ultrakurz; Fahrstuhl hinab



Die Konferenz war längst vorbei an jenem schicksalshaften Freitag im noch jungen Jahr. Dennoch saßen die zwei Brüder Marcell und Dominik Baumann noch im großen Konferenzsaal der Zentrale der Firma zusammen, die sie einst in einer zwei Zimmerwohnung gegründet hatten und die heute zu den bedeutesten Softwareunternehmen der Europäischen Union gehörte. Und die Gewinnzahlen waren auch im letzten Jahr zum dritten Mal infolge gewaltig gestiegen. Draußen vor den Fenstern war es bereits dunkel und ein fahler Dreiviertelmond hing über den Dächern jener beschaulichen Stadt, welche noch immer die Heimat ihres Unternehmens war, obgleich einige Experten seit längerem rieten, den Sitz doch in eine Metropolregion zu verlegen, um leichter gerade den Bedarf an hochspezialisierten Fachkräften decken zu können. Doch die Gebrüder Baumann sahen sich selbst als lokale Patrioten.

Whiskeygläser mit edlem Inhalt hielten sie zwischen ihren manikürten Fingern. Nachdem die Manager zum Ende des Jahresauftaktgespräches gegangen waren, hatten sie das Licht dämmen lassen, um ihre Drinks in entspannter Atmosphäre nehmen zu können. Sie hielten sich gerne auf in den Räumlichkeiten dessen, was sie geschaffen hatten, wenn alle Angestellten längst daheim sich befanden. Sowohl Dominik als auch Marcell weilten hier wesentlich lieber als etwa bei Frau und Kind. Aus unsichtbaren Lautsprechern rieselte klassische Musik auf sie hinab, welche die Brüder zwar nicht verstanden - trotz des großen Erfolges konnte man sie jenseits eines gewissen Bereiches als nicht besonders intelligent bezeichnen -, aber dennoch als modisch-schick empfanden. Warum sie das taten, wussten die Brüder selbst am wenigsten, aber, wie bereits erwähnt, besonders intelligent waren sie nicht. 

Marcell schüttete aus der Karaffe, die aus feinstem Kristallglas bestand, edlen Whiskey für den Bruder und sich nach. Beethoven spielte auf; luftig und leicht. 

Die größte Konkurrenz war im letzten Jahr ausgeschaltet worden. Es hatte sich um eine Softwareschmiede in Lyon gehandelt, die sich ebenfalls im Besitz einer realen Person befunden hatte. Die Brüder Baumann hatten eine international agierende Detektei für eine Schmutzkampagne der widerwärtigsten Art beauftragt. Obgleich nichts an der Sache dran war, tauchten überall im Nachbarlande Gerüchte auf, dass Gilbert, so der Vorname des Besitzers, pädophile Neigungen besäße und sich zudem bereits an Kindern vergangen habe. Bewiesen werden konnte nichts, aber die Menschen hatten den Floh unauslöschlich im Ohr. Gilbert sah keine andere Möglichkeit, sein Lebenswerk zu retten, als es zu verkaufen. Die Gebrüder Baumann zahlten, so sagten sie, einen mehr als fairen Preis dafür. 

Von Zynismus und Ironie geschwängert, schwebten die Klänge von Frederic Chopin durch den elegant und hochwertig eingerichteten Raum. Ein Grinsen lag auf den Gesichtern der Brüder im sanften Licht. Der teure Whiskey funkelte geheimnisvoll und auf irgendeine Art bedrohlich in diesem Schein. 

Da hatte es einen Journalisten gegeben, von welchem die Schmutzgeschichte rund um Gilbert gewittert worden war. Dieser lag nun begraben auf einem Friedhof in Hamburg. Es war ein schrecklicher Autounfall mit Fahrerflucht gewesen, der niemals ganz hatte aufgeklärt werden können. Zudem waren nach dem Ableben in einer Cloud, die angeblich dem Verstorbenen gehört hatte, schriftliche Unterhaltungen aufgetaucht, in welcher der Journalist den Holocaust leugnete. All dessen Bekannte wiesen das bis heute energisch zurück. Die Baumann Brüder bezeichneten es in Momenten wie diesen hingegen grinsend als die Strafe Gottes, obgleich es lediglich eine überhöhte und gezielte Vernichtung voller Widerwärtigkeit gewesen war. 


