen Dame hinter der Theke mechanisch einen
Zwanzigmarkschein. Im schummrigen Licht der Diskothek scheint all das
Engelhafte von ihm gewichen und er selbst um Jahre gealtert.
In Rekordtempo kippt er sich zwei
dieser Drinks, bevor er das leere Longdrinkglas auf den Tresen knallt.
„Ich geh ` tanzen“, sagt er, ohne
einen von uns dabei anzusehen.
Mark verschwindet rasch zwischen
den anderen Körpern auf der vollen Tanzfläche.
Rassel sieht nicht besser oder
schlechter aus, als an all den Tagen dieses Jahres zuvor und trägt ein breites
Grinsen auf dem Gesicht. Entschlossen nimmt er sein Bierglas in die Hand.
„Ich gehe mal ` ne Runde und
schaue, was hier noch so an weiblichen Mitmenschen rumläuft. Kommst du mit?“
Ich verneine knapp, worauf Rassel
verschwindet und mich allein an der Bar zurücklässt.
Und plötzlich schlägt es mit einer
solchen Wucht in meinem Schädel ein, dass es mich beinahe vom Stuhl haut.
Was haben wir getan! Was habe
ich getan! Die Sache wird früher oder später ans Licht kommen! Ich werde für
den Rest meines Lebens in den Knast wandern oder in der Irrenanstalt für
geisteskranke Straftäter landen! Aus die Maus und aus auch das schöne Leben!
Keine Bundeswehr, keine Universitätsausbildung danach mit dem schönen Sein
eines Studenten! Fünf Quadratmeter Zelle und unter der Dusche eine Horde
tätowierter Schwerverbrecher, die dich in deinen schönen Arsch ficken wollen,
Freund Twelker!
Ich springe von meinem Barhocker,
spurte um zwei, drei Ecken und eine Treppe hinunter, weil sich im PC69 die
Gästetoiletten im Keller befinden.
Ob sich jemand in dem WC-Bereich
aufhält, kann man in meiner Lage unmöglich sagen. Gerade noch rechtzeitig
poltere ich in eine der Kabinen und knalle die Tür hinter mir ins Schloss. Über
die versiffte Schüssel gekrümmt, erbreche ich Schleim, Alkohol und Galle. Mir
kommt es vor, an all dem Schleim, der sich plötzlich in meinem Magen, der Luft-
und der Speiseröhre befindet, zu ersticken. Es sind brutale Würgevorgänge von
Nöten, um meinem Körper von diesem Berg an Sekreten zu befreien, damit ich
weiter zum Atmen fähig bin.
Opa Rainhard atmet gar nicht
mehr, mein Bester!
Immer heftiger werden meine
Würgeanstalten und nachdem der gesamte Mageninhalt in und auf die Toilette erbrochen
wurde, bin ich ein Wrack. Mir ist eiskalt, Schüttelfrost peinigt mich, alle
meine Gliedmaßen zittern sichtbar.
Nach zehn Minuten Gezittere auf dem
Boden neben der Toilette stolpere ich aus der Kabine und wanke zu einem der
Waschbecken.
Obgleich sich einiges in mir
dagegen sträubt, fällt mein Blick in den Spiegel. Der mich draus anblickt, hat,
es muss ehrlich gesagt werden, lediglich noch Ähnlichkeit mit einem Zombie oder
einem schwerkranken Mann; die Haut schimmert käsig weiß, eine Schweißschicht
bedeckt sie und den ganzen übrigen Körper, die Augen sind vom Erbrechen brutal
gerötet und tiefschwarze Ringe untermalen sie.
Ich werfe mir Wasser ins Gesicht,
was leider nicht viel an diesem Bild des Jammers verändert, und kehre an die
Bar zurück.
Rassel sitzt in aller Ruhe dort und
hat sich ein neues Bier, ein Hefeweizen, bestellt. Mark zappelt noch immer auf
der Tanzfläche umher. Da es sich inzwischen ganz entschieden geleert hat, kann
man ihn jetzt deutlich dabei beobachten, wie er sich zu den Klängen von Depeche
Modes Behind The Wheel bewegt.
Als Rassel mich nahen sieht, grinst
er mich breit an.
„Du siehst scheiße aus“, erklärt er
mir lachend.
„Lass mich bloß in Ruhe!“, lautet
meine Antwort.
Rassel beugt sich zu mir herüber
und flüstert mir mit einer Verschwörerstimme ins Ohr: „Mach dir keine Sorgen!
Ist doch alles okay gegangen. Niemals wird uns jemals auf die Sache ansprechen.
Ehrenwort.“
Darauf entgegne ich nichts, sondern
ordere lieber einen Bacardi–Cola. Der DJ spielt Friday I ` m In Love von
The Cure und Mark tanzt dazu, als befände er sich im Wahn. Sein Replay–Hemd
klebt ihm auf dem Leib und er scheint alles um sich herum nicht mehr
wahrzunehmen mit Ausnahme der aus den Boxen hämmernden Musik.
