ultrakurz; "Sie betteln aber schlimm(...)"



 
von: Dr. Markus Herbig; Abteilungsleiter Extremistische Strömungen

an: Heribert Josef Huppertz; Präsident Bundesnachrichtendienst

Operation Der Himmelsritt

Klassifikation: Geheime Chefsache 

Lieber Heribert, 

ich möchte umgehend zur Sache kommen. 

In einem Vorort von Bonn nahmen wir heute um 10:20 Uhr eine männliche Person fest, die im dringenden Verdacht steht, an einem mutmaßlichen Anschlag gegen eine Großstadt im Südwesten führend beteiligt zu sein. Der Tarnname dieses Terroraktes trägt in den betreffenden Kreisen die Bezeichnung Der Himmelsritt. 
Der Verdächtige schweigt hartnäckig. Daher wissen wir aktuell nicht, was genau seine Rolle innerhalb der Operation Der Himmelsritt ist. Die Verhörstufe wird daher demnächst erhöht. 

Bei seiner Festnahme befand der Verdächtige sich in Begleitung zweier Chihuahuas. Was es damit auf sich hat, wissen wir nicht. Das größere der beiden Tiere ist sandfarben, das kleinere weiß mit leichten Flecken. Zudem fanden wir ein Zugkarte für die zweite Klasse in seinem Besitz. Es handelt sich dabei um das Rheinland-Pfalz-Ticket, so dass wir keinen genauen Zielpunkt bestimmen können. 

Ich werde mich bei Dir melden, sobald es Neuigkeiten in dieser Sache gibt. 

Beste Grüße 

Markus 

PS. Die zwei Hündchen befinden sich bei meiner Tochter in bester Hand. Sie ist Ziehmutter solange, bis wir wissen, was genau wir mit ihnen machen sollen. 




Jürgen aus Jena befand sich mit dem Zug auf dem Weg nach Mainz, wo er das bundesweite Treffen der Freunde der Chihuahuas e. V. besuchen wollte. Mit seinen zwei Chihuahua-Damen Foxy und Kiki war er bereits Mitten in der Nacht von daheim aus aufgebrochen, da er aus Kostengründen nur mit dem Regionalexpress reiste. Jürgen galt als ein wenig schrullig, aber nett. Um Punkt 08:00 Uhr sang er den Hunden ein Liedchen; Old Mcdonald hat ne  Farm. Die ziemlich breiten Jugendlichen auf dem Viererplatz etwas weiter den Wagon hinunter, die die Nacht durchgefeiert hatten, zeigten sich tolerant wie amüsiert. Einer der Ihrigen filmte Jürgen und seine Hunde gar mit dem Smartphone und als dieser ausgesungen hatte, spendeten sie allesamt Applaus. 
Beim Umsteigen in Bonn kaufte Jürgen sich in einem Schnellrestaurant zwei Burger, Pommes uns ein Päckchen Chicken Nuggets. Als er das Mahl im Anschlusszug verspeiste, bettelten die Tiere derartig penetrant, dass sie ihm fast auf die Schulter stiegen. Von zwanzig Nuggets aß Jürgen lediglich fünf. Den Rest verspeisten Kiki und Foxy. 
Die in der Nähe sitzenden übrigen Fahrgäste hörten Worte wie: "Nein, ich ertrag dieses Gebettel nicht mehr!" und "Das war jetzt der letzte Nugget", um dann zu sehen, wie der Mann von Anfang fünfzig mit einem Grinsen auf dem Gesicht den Tieren weiteres Hähnchen verfütterte. Auch wurde er nicht müde, Foxy und Kiki stetig zu verkünden, wie lange die Fahrtzeit nach Mainz noch anhielt. 
In Remagen legte der Zug einen Stopp von etwa einer Viertelstunde ein, um weitere Wagons anzukoppeln. Die Chihuahuas schliefen auf Jürgens Schoß, während der das Geschehen auf den Bahnsteigen jenseits der Scheibe verfolgte. 

