ultrakurz; Reinkarnation?




Mark Lehmann betrieb die freie Autowerkstatt im Gewerbegebiet jenes Stadtteils, in dem ich mit meiner Familie seit beinahe zehn Jahren lebte. Er galt als ein wenig schräg aufgrund seiner abenteuerlichen Geschichten, welche er immer dann zum Besten gab, wenn eine Person ihr Fahrzeug bei ihm ablieferte oder abholte.  Ob die Kundin und der Kunde es wollten oder nicht; beim Werkstattbesuch gab es stets eine Erzählung gratis obendrauf. Dennoch hielten ihm viele Personen aus dem Bezirk eisern die Treue, was nicht nur an den fairen Preisen und der fachlichen Kompetenz sowie der Ehrlichkeit von Mark Lehmann lag, sondern auch daran, dass er im Großen und Ganzen schlicht ein lieber Kerl war. 

Am hiesigen Gymnasium arbeitete ich als Lehrer für Geschichte und Deutsch, der zumeist die Sekundarstufe II unterrichtete. Ich legte keinen Wert auf die Nennung und daher posaunte ich es nicht herum oder ließ es auf die Kreditkarte drucken, dass ich in Geschichte einen Doktortitel besaß. Dennoch hatte sich diese Tatsache auf irgendwelchen Wegen bis in die Werkstatt geschlichen und eines Tages, als ich unseren Ford zur Inspektion brachte, fragte mich Mark, in welchem Bereich ich denn promoviert hätte. Und so berichtete ich ihm, dass meine Dissertation ein gesellschaftliches Thema am Vorabend des I. Weltkrieges behandelte und weil fast jeder Wissenschaftler es zwar nicht zugibt, aber sich äußerst geschmeichelt fühlt, wenn er nach seiner Arbeit gefragt wird, wurde aus meinem Bericht rasch ein Monolog von einer guten halben Stunde, welchem Mark aufmerksam lauschte, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen. Nachdem ich geschlossen hatte, schaute der Kfz-Meister ernst und nachdenklich drein, bevor er sagte: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich schon mal gelebt habe. Das war in der Zeit um den I. Weltkrieg."
Mark wirkte, als wolle er unbedingt etwas loswerden. Als warte er nur darauf, verbal loslegen zu dürfen. 
Er hatte mir gerade seine volle Aufmerksamkeit geschenkt und nun war es nur mehr als fair, dass ich ihm meine schenkte, obgleich ich mir ziemlich sicher war, dass das wieder eine Geschichte werden täte, wie jene, wo ihn finstere Außerirdische entführt hatten. Also forderte ich ihn auf, mir doch Näheres zu erzählen. 
"Ich habe manchmal sehr reale Träume und am Tag überkommen mich ebenfalls manchmal sehr intensive Bilder. Die sehe ich vor meinem inneren Auge klar und deutlich. Es ist fast wie so eine Vision. Zum einen sitze ich in meinem Zimmer mit vielleicht vierzehn Jahren und schreibe mit dem Füller einen Brief an meine Großmutter. Aus der Zeitung habe ich einen Artikel ausgeschnitten, wo es um die Titanic geht, die gerade erst gesunken ist. Meine Großmutter hat sich sehr für die Reichen und die Adligen und für dieses Luxusschiff interessiert, wo ja eben viele Adlige und Reiche mit gefahren sind. Sie hat alles gesammelt, was sie über die Titanic in die Finger bekommen konnte. Deshalb habe ich es ihr ausgeschnitten und mit dem Brief geschickt. Ich habe meine Großmutter, die Elfriede hieß, sehr gemocht. Dann bin ich im I. Weltkrieg als Soldat an der Front. Ich sitze in meinem Unterstand, die Kameraden sind um mich herum und Lampen bringen Licht herein. Es ist ziemlich kalt. Wieder schreibe ich Elfriede, meiner Oma. Draußen ertönt ohne Pause das Donnern der gegnerischen Kanonen. Dann sterbe ich. Beim Sturm auf die gegnerische Stellung erwischt mich das Maschinengewehr. Ich spüre den kurzen, aber intensiven Schmerz, als die Kugeln meinen Brustkorb zerfetzen. Es ist, als ob es mich tatsächlich, also vollkommen in der Wirklichkeit erwischt, Mann! "
Weiterhin versicherte er mir, dass seine richtige Oma logischerweise nicht Elfriede sein könnte. Seine Großmutter hieße Hannelore und sei 1935 geboren worden und anno 2019 gestorben. Mit der Titanic, Adel und Geldadel habe sie niemals etwas zu tun gehabt, sondern eher mit dem King of Rock, Elvis Presley. 
"Wegen der Träume und Visionen habe ich selbstverständlich Ahnenforschung betrieben. Weder mütterlicher- noch väterlicherseits gab es zur Zeit des I. Weltkrieges eine alte Frau, die Elfriede hieß. Auch ist keiner der Männer unserer Familie im I. Weltkrieg gefallen. Ich habe früher also als ein Mensch gelebt, der nichts mit meiner jetzigen Familie zu tun gehabt hatte", erklärte er abschließend mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln. 