Ich stürze den Bacardi–Cola auf ex
und bestellte direkt den nächsten.
Die Angestellte guckt mich an, als
wolle sie sagen „so wie du aussiehst, bekommst du von mir keinen Tropfen mehr“,
aber natürlich schüttet sie nach. Egal, ob ein Mensch kurz vor der
Alkoholvergiftung steht, wenn die Türsteher ihn reinlassen und er zudem
Zahlungskraft besitzt, dann darf er im PC69 nach Herzenslust weitersaufen.
Ich kippe den zweiten Drink.
Auf den völlig leeren Magen und den
bereits vorhandenen Blutalkoholspiegel kommt das echt hart. Ich ordere und
bekomme den dritten Bacardi–Cola. Rassel nippt an seinem Bier und blickt dabei
auf die Ansammlung von Flaschen hinter der Theke, so als überlege er in
Seelenruhe, welchen Drink er sich als nächstes gönnen wolle. Ich habe schon
wieder ausgetrunken und langsam lähmt die Masse des Alkohols meine Ängste, die
aber nach dem Schlafen irgendwann am frühen Abend doppelt so hart zurückkehren
werden. Trotzdem steht nun ein vierter Longdrink vor mir auf der Theke.
Mark, mit dem sich höchstens noch
ein halbes Dutzend Menschen auf der Tanzfläche befinden, zappelt sich weiter
einen ab. Er befindet sich in diesen Momenten sicherlich ganz woanders und
wahrscheinlich ist das seine Art, das Geschehene und die möglichen Folgen
dessen vorübergehend zu verdrängen.
Einem Hammer gleich schlägt der Rum
in meinem Kopf ein. Trotzdem exe ich auch das nächste Glas.
Was dann noch passiert, hat sich
verloren.
Die Erinnerungen setzen erst
fragmentarisch wieder ein, während wir drei uns in einem Taxi befinden. Mark
und ich sitzen hinten. Er ist vollkommen ausgepumpt, platt und weggetreten,
sagt kein Wort, starrt nur geradeaus auf die Lehne des Fahrersitzes.
„Er hat solange getanzt, bis ein
Türsteher ihm sagen musste, dass Schluss für heute ist. ` wollte einfach nicht
runter von der Tanzfläche. Gut, dass er keinen Kreislaufkollaps bekommen hat“,
erklärt Rassel mir.
Es ist nur dieser eine Augenblick,
der von einer Taxifahrt durch die halbe Stadt zurück nach Brackwede in meinem
Gedächtnis übrig geblieben ist.
Sehr ausführlich hingegen erinnere
ich mich an die Sache mit Opa Rainhard, als ich am Sonntag um 17:15 Uhr in
meinem Zimmer erwache und nicht mehr genau weiß, wie ich dorthin gekommen bin
und wer das Taxi bezahlt hat.
Kapitel 28
(Bielefeld im Sommer 2008) „Ihr
seid ausgerastet und habt es dem Alten gezeigt, verdammte Tat! Und das kann man
auch auf der CD hören. Ich stecke da nicht richtig mit drinnen. Ich habe Opa
Rainhard nur gepiekt. Ich gehe nicht für was ins Gefängnis, das ich nicht getan
habe.“
Marks Stimme klingt fruchtbar
weinerlich.
„Mark, darum geht es nicht. Du
warst dabei, du hast zugestochen, du hast mitgeholfen, den Alten zu zerstückeln
und zu verklappen. Du hast es nicht verhindert oder gar die Polizei gerufen.
Auch das geht alles aus den Aufnahmen von der Disk hervor. Selbst wenn du
beweisen könntest, dass deine Stechaktionen nicht unmittelbar zum Tode von Opa
Rainhard geführt haben, so reicht alleine aus, dass du Mittäter gewesen bist,
um dein Leben auch nach all den Jahren noch gänzlich zu zerstören. Denn alles,
was mit Mord zu tun hat, verjährt nicht“, erklärt Rassel ruhig.
Mark schlägt die Hände vors Gesicht
und beginnt, bitterlich zu weinen.
„Aber“, fährt Rassel fort und legt
Mark väterlich den Arm um die Schulter, „wir brauchen überhaupt keine Sorgen zu
haben, wenn wir jetzt schlicht und einfach einen kühlen Kopf bewahren. Also tun wir erstmal Folgendes: Stellen wir
uns jetzt vor, wer uns bei der Sache gesehen und belauscht haben könnte. Wer
hat diese Schreiben verfasst und die Rohlinge gebrannt? Wer kam nach all der
Zeit auf den Gedanken, uns endlich doch zu erpressen? Warum das Ganze?“
Mark hört langsam auf mit dem
Schluchzen. Seine geröteten Augen starren ins Leere. Er überlegt. Wir überlegen
alle auf unsere eigene Art und Weise.
