Hier draußen war die Luft ebenso giftig wie im Zentrum der Großstadt, die in diesen frühen Stunden des kalten Tages am Horizont in roten und violetten Lichtern träge vor sich hin schimmerte. Überall auf dem Planeten war die Luft giftig, jedenfalls wenn ein Wesen zu der Gattung Mensch gehörte. Daher trugen Tolga und sein Kumpel Lars Atemschutzmasken mit speziellen Filtersystemen, wann immer sie sich außerhalb geschlossener Räume aufhielten. Ein autonomer Schwebezug hatte sie und eine Vielzahl anderer männlicher Menschen hinausgebracht zur Superbaustelle, wie man diesen Arbeitsplatz scherzhaft nannte. Es handelte sich zunächst um einen gigantischen viereckigen Graben von der Größe einer jener Kleinstädte, wie es sie vor Jahrhunderten reichlich auf der Erde gegeben hatte. Heuer existierte lediglich noch der Moloch. Früher hatte es auch gigantische Wälder sowie saubere Gewässer und Eis gegeben. Heuer waren lediglich noch Felsen und schmieriger Schmutz vorhanden, dessen Geruch bereits den kommenden Krebs verriet. Anderweitig wurde nun der Sauerstoff erzeugt, welchen die verbliebenen Menschen zum Überleben brauchten. Auch die Nahrung kam längst nicht mehr vom Feld oder aus dem Stall.
Der besagte Graben wurde, weil es zu dieser Jahreszeit und zu dieser Stunde noch stockfinster war, von einer ganzen Armee an Flutern erhellt. Zu diesem Zeitpunkt mochte er sicherlich bereits einen Kilometer tief sein. Skelette aus silbern blitzendem Stahl stützen seine Wände. Von unten her drangen hämmernde, scheppernde Geräusche schwerer Tiefbauinstrumente hinauf, während darüber im schwarzen Firmament unter den wegen der Luftverschmutzung niemals sichtbaren Sternen graue Drohnen ihre Kreise zogen. Die Drohnen wachten darüber, dass sich keine Seele unerlaubt von Baustelle entfernte und dienten zudem dazu, Aufstände bereits im Ansatz zu vermeiden. Mit Lasern und Betäubungspfeilen waren sie bewaffnet.
Auf dem Weg hin zu einer schwebenden Plattform erfolgte nicht eine Kontrolle der Arbeiter. Kein Wesen von klarem Verstand begab sich freiwillig an einen solchen Ort. Lediglich eine graue Maschine, deren Sichtleiste so bedrohlich wie hasserfüllt funkelte, signalisierte, wenn die maximale Nutzlast des Fahrstuhls erreicht worden war. Mit etwa fünfhundert anderen Arbeitern, die allesamt in blauer Schutzkleidung steckten, glitten Lars und Tolga endlich hinab in Richtung Boden der quadratischen Grube. Niemand redete. Das lag zum einen daran, dass während der gesamten Dienstzeit Schweigen vorgeschrieben war, zum anderen stand keiner Person wirklich die Lust nach einem Gespräch. Stattdessen hörte man häufig bellendes Husten und schmerzhaftes Stöhnen. Die Menschen mussten sich krank zur Arbeit schleppen, wenn sie überleben wollten. Die medizinische Versorgung in diesem finsteren Arm des Multiversums existierte kaum. Lediglich in Ausnahmesituationen, über die gefühlslose Medici entschieden, wurde der Zugang dahingehend gewährt, aber Lohnfortzahlung gab es dennoch keine. Unten angekommen verteilten sich die Menschen. Einige nahmen Positionen auf der Ebene ein, andere, zu denen auch Lars und Tolga gehörten, verschwanden durch kleinere Zugänge in den Seitenwänden unter die Erde. Hier befand man sich in einer Art Höhle, welche von grellen Scheinwerfern ausgestrahlt wurde. Bedrohlich, dabei die langen Klingen umklammert haltend, standen die tiefgrauen Überwachungsdrohnen parat, um jeden Anflug des Aufstandes auch hier im Keim zu ersticken. Unter Tage konnte es gefährlich sein, Waffen abzufeuern, daher griff man auf Schwerter zurück. Eine silbern funkelnde Kabine in der Form eines Zylinders schwebte über einem kreisrunden Loch, welches einen gähnenden Abgrund enthielt. Die Richtung für Tolga und Lars ging weiter abwärts. Der Zylinder glitt schnell hinab und durch eine finstere Materie hindurch, welche die Wände des Schachtes verkleidete. Sie hielt fern die Temperatur, die mit zunehmender Tiefe weiter anstieg, und bestand aus einem exotischen Material, welches man wohl am ehesten der Gruppe der Kunststoffe zuordnen konnte. Kilometer um Kilometer legte der Zylinder mit den zwanzig Menschen an Bord zurück, bevor er sanft abbremste, um endlich zum Halten zu kommen. Zischend schwenkten die Türen beiseite.
Vor den Menschen lag nun ein Stollen, ein langer Gang mit schwacher Beleuchtung. Im Zwielicht erkannte man das Ende nicht, aber die Bewachungsdrohnen mit den Händen an den Schwertern waren deutlich im Halbdunkeln auszumachen, da ihre Sichtsensorik bedrohlich rot schien. Und es gab die Geräusche schweren Geräts zu hören, welches sich irgendwo dort vorne ins Erdreich grub. Mit gesenkten Köpfen schlichen die Menschen, schlichen Lars und Tolga den Gang entlang. Es war stets schwer zu definieren, wie lange der Marsch durch diesen Korridor anhielt, weil auf eine gewisse Art und Weise die Zeit hier unter Tage ihre Bedeutung verlor, wann immer man diesen Ort betrat. Dann zeichnet sich ein Lichtschein am Ende des Ganges ab, aber er konnte in keinem übertragenen Zusammenhang mit jenem Lichtschein am Ende des Tunnels stehen, welcher häufig die Hoffnung symbolisierte. Hoffnung, so viel war sicher, existierte hier nicht. Der Gang weitete sich und Tolga und Lars sahen zu ihren Füßen das, was sie einen jeden Tag aufs Neue sehen mussten.
Der Stollen weitete sich zu einer gigantischen Grube; ein riesiges Loch abertausende von Metern unter der Oberfläche. Unzählige Scheinwerfer, die wie eine gewaltige Sonne als Einheit wirkten, tauchten in grelles Licht einen silbernen Schaufelradbagger, der die bereits aus der Ferne zu vernehmenden Geräusche erzeugte. Das große Gerät wurde flankiert von einer ganzen Truppe an Menschen, die mit Schaufeln und Spitzhacken Knochenarbeit verrichteten. Auch hier durften die Wachdrohnen mit ihren scharfen Klingen nicht fehlen. Das ferne Ziel all der Tätigkeiten war die Freilegung des Erdkerns, um eine neue Energiequelle erschließen zu können. Denn der Neuen Welt konnte niemals genug an Energie zur Verfügung stehen. Wir schrieben das fünfhundertsiebenundzwanzigste Standardjahr nach der Großen Revolution, der blutigen Machtübernahme und Unterwerfung der gesamten Menschheit durch die Maschinen (KI). Tolga und Lars wussten, dass sie schuften mussten, bis der Tod sie endlich erlöste; hier an diesem Ort unter Tage.