Tschaikowsky spielte auf. Diesmal war es an Dominik, die Gläser zu füllen. Für einen Drink, so kamen sie überein, reichte die Zeit an diesem Freitagabend noch. Mit einer übertriebenen wie gespielten Höflichkeit dankte Marcell seinem Bruder. Ein ADAC-Rettungshelikopter flog über die Innenstadt in Richtung der südlichen Autobahn. Vom Büro aus waren die Positionslichter zu erkennen. 

Es wurde ja bereits erwähnt, liebe Leserinnen und Leser, dass die Firma bereits zum wiederholten Male schwarze Zahlen schrieb. Das hatte die Brüder Baumann allerdings nicht davon abgehalten, zum Ende des alten Jahres das hauseigene Call Center zu schließen und den Kundenservice an einen externen Dienstleister abzugeben. Vierundvierzig Menschen, von der einfachen Teilzeitangestellten über die Sekretärin bis hin zu den Teamleitern und dem Standortchef, standen nun ohne Jobs da. Es war nicht so, dass der interne Kundenservice schlechte Statistiken fabriziert hätte, aber die Lösung mit dem Outsourcing war schlicht und einfach günstiger. So kam Marcell schneller an seine Yacht, die ein Mann wie er schon brauchte, um endlich im Club der Superreichen anzugelangen. Daher wurden zum neuen Jahr auch beim externen Dienstleister für Gebäudereinigung Änderungen vorgenommen. Die alte Putzfirma war ausgetauscht worden.  Das neue Unternehmen arbeitete achtzehn Prozent günstiger. Dessen Angestellte bestanden aus jenen Menschen, die ihrer Würde wegen arbeiten gehen wollten, aufgrund diverser Faktoren aber keine andere Arbeit fanden. Sie standen unter einem stetigen seelischen Druck und befanden sich am körperlichen Limit immer. Weil sie von der dubiosen Putzfirma gewollt in permanenter Angst um ihre Jobs waren, schleppten sie sich gar krank zur Arbeit. Die Brüder Baumann interessierte diese allerseits bekannte Tatsache hinsichtlich des neuen Geschäftspartners  keinen Deut. Für sie war Sozialdarwinismus die einzig gerechte Gesellschaftsform und Menschen, welche gar staatliche Unterstützung bezogen, waren ihnen  unerträglich, ein Graus. In ihrem Reich hätte es kein Sozialsystem gegeben, nicht einmal im kleinsten Ansatz.

Zum Abschluss des Abends spielte Johann Sebastian Bach eine klare und luftige Kantate. Die Brüder lauschten der euphorischen Musik und tranken genussvoll, bevor sie ihren Chauffeuren im Foyer per WhatsApp das Zeichen gaben, die schweren SUVs in der Tiefgarage zu bemannen. In Seelenruhe verließen sie den Konferenzsaal und die Gläser blieben zurück. Die Angestellten würden sie am Montagmorgen entfernen. Dominik dachte an das Geschenk im Handschuhfach des Porsche. Dort lag eine Uhr für über zweitausend Euro. Es war eine Gabe für seine nebeneheliche Geliebte, die er in letzter Zeit etwas vernachlässigt hatte; nur eine kleine Aufmerksamkeit. Auch Marcell leistete sich neben der Ehe die ein oder andere Affäre, doch darüber redeten die Baumann Brüder nie. Ein Mann genoss und schwieg. 