Während Mark einfach nur da sitzt
und ich meine leere Bierflasche zwischen den Handflächen drehe, geht unser
Gastgeber auf und ab in seinem luxuriösen Wohnzimmer. Unsere arbeitenden
Gehirne scheinen in der Luft ein elektrisches Knistern zu verursachen.
„Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich
nicht. ` bin auch im Moment nicht in der Lage, richtig nachzudenken“, antwortet
Mark mit matter Stimme.
„Jonas, was meinst du?“
„Ich habe mir lange den Kopf
zerbrochen. Auch schon, bevor wir uns hier getroffen haben. Ich schließe mich
Mark an. Keine Ahnung, kein Plan! Vor allem warum der Typ erst jetzt aus seiner
Deckung tritt, will nicht so ganz in meinen Kopf. Vielleicht hat er es auf dein
Geld abgesehen“, lautet meine Antwort.
Darauf herrscht Schweigen, bis Mark
die Frage stellt: „Was meinst du, Andre, wer steckt deiner Meinung nach
dahinter?“
Rassel steht langsam auf und geht
zur Bar, wo er wie aus dem Nichts ein goldenes Etui herbeizaubert, diesem eine
Zigarette entnimmt, welche komisch aussieht, weil sie einen goldenen Filter hat
und in schwarzem Papier eingeschlagen ist. Rassel entzündet die Zigarette mit
einem Feuerzeug aus Platin, um genüsslich den Rauch mit geschlossenen Augen zu
inhalieren, bevor er ihn in kleinen Wolkenschüben auspustet, die Augen wieder
öffnet und spricht: „Quermann! Es ist Sascha Quermann!“
Mark und ich starren ihn mit
offenen Mündern an.
„Wie?“, frage ich, als hätte ich
seine Aussage nicht verstanden.
„Es ist Sascha Quermann. Ganz
einfach, ganz logisch“, wiederholt Rassel das eben Gesagte.
„Warum Quermann? Und warum erst
nach all den Jahren?“, hakt Mark, der inzwischen aufgestanden ist, schwer
gereizt nach.
„Immer mit der Ruhe. Nun mal
langsam mit den jungen Pferden. Alles...“
„Immer mit der Ruhe?“, unterbricht
Mark Rassel. „Langsam? Du bist gut. Du...“
„Setz dich wieder hin!“, faucht
Rassel und Mark hört augenblicklich mit dem Sprechen auf, worauf Andre wieder
einen sanfteren Tonfall wählt. „Niemand wird in den Bau gehen. Das verspreche
ich hoch und heilig. Gib mir eine Weile Redezeit. Danach wird einiges klarer
sein. Geht das okay, Mark?“
Mark nickt nur und setzt sich
wieder hin.
„Also, mir war doch in jener Nacht, als hätte ich etwas auf dem Weg gesehen,
eine Art Bewegung oder so", greift Faust das leidige Thema wieder auf. „Damals
waren wir uns nicht sicher, ob da tatsächlich was war oder auch nicht. Heute
wissen wir, dass wir uns getäuscht haben. Da war also jemand und dieser jemand
kann mit ziemlicher Sicherheit nur Sascha Quermann gewesen sein. Wir wissen,
dass er häufig in den Wald gegangen ist, um Vögel zu beobachten und andere
Tiere. Das hat er uns höchstpersönlich selbst erzählt, als wir kurz vor der Tat
unseren Testrundgang gemacht haben. Warum sollte er zufällig nicht diese Nacht
im Wald gewesen sein, um nachtaktive Tiere zu beobachten oder etwas in dieser
Richtung. Und wir wissen außerdem, dass er ein Richtmikrofon besessen hat, um
damit Vogelstimmen aufzuzeichnen. Das hat er Mark damals erzählt, als er ihn
zufällig in der Stadt getroffen hat und Quermann gerade auf dem Weg war, sich
den Bastelsatz dafür zu besorgen.
Wahrscheinlich hat er damals die ganze Chose auf Band aufgenommen und es
kürzlich dann einfach digitalisiert und auf CD gebrannt. Das ist doch heute
alles gar kein Problem. Mit den PCs und Programmen, die aktuell auf dem Markt
sind, schafft selbst ein Sascha Quermann das. Fragen bis hier her?“
„Ich meine, du hast mir damals was
von der Sache mit dem Richtmikrofon erzählt. Das war in der Nähe vom Conrad in
der Marktpassage“, sage ich gedankenverloren und eher zu mir selbst.
Mark spricht hingegen wesentlich
entschlossener, hat klar an Fassung zurückgewonnen.