Der unscheinbare Mann von Mitte dreißig, der in Remagen in den Regionalexpress stieg, sei hier schlicht und einfach Romeo genannt. Er sah aus wie ein Mitteleuropäer, hätte aber auch Russe, Türke, Brasilianer, Spanier oder Brite sein können. In Anbetracht dessen, was Romeo gleich tun musste, wären anderen vor Nervosität längst der Inhalt des Magens hochgekommen. Er jedoch war in solchen Angelegenheiten längst der absolute Profi. Eine kleine, aber hinsichtlich der Größe recht schwere Reisetasche trug Romeo lässig über der Schulter. Im ersten Wagon fand er nicht, wonach er suchte. Im zweiten stoppte Romeo, um sich eine Person genauer anzusehen. Sie saß alleine auf einem Doppelplatz und zwei kleine Hunde schliefen auf deren Schoß. Die Person war zudem männlich und und die Hunde gehörten eindeutig zur Rasse der Chihuahuas. Zweifel gab es keine, das musste das Zielobjekt sein. 
Romeo trat heran, beugte sich gar ein Stück hinab. 
"Entschuldigen Sie", fing Romeo an, "wie ich sehe, haben Sie zwei Chihuahuas. Meine Tante hat gleich drei davon. Das sind viel bessere Hunde, als die meisten denken. Sie sind treu, wachsam und überaus mutig." 
"Das sind sie in der Tat. Sie betteln aber schlimm. Das muss man aber in Kauf nehmen, guter Mann", antwortete Jürgen höflich und streichelte die vor sich hin schnarchenden Hunde. 
Sie betteln aber schlimm! Das war neben den zwei Hunden - der eine klein und weiß, der andere größer und sandfarben - Teil der Erkennung. Sie betteln aber schlimm! Das war die Parole, die den unbekannten Mann hier im Zug eindeutig als die Zielperson identifizierte. Sie betteln aber schlimm! 
"Onkel Al-Jaber gibt dir das hier mit Freude. Bleib gesund", sprach Romeo. 
Elegant nahm er die Tasche von der Schulter und stellte sie in den Fußraum vor Jürgens Sitz. Dann entfernte er sich schnellen Schrittes. 
"Der geht bestimmt auf Toilette und kommt gleich wieder, um sich hierher zu setzen. Vielleicht hat er sogar noch ein paar Leckerchen für euch. Onkel Al-Jaber. Leute gibt's, die gibt's gar nicht", raunte Jürgen den schlummernden Hunden zu. 

Doch der Fremde dachte gar nicht daran, zum Platz zurückzukehren. In aller Ruhe verließ er den Zug und den Bahnhof zu Remagen, um in einen wartenden PKW zu steigen. Er hatte alles richtig gemacht. Die Parole war auf das Wort genau passend gewesen und auch die Hunde hatten ausgesehen, wie sie ihm beschrieben worden waren. Was sich in der Tasche befand, wussten er nicht und wollte es auch nicht wissen. Seinen Auftrag hatte er erfüllt. Was der Fremde ebenfalls nicht wusste, war, dass der wahre Kontaktmann inzwischen in einem sicheren Haus des Bundesnachrichtendienstes saß und auf die nächste Verhörstufe wartete. 

So fuhr der Zug weiter Richtung Süden. Jürgen sang Kiki und Foxy ein Liedchen, nachdem diese erwacht waren und direkt sich den letzten verbliebenen Burger einverleiben wollten. Er dichtete dafür eine Schnulze von Hansi Hinterseer um. Es klang windschief, aber die anderen Fahrgäste waren amüsiert über den schrägen Vogel mit seinen zwei Chihuahuas. 
"Amore Mio. Ihr bettelt schlimm. Schlimmer als zweitausend Ochsen", trällerte Jürgen vor sich hin. 
Zu seinen Füßen lag noch immer die Tasche, die der seltsame Kerl dort abgelegt hatte. Jürgen hatte sie schon fast wieder vergessen. Sie enthielt den Zünder für einen nuklearen Sprengsatz, den eine Terrororganisation in näherer Zukunft vor den BASF-Werken in Ludwigshafen zu zünden gedachte. 
Wäre Jürgen nicht genau zu dieser Zeit in eben diesem Zug gewesen, hätte Romeo die nicht erfolgte Übergabe gemeldet und den Terroristen wäre sicherlich eine andere Möglichkeit eingefallen, um an ihr Ziel zu gelangen. Somit rettete Jürgen einen Teil dieser Welt. Doch davon wusste der schräge Vogel in diesem Moment selbstverständlich nichts.