Am Ende des langen Ganges vor der Tür des Konferenzraums befand sich der Zugang zum Lift. Weil das smarte Gebäude an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit längst im Energiesparmodus lief, schien das Licht lediglich rudimentär und die Türen aus silbernem Metall glichen dem Tor zu einer unheilvollen Welt. Doch Vergleiche dieser Natur stellten die Brüder nicht an, da sie auf solchen Gebieten wenig bis gar keine Fantasie besaßen. Die Türen surrten auseinander. Die Brüder traten in die Kabine. Die Türen schlossen sich wieder. Hinab ging die Fahrstuhlfahrt. Nach gut zwei Minuten wunderte sich Dominik, warum der Abstieg heute gar so lange dauerte. Er schaute auf das Display, wo in grauer Farbe auf hellem Grund die Stockwerke angezeigt wurden. Heute jedoch stand dort lediglich ein großer Buchstabe; H. Dominik brach in einen Wutanfall aus. Er hielt das Ganze für einen technischen Defekt und nahm sich vor, Hausmeister und Herstellerfirma noch am heutigen Abend auf eine gar unfreundliche Art und Weise zu kontaktieren. Schließlich zahlten sie reichlich Geld, damit ein reibungsloser Betrieb gewährt blieb. Marcell stimmte mit einem Kopfnicken zu. Dominik griff zum Smartphone. Doch es gab keinen Empfang. Der Fahrstuhl fuhr weiter. Langsam dämmerte es den beiden Brüdern, dass der Schacht gar nicht solche Ausmaße haben konnte, um eine derartig lange Fahrt wie diese zu ermöglichen. Mehrmals wurde der Knopf für den Notruf gedrückt. Nichts geschah. Dann stieg die Temperatur in der Kabine an. Mit jedem weiteren Meter, den der Fahrstuhl hinab fuhr, kletterte sie hinauf, so dass sich bald Schweißperlen sowohl auf der Stirn von Dominik als auch auf der von Marcell bildeten. Die teuren Jacken ihrer maßgeschneiderten Anzüge streiften sie ab, doch der Stoff von Hemden und Hosen klebte an ihren Leibern. Mit einem sanften Ruck kam der Lift nach unbestimmbarer Zeitdauer zum Halten. Seltsam verstört blickten die Gebrüder Baumann einander an. Endlich surrten die Fahrstuhltüren auseinander. 

Die Luft, welche nun in die Kabine hineindrang, war derartig heiß, als habe irgendwer die Tür zu einem Kesselraum geöffnet. Vor ihnen bestand die Welt aus schwarzen Felsen, von denen Fälle glühenden Magmas hinabstürzten. Ströme glühenden Magmas durchzogen auch die Ebenen. Der Himmel wurde von einem feuerroten Schein erfüllt, aber man sah keine Sonne, welche diesen erzeugte, sondern da gab es nur vereinzelt finstere Wolkenfetzen. Die Luft war dick wie gammeliger Honig. Bereits bei ihren ersten Atemzügen an diesem Ort merkten die Brüder, dass das Inhalieren hier die reinste Qual bedeutete. Es brannte massiv.  Dominik hämmerte gleich einem Irren auf die Taste, die den Fahrstuhl wieder hinauf ins Erdgeschoss bringen sollte. Nichts geschah. Von den finsteren Bergen aus schwarzem Fels drangen Schreie hinab. Es waren die Schmerzenslaute von Abermillionen gequälter Seelen. Die Brüder Baumann gingen in die Knie und fingen an, zu einem Gott zu beten, für den sie sich niemals interessiert und an den sie schon gar nicht geglaubt hatten. Gott sollte sie, die reichen und mächtigen Gebrüder Baumann, fort bringen von diesem Orte. Doch nichts geschah. Und dann sahen sie die Kreaturen, die sie aus der Kabine ziehen und in die Tiefen dieser Welt bringen würden. Diese näherten sich in einem raschen Tempo. Um den Schrecken dieser Geschöpfe zu beschreiben, dafür fehlten selbstverständlich die Worte. Die Brüder Baumann öffneten ihre Münder. Gellende Schreie stießen sie aus, für welche sich jedoch niemand interessierte.