„Gut, du hast eine alte Aussage, wo Quermann
zu mir gesagt hat, er wolle oder habe sich ein Richtmikrofon gekauft, um damit
Vogelstimmen aufzunehmen. Aber was beweist das? Vielleicht hat Quermann mir ja
was vom Pferd erzählt und er hat niemals so ein Teil besessen. Und selbst wenn
er es geschafft hat, was ich doch arg bezweifele, das Richtmikrofon
zusammenzubauen, ist das noch immer kein Beweis dafür, dass er ausgerechnet in
dieser Nacht ausgerechnet an diesem Ort gewesen ist. Du hast nur eine nicht
ganz unlogische Vermutung, aber keine Beweise. Nicht mal ansatzweise hast du
die.“
Nur auf eine solche Aussage scheint
Andre Faust gewartet zu haben.
„Oh doch, mein Freund, die habe
ich.“
Er drückt seine komische Zigarette
in einem Kristallaschenbecher auf dem Tresen der Mahagoni Bar aus und geht quer
durch den Raum zu einem Regal. Auf einer der Reihen von Platten und CDs liegt
ein dünner violetter Pappordner, den Rassel ergreift und mit ihm in der Hand
zum Sofa hinüberkommt. Er setzt sich hin, öffnet den Ordner und legt ein Dina4–Blatt
vor uns auf den Sofatisch.
„Beweisstück a. Ein hinlänglich
bekanntes Erpresserschreiben in Blockbuchstaben verfasst. Und nun seht mal
her.“
Wieder wandert seine Hand in den
Ordner und zieht ein weiteres Dina4–Blatt hervor, welches er genau neben dem
Erpresserschreiben ausrichtet. Es handelt sich um den jämmerlichen Versuch
einer Geschichte, die Quermann vor so vielen Jahren zu schreiben versuchte und
die wir damals zwischen seinen kläglichen Resten im Sperrmüll vor dem Apartmenthaus
fanden.
„Vergleicht die Buchstaben! Die
Größe und ihre Art. Es sind die gleichen. Sie stammen von ein und demselben
Verfasser. Das sieht doch ein Blinder mit Krückstock. Sie stammen von Sascha
Quermann“, erklärt Andre Faust.
Gebannt blicken wir auf das, was
vor uns liegt.
Ich bin vollkommen sprachlos. Mark nimmt die
von Rechtschreibfehlern wimmelnde Geschichte und hält sie sich direkt vor die
blauen Augen, so als könne er das alles ganz und gar nicht glauben.
„Du hast sie behalten“, sagt er
verständnislos. „Du hast sie über all die Jahre behalten. Warum?“
„Nun, sie hat mich immer an früher,
an die schönen Zeiten mit euch erinnert. Ich hatte sie im Keller gehabt.
Nachdem ich das Schreiben und die CD bekommen hatte, habe ich es lange und
intensiv unter die Lupe genommen. Und je länger ich auf dieses Schreiben
starrte, je mehr kamen mir diese Blockbuchstaben bekannt vor. Dann fiel mir,
ich hatte sie lange vergessen, diese Geschichte wieder ein. Also bin ich in den
Keller runter und habe sie gesucht. Das hat Stunden gedauert, aber ich fand sie
tatsächlich wieder hinter einem Stapel Aktenordnern aus der Gründungszeit
meiner Firma. Ich legte sie nebeneinander und Bingo, ein klarer Fall.“
„Es sind Blockbuchstaben“, sagt
Mark nüchtern. „Die ähneln einander immer. Woher willst du wissen, ob sie
tatsächlich von ein und derselben Person stammen?“
„Ich gebe zu, dass es aus
Blockbuchstaben wirklich schwer ist, hundertprozentige Klarheit zu erhalten.
Also habe ich die Schreiben einer Privatdetektei, die einen Experten für
Schriftanalysen in ihren Reihen hat, vorgelegt. Dazu muss noch gesagt werden, dass
dieser Experte weltweit als erstklassig gilt.“
Ich schlage die Hände vor das
Gesicht.
Nein! Das kann Rassel unmöglich
getan haben. So saublöde ist er nicht.
Mark fällt fast von seiner
Sitzgelegenheit.
„Du hast das Erpresserschreiben
einem Detektiv gezeigt!“, brüllt Mark, dessen Gesicht knallrot lodert. „Wie
blöd bist du eigentlich? Dann hättest du auch gleich zu den Bullen rennen
können und alles gestehen.“
Rassel legt den Zeigefinger auf die
Lippen und macht: „Psst!“
Mark möchte eigentlich noch etwas
sagen, aber er schweigt artig.
„Natürlich habe ich weder das
Schreiben noch die Geschichte einem Detektiv vorgelegt, sondern nur einzelne
Wörter daraus. Ich habe es auf dem besten Farbkopierer meiner Firma fotokopiert
und die einzelnen Wörter ausgeschnitten. Das habe ich in der Detektei
vorgelegt. Aber auch wenn ich ihm das Original gezeigt hätte, wäre aus dieser
Kanzlei nichts nach außen gesickert. Sie gehört zu einer Sozietät von
Anwälten, die meine Firma bereits seit langem vertritt. Sie ist eine der besten
Kanzleien in ganz Deutschland. Die dazugehörige Detektei arbeitet stellenweise
mit verschwörerischen Methoden weit jenseits von geltendem Recht. Diskretion
wird da größer geschrieben als bei den Nachrichtendiensten. Kein Wort dringt
von dort nach außen. Schon gar nicht über zahlungskräftige Klienten. Also lasst
Ruhe einkehren und entspannt euch.“
„Und dieser Schriftexperte hat dir
bestätigt, dass die Blockbuchstaben von ein und derselben Person stammen?“,
frage ich.