Lisa Singer gehörte zum Abiturjahrgang 2015 und hatte als einen ihrer Leistungskurse Geschichte bei mir belegt. Leider war es mir nicht gelungen, diese ehemals glänzende Schülerin von einem historischen Studium zu überzeugen. Sie wollte anderen Menschen direkt helfen und arbeitete deshalb mittlerweile als Assistenzärztin in einem Krankenhaus. In der Karwoche schrieb Lisa mich über Instagram an. 

Hey Doc, 

ich hoffe, es geht Dir gut. 
Ich bin über Ostern bei meinen Eltern in der Stadt. Mein Vater hat etwas sehr Interessantes im Nachlass seines kinderlosen Bruders entdeckt. Das kannst Du sicherlich gut gebrauchen für Deinen Unterricht. Mein Vater würde es der Schule überlassen. 
Komm doch über die Ostertage einfach vorbei und schau Dir den Nachlass an. 

LG

Lisa

Darunter war ein Link, der mich via Google-Maps zu ihrem Elternhaus führen würde. 
Ich sagte zu und wir verabredeten uns im Laufe des Hin- und Herschreibens für den Ostersamstag. 

An jenem Tag traf ich um 15:00 Uhr bei der Familie Singer ein. Vater und Mutter begrüßten mich herzlich, kannte man sich doch von dem einen oder anderen Elternsprechtag. Beim Anblick von Lisa wurde mir wieder einmal schmerzhaft bewusst, wie schnell die Zeit verstrich. Im Wohnzimmer nahmen wir für ein Bier am Esstisch Platz, auf dem bereits ein schlichter Karton stand. In ihm ruhten jene Artefakte, die mich heute in dieses Haus geführt hatten. 
"Der Inhalt", fing Lisa zu erklären an, "stammt von irgendeinem Cousin meines Onkels und der hat ihn wiederum über viele Stationen von seiner Urururgroßmutter oder so erhalten. Wenn die Frau noch leben würde, wäre die jetzt über hundertachtzig Jahre alt. Es sind Briefe eines männlichen Enkelkindes an seine Großmutter. Es sind ziemlich viele Briefe und sie fallen genau in jene Zeit, über welche du promoviert hast. Wie gesagt, wir überlassen sie dir gerne. Vielleicht kannst du mit deinem aktuellen LK ein interessantes Projekt draus machen."
Nachdem wir uns für etwas mehr als eine Stunde nett über Gott und die Welt unterhalten hatten, bedankte ich mich vielmals, packte den Karton und fuhr in meinem Ford heimwärts. 