„Das hat er eindeutig. Es bestehen
überhaupt keine Zweifel. Der Verfasser dieses Erpresserbriefs ist Sascha
Quermann. Hundertprozentig und Punkt.“
Jetzt herrscht Schweigen.
Ich stehe auf, gehe hinter die Bar
und besorge mir noch ein Herforder Pils.
„Warum tut er das nach all den
Jahren?“, fragt Mark. „Warum hat er uns nicht damals schon ans Messer
geliefert?“
Rassel greift auch diese Frage
geduldig auf.
„Ich denke, es verhält sich so:
Quermann ist nach allgemeinen Maßstäben bemessen zwar blöde, jedoch verfügt er
über eine bestimmte Bauernschläue. Er hat schön abgewartet, hat mal geschaut,
was so alles aus uns wird. Er braucht heute nur noch ins Internet zu schauen
und ein wenig recherieren und sieht schon unsere Namen auf der Seite des
Finanzamtes oder der Universität Bonn oder im Impressum meiner Firma. Und siehe
da, schon weiß der Idiot, dass wir alle es zu etwas gebracht haben und somit
auch ein gutes Leben ohne finanzielle Sorgen führen müssen. Quermann will nun
seinen Teil von einem solchen Leben abhaben.“
„Du meinst, er will Geld“, bringe
ich es auf den Punkt.
„Das ist offensichtlich. Ich habe
die Detektei, von der ich bereits erzählt habe, beauftragt, ein wenig über das
aktuelle Leben eines Sascha Quermanns herauszubekommen. ` hat nicht länger als
zwei Tage gedauert und ich hatte meine Informationen. Quermann ist ein
Sozialfall. Er lebt von Hartz IV in einem schäbigen Apartment in Heepen. Ein
für ihn hoher Schuldenberg hat sich aufgetürmt, das meiste davon bei fraglichen
Kreditinstituten. Er sammelt Pfandflaschen und -dosen, um besser über die
Runden zu kommen.“
„Warum fordert er dann nicht sofort
Geld, wo es ihm doch ach so dreckig geht? Warum diese Spielchen?“, frage
ich.
„Weil er seinen Triumph auskosten
und sich nebenbei an uns rächen will“, antwortet Rassel wie aus der Pistole
geschossen. „Sich rächen für all die Demütigungen von damals. Endlich einmal
ist er am Drücker. Endlich einmal hat er Macht in seinen kümmerlichen Händen.
Dieses Gefühl will er auskosten. Er will uns quälen, bevor er irgendwelche
Forderungen stellt.“
Alles klingt sauber und unendlich
logisch.
Vor meinem inneren Auge tauchen
Bilder längst vergangener Tage auf; ich mit dem Butterfly-Messer vor ihm
tanzend, nachdem ich ihm den Ball in die Visage geknüppelt hatte, Rassel, der
den am Boden liegenden Quermann ins Gesicht spuckte, nachdem Sven Vogel ihm die
Eier zu Mus getreten hatte, wie wir alle ihn auslachten.
„Du meine Güte!“, sage ich
schließlich. „Was wollen wir jetzt tun?“
„Wir sollten erstmal abwarten, was
passiert“, schlägt Mark vor. „Er hat doch in seinem Schreiben angekündigt, dass
er sich wieder melden will. Wir sollten warten, bis er das tut und dann...“
„Und dann was?“, faucht Rassel
dazwischen. „Ihn bezahlen? Und hoffen, dass er alles vergisst? Dieser Arsch
wird weitere Forderungen stellen und uns quälen, quälen, quälen und nochmals
quälen.“
„Was sollen wir denn deiner Meinung
nach tun?“, frage ich und füge nicht ganz ernst an: „Uns für alles
entschuldigen?“
„Wir sollten handeln. Das Heft in
die Hand nehmen und handeln. Ich habe da jemanden an der Hand, der das Problem
ein für alle Mal aus der Welt schaffen kann“, erklärt Rassel dermaßen ruhig,
als erörtere er, was zu beachten ist, wenn man ein Girokonto zu eröffnen
gedenkt.
Synchron fallen mir und Mark die
Kinnladen herunter.
„Du willst einen Killer anheuern.
Du willst einen Killer anheuern, der Quermann aus dem Weg räumt“, bringt Mark
es nach einer Minute Schweigen auf den Punkt.
„Genau. Und das besser gestern als
wie heute. Er nimmt Quermann das belastende Material ab und danach: Kurzen
Prozess! Kurz und schmerzlos.“
„Du bist übergeschnappt!“, schimpft
Mark. „Vollkommen! Du willst Sascha Quermann umbringen lassen. Einfach mal so,
als gingst du in den Supermarkt, um Zwiebelsuppe aus der Tüte zu kaufen. Ich
fasse es nicht! Ich kann es einfach nicht fassen!“
Als er wieder spricht, klingt
Rassels Stimme sehr freundlich.
„Mark, ich bin mehrfacher
Millionär. Wenn man soviel Geld hat, dann ist es so einfach wie Zwiebelsuppe zu
kaufen, einen Menschen umbringen zu lassen. Gerade so einen wie Quermann, der
überhaupt nichts, aber auch rein gar nichts darstellt. Geld regiert die Welt.
Mit Geld ist alles möglich.“
Mark schüttelt den Kopf. Er lacht,
das erste Lachen seit jenem Wochenende im Sommer 1996, welches nun an meine
Ohren dringt; ein verächtliches, spöttisches Lachen.
„Was bist du nur für ein Arschloch,
Mann! Was bist du bloß für eine Mensch!“, sagt Mark kopfschüttelnd.
„Ich erkläre dir nur, wie das echte
Leben außerhalb deines Beamtenelfenbeinturms so läuft und das vollkommen
ungeschönt“, antwortet Andre Faust ganz ruhig und gelassen. „Übrigens machen
wir das ja nicht aus Jux und Dollerei. Wir wehren uns dagegen, dass man uns
übel erpresst. Das alles hier ist längst kein Spaß mehr.“
„Kein Spaß, was!“, sagt Mark noch
immer verächtlich. „Aber das mit Opa Rainhard, das war ein Spaß. Ein Spaß, den
du dir ausgedacht hast. Mann, Mann, Mann, war das ein Spaß, Alter!“
Plötzlich springt Rassel auf und
brüllt: „Du hättest ja nicht mitmachen brauchen. Wir haben dich nicht
gezwungen. Du warst von der ersten bis zur letzten Minute dabei. Also spiel
hier nicht den Moralapostel. Von dir habe ich übrigens auch noch nichts gehört,
was irgendwie zur Lösung des Problems beitragen könnte.“
„Lasst uns hier nicht streiten. Das
bringt uns keinen Millimeter weiter“, gehe ich verbal dazwischen. „Wir sind in
einer harter Situation, die wahrscheinlich eine harte Lösung erfordert. Ich
glaube auch, dass Quermann Forderung um Forderung stellen wird und uns endlich
doch in den Bau schickt. Ich denke, wir sollten Rassels Idee ernsthaft in
Betracht ziehen.“
Mark schüttelt den Kopf, sagt aber
nichts mehr und auch das spöttische Lächeln auf seinem Gesicht ist
verschwunden.
„Rassel hat nun mal das Geld und
die Kontakte, um eine solch eklige Sache auf eine solch eklige Art und Weise zu
lösen“, fahre ich fort. „Warum sollten wir uns dieses Vorteils nicht bedienen
und das Problem damit ein und für alle Mal aus der Welt schaffen?“
„Die Stimme der reinen Vernunft“,
stellt sich Rassel auf meine Seite. „Die Stimme der reinen Vernunft.“
„Ich macht es nur noch schlimmer.
Dann gehen zwei Morde auf unser Konto. Und was ist, wenn Quermann nicht alleine
agiert? Was ist, wenn er einen Komplizen hat? Dann gehen endgültig alle Lichter
aus! Und zwar für immer!“, warnt Mark leise und sachlich.
„Der Privatdetektiv, der seit
Sonntag an Quermanns Arsch klebt, hat mir erklärt, dass Quermann beinahe keine sozialen
Kontakte hat. Lediglich einmal traf er sich mit einem Mann auf einer Bank in
einem Park. Der Kerl, mit dem Quermann sich dort getroffen hat, soll sehr
ungepflegt und heruntergekommen gewesen sein; fast wie ein Penner. Das ganze
Treffen hat nicht mal eine halbe Stunde gedauert. Sie haben ein Bier getrunken
und über, so der Detektiv, Belangloses geredet. Quermann war schon immer ein
Einzelgänger, das wisst ihr. Und auch diesmal agiert er alleine. Dass er damals
bei dieser älteren Frau eingezogen ist, hatte rein ökonomische Gründe. Und auch
mit Frank Engel war das damals nicht so dicke. Quermann ist lieber alleine
durch die Spielhallen gezogen, anstatt mit Engel durch die Gegend zu ziehen. Er
agiert alleine. Das ist mal sicher. Und die Erkenntnisse der Observation
belegen das eindeutig“, legt Rassel uns dar. „Sollte sich daran was ändern,
wird es der Detektiv direkt an mich melden. Denn selbst im Moment hält die
Überwachung an.“
„Und wenn nicht? Was ist wenn es
trotz allem einen weiteren Erpresser im Bunde geben sollte?“, wiederholt Mark
seine Ängste.