Weil aktuell Reifeprüfungen anstanden, kam ich erst mit Beginn der Sommerferien zum Sichten all der Briefe, welche sich im Karton befanden. 
Sämtliche Post, die an eine Frau Elfriede Schreiner, wohnhaft in einer bayrischen Kleinstadt, gerichtet war, steckte in den Original-Umschlägen. Briefmarken aus der Spätzeit des Deutschen Kaiserreiches zogen an meinen Augen vorüber und anhand der Poststempel fiel es mir leicht, die Sache chronologisch einzuordnen und danach vorzugehen. 
Der wahrscheinliche Briefwechsel, von dem ich nur Zugriff auf eine Seite besaß, begann im Jahre 1905. Die Handschrift des Enkels, der übrigens Wilhelm - Willi - Dahlmann hieß, wirkte zu dieser Zeit noch recht kindlich, ausdrücken konnte Willi sich aber bereits ordentlich. Die Themen, um die es in seinen Briefen ging, waren Alltäglichkeiten. Viel berichtete der Enkel von den Geschehnissen in der und rund um die Schule. Später wurde die Schreibweise immer stärker und die Themen bezogen sich auf Freundschaft, heimliche und weniger heimliche Lieben, das aktuelle Tagesgeschehen, wobei sich stets auf diverse Zeitungen bezogen wurde. Manchmal, wenn es um die Königshäuser Europas ging, schnitt Willi Artikel aus, um sie den Briefen beizulegen. Besonders intensiv tat er das im April und Mai 1912, weil in diesem Frühjahr im Nordatlantik ein Schiff der White Star Line gesunken war, welches sich Titanic nannte. Im Jahr 1915 machte Wilhelm Abitur, um sich kurz darauf freiwillig zum Kriegseinsatz zu melden. Eine gewisse patriotische Begeisterung brannte in ihm, welche im Stellungskrieg an der Westfront und Dreck der Schützengräben recht schnell erlosch. Ein jeder Brief von dort wurde in der Folge immer depressiver und hoffnungsloser. Im Herbst 1916 berichtete der zum Gefreiten beförderte Wilhelm Dahlmann von einem seltsamen Vorfall an der Front. Er erzählte von einem kurzen grünlichen Schein auf dem Schlachtfeld, der einen Kameraden namens Walter einfach verschluckt habe. Vielleicht waren das erste Anzeichen dafür, dass das Grauen des Krieges den Verstand einforderte. Dann endete die Korrespondenz und - ich nahm an, dass Lisa das Schriftstück zu den Briefen gelegt hatte - ich hielt eine Note in der Hand, welche an Wilhelms Eltern gerichtet war und in der Beileid zum Ausdruck gebracht wurde, da Wilhelm Peter Dahlmann im Januar 1917 tapfer kämpfend für Kaiser und Vaterland gefallen sei. 
Für den Moment starrte ich auf die Kiste mit all den Briefen und durch diese hindurch in die Unendlichkeit des Seins hinein. Ich bemerkte kaum, dass die Note in meiner rechten Hand deutlich zitterte. Eine ganze Weile hockte ich einfach dort, veränderte den Blick nicht, hörte das Radio leise im Hintergrund spielen. Dann wanderte meine Hand zum Smartphone und meine Finger tippten rasch via Instagram einen Text sowie eine Frage. Lisa antwortete etwa eine halbe Stunde später. 

Ich kenne weder eine freie Werkstatt in der Nähe des Ikea, noch sagt mir der Name Mark Lehmann etwas. Ganz, ganz sicher kann der Mann, den Du meinst, nichts von den Briefen des Wilhelm Dahlmanns an seine Großmutter wissen. Außerdem hat mein Onkel in Bayreuth gewohnt und das ist ja nun etwas weit weg. So gehe ich mal hundertprozentig davon aus, dass auch mein Onkel diesen Mark Lehmann nicht gekannt hat und somit ihm auch nichts von den Briefen erzählt haben kann. 

Ich dankte ihr herzlich für die rasche Antwort und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach vier an diesem sonnigen Nachmittag, einem Dienstag. Mark Lehmann weilte noch mindestens anderthalb Stunden in seiner Werkstatt im Gewerbegebiet vor den Toren dieser Stadt, die locker über fünfhundert Kilometer von jener bayrischen Kleinstadt entfernt lag, in der Wilhelm Dahlmann zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelebt hatte. Ich nahm den Karton und machte mich zum Auto auf, um hinaus ins Gewerbegebiet zu fahren. Mark Lehmann war ganz sicher niemals von sadistischen Außerirdischen entführt worden, aber vielleicht, ja vielleicht hatte er vor über hundert Jahren schon mal gelebt als ein gänzlich anderer Mensch an einem gänzlich anderen Ort.