„Sollte dieses tatsächlich der Fall
sein, so wird es dem möglichen Komplizen Warnung genug sein, wenn Quermann
plötzlich den Löffel abgibt. Er wird erkennen, dass er sich entschieden auf
einen Idioten eingelassen und mit den falschen Leuten angelegt hat“, kontert
Rassel.
Dass wir einen Berufsmörder
anheuern, gilt längst als eine beschlossene Sache.
„Meinst du nicht, es fällt der
Detektei auf, wenn sie einen Mann beschatten, der plötzlich aus dem Leben
scheidet?“, frage ich.
„Erstens ist die Detektei, wie
bereits erwähnt, sehr verschwiegen. Deshalb ist sie spitzenklasse, extrem teuer
und wird ausschließlich von vermögenden Menschen frequentiert. Zweitens ist der
Kerl, der Sascha Quermann ins Jenseits befördern wird, ein absoluter Profi. Es
wird ganz klar so aussehen, als habe Quermann seinem armseligen Leben im
Schuldensumpf selber ein Ende bereitet. Es kommt jeden Tag vor, dass
vereinsamte, verschuldete Menschen Schluss machen. Selbst in den Akten der
Polizei wird Quermanns sogenannter Suizid untergehen und vergessen werden. Wir
haben es hier mit einer wahrlich todsicheren Sache zu tun“, erklärt Rassel
lächelnd.
„Darf ich fragen, woher du diesen
Profi kennst?“, kommt mir eine interessante Frage über die Lippen.
Rassel grinst kurz; ein kleines,
unheimliches Aufflackern in seinem gnomenhaften Gesicht.
„Natürlich darfst du fragen, wirst
aber leider keine Antwort bekommen. Betriebsgeheimnis“, lautet die Antwort.
„Aber man kann sich
hundertprozentig auf ihn verlassen?“, hake ich nach.
Jetzt grinst Rassel breit.
„Todsicher verlässlich. Ich habe
ausführliche Recherchen, was extrem schwierig und teuer war, über diesen Mann
angestellt und weiß, dass die Mächtigsten dieses Landes auf seine Dienste
vertrauen. Er ist der Beste in einem ungewöhnlichen Geschäft.“
„Oh mein Gott!“, jammert Mark. „Das
Ganze ist ein Scherz und ein schlechter Film. Ich glaube es nicht. Ich kann es
einfach nicht glauben.“
Rassel beachtet Mark nicht und
redet im Tonfall eines Verschwörers: „Dann sind wir uns ja einig darüber, dass
Sascha Quermann diese Welt verlassen muss, weil er sich ganz entschieden mit
den Falschen angelegt hat.“
Er blickt mich an.
„Gilt es, Jonas?“
„Sicher. Es gibt keine andere
Möglichkeit.“
Er wendet sich zu Mark hin.
„Habe ich eine andere Wahl?“,
murmelt er leise vor sich hin. „Also soll es so gelten!“
Kapitel 29
(Bielefeld im Sommer 2008) Vor gut
einer Stunde hat Mark den Heimweg angetreten.
Als er Rassels Villa verließ, sah
er müde, alt und abgekämpft aus. Seine letzten Worte uns gegenüber lauteten:
„Macht es gut, Jungs. In dieser Sache wird uns Gott ganz sicher nicht
beistehen. Irgendwann kriegen wir all diese Taten doppelt und dreifach zurück.“
Rassel und ich sitzen nun an der
Mahagoni Bar und haben direkt nach Marks Abgang die Musik wieder eingeschaltet.
Message In A Bottle spielen
The Police.
„Ich kann nur hoffen, dass Mark
nicht die Nerven verliert“, erklärt Rassel und spielt mit der Bierflasche in
seiner Hand.
Ich habe bereits das fünfte
Herforder geöffnet und mir die erste Benson & Hedges des Tages angezündet.
Der Rauch lässt mich ein wenig schwindeln.
„Was meinst du genau damit, wenn du
sagst, er könnte die Nerven verlieren?“
„Dass er bei Sophia quatscht und
sich ausheult. Ich glaube, er hält dem Druck nicht mehr Stand. Er könnte
einbrechen.“
Eine äußerst unangenehme
Vorstellung; Mark auf den Knien vor seiner Alten daheim und dabei unter Tränen all
das Unschöne am Ausposaunen, angefangen von der Sache mit Opa Rainhard bis hin
zu dem Beschluss, einen Berufsmörder zu beauftragen, um Sascha Quermann das
armselige Lebenslicht auspusten zu lassen.
„Wie geht es jetzt weiter?“,
erkundige ich mich.
„Nun, wir hoffen einfach mal, dass
Mark stabil bleibt. Morgen werde ich dem Killer Anweisungen erteilen und
übermorgen hat sich der Fall dann wahrscheinlich schon erledigt und alles ist
vom Tisch.“
„Oh Mann. Ich hoffe, du behältst
Recht, Andre.“
„Mach dir keine Sorgen. Wenn Mark
dicht hält, geht alles glatt. Schon nächstes Wochenende wird es dir so
vorkommen, als habe es all diesen Mist nicht gegeben.“
„Deinen Optimismus müsste man
haben“, sage ich leise.
Wir schweigen einen Augenblick und
lauschen der Musik.
Nachdem The Police zu Can`t Stand
Loosing gewechselt hat, stellt Andre seine leere Flasche Detmolder auf den
Tresen.
„So, ich werde mich Schlafenlegen.
Trotz all des Trubels müssen meine Geschäfte spätestens morgen früh um neun
weitergeführt werden. Du kannst dich gerne noch im Wohnzimmer aufhalten.
Schnapp dir noch ein paar Bier, hör Musik und fühl dich wie zu Hause.“
Nach dem obligatorischen Gruß zur
guten Nacht tippelt Rassel mit dem violetten Pappordner unter dem Arm aus dem
Raum und ich bleibe zurück, fühle mich verwirrt, verunsichert und unendlich
einsam.
Auf dem Sofatisch piept mein Handy
und signalisiert eine eingehende Kurznachricht. Gedankenverloren gehe ich
hinüber, klappe es auf und als ich den Inhalt gelesen habe, breitet sich ein
sanftes Lächeln auf meinem Gesicht aus.
Mein lieber Jonas,
ich kann nicht schlafen und muss andauernd an Dich
denken.
Wie geht es Dir denn so?
Ich vermisse Dich und habe Dich unendlich lieb!!
Deine Franziska
Plötzlich vergehe ich in einer Art brennender
Sehnsucht nach ihr, denn ihre positive Lebensenergie würde mir jetzt, in diesen
schwersten Stunden meines Lebens, zweifelsohne gut tun.
Ich drücke auf die Taste mit dem
grünen Telefonhörer, so dass das Gerät ihre Nummer direkt anwählt. Beinahe zu
sofort dringt ihre dynamische Stimme an mein Ohr, ganz als sei es halb zwei am
Nachmittag und nicht halb zwei in einer Nacht unter der Woche.
„Jonas! Du kannst also auch nicht
schlafen. Schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?“
„Bis auf die Tatsache, dass ich
dich gerade unendlich vermisse, geht es mir gut“, lüge ich sie an. „Und dir?“
„Genau das gleiche. Wann kommst du
wieder nach Bonn?“
„Morgen. Am Nachmittag oder am
frühen Abend. Genau weiß ich das noch nicht.“
„Ich muss bis 20:00 Uhr arbeiten.
Kommst ` mich abholen und wir kochen bei mir zusammen?“
Eine sehr gute Idee, die mich einen
Moment vermuten lässt, Franziska könne über eine Distanz von zweihundertfünfzig
Kilometern Gedanken lesen, denn das Letzte, was ich morgen will, ist, alleine
zu sein.
„Klar doch. Ich hole dich ab und
dann gehen wir zum Rewe. Der hat ja bis zehn Uhr auf. Wir kaufen in aller Ruhe
ein und kochen danach.“
„Super. Ich freue mich so“, jubelt
Franziska.
„Ich mich auch, Franziska. Und
wie.“
„Wie ist der Workshop von der Uni Münster?“
„Sehr interessant von der Thematik
her und auch wie das Ganze aufgezogen ist. Und die Kollegen sind ebenfalls
total okay. Wir haben bis gerade eben noch zusammengesessen und uns
ausgetauscht. Doch jetzt bin ich auf meinem Zimmer. Ich werde mich noch unter
die Dusche schwingen und dann Schlafengehen“, lüge ich, dass sich die Balken
von Rassels schicker Villa biegen.
„Das freut mich für dich. Jetzt, wo
du mich angerufen hast, werde ich sicherlich prima schlafen können.“
Zärtlich verabschieden wir uns und
ich bin wieder ganz allein in Rassels luxuriösem Wohnzimmer.
Ich würde ihr so gerne alles
erzählen und mich daheim bei ihr ausheulen, ihr von meinen Sorgen berichten.
Der Drang danach ängstigt mich beinahe.
Was tut Mark wohl gerade bei
Sophia??!!
Schnell hinter die Bar gesprungen
und ein kaltes Herforder gegriffen.
Ich setze mich wieder auf den
Hocker zurück, zünde mir eine Zigarette an, rauche und trinke das Bier in
kleinen, hektischen Schlucken. Mein Gesicht wird von dem Spiegel hinter den
Spirituosenflaschen reflektiert und meine Gedanken ziehen davon, während die
Stereoanlage von The Police zu Chris Rea wechselt.