Astrid und das Multiversum

 



Das altehrwürdige Gymnasium, an welchem ich seit Beendigung meines Referendariates unterrichtete, befand sich im Zentrum der Großstadt an den grünen Hängen des Mittelgebirges. Hierher hatte es mich also von meiner Heimat am Rhein endlich verschlagen und nach nun fast zwei Dekaden fühlte ich mich an diesem Orte heimisch, was so am Anfang wahrlich nicht zu erwarten gewesen war. Ich hatte meine geliebte Gattin hier kennengelernt und mit unseren zwei Kindern wohnten wir in einem Vorort ganz nah an der Grenze zum Wald. 

Beruflich lehrte meine Wenigkeit zumeist den jungen Damen und Herren der Sekundarstufe II die Fächer Geschichte, Latein und Griechisch, aber die Schulleitung hatte es vor gut vier Jahren gewollt, dass ich eine Gruppe Sextaner übernahm und sie als Stammgruppe bis zum Ende der zehnten Klasse begleitete. Anfänglich war es für mich, der es gewohnt war, mit fast Erwachsenen, welche dazu noch die Leistungskurse aus freien Stücken belegten, zusammenzuarbeiten, recht schwer, plötzlich Kinder zu unterrichten, doch ich hatte es nie an Motivation und alternativen Ideen mangeln lassen und heute, wo es zum vierten Mal unter meiner Leitung für jene Eleven, die nun keine Sextaner und schon mehr Jugendliche als Kinder waren, in Richtung der großen Sommerferien ging, musste ich einräumen, dass mir die Position des traditionellen Klassenlehrers wahre Freude bereitete. 

Zum Ende der Zeit der achten Klasse war es auch, als die Schulleitung eine dreiwöchige Projektphase für eben diesen Jahrgang ausrief und von den jeweiligen Klassenlehrerinnen und  -lehrern erwartet wurde, dass sie sich Themen dazu ausdachten, um sie anschließend mit den Jungs und Mädels, welche klassenübergreifend die besagten Themen frei wählen konnten, allgemein zu veranschaulichen. Neben dem Erstellen eines Zeichentrickfilmes und dem virtuellen Pflanzenführer Teutoburger Wald sollte ein Reader und eine Präsenz auf der Homepage der Schule zu der Geschichte der Literatur fabriziert werden, für dessen Gelingen ich verantwortlich zeichnete. Ich hatte mir das Ganze als ein recht komplexes Projekt gedacht, in dem die Kinder nicht nur erfuhren, dass der Buchdruck einen entscheidenden Einfluss besaß, sondern es sollte beispielsweise auch herausbekommen werden, ob bestimmte Faktoren wie etwa das Aufkommen des bezahlten Urlaubes Einfluss auf das Leseverhalten besaßen. Ich wollte die Schülerinnen und Schüler möglichst selbstständig arbeiten lassen und plante, am ersten Tag der Phase mit diesen in die Bibliothek der hiesigen Universität zu fahren, um ihnen zu zeigen, wo sie die entsprechende Literatur zu dem so hochgradig literarischen Thema fanden. All das hatte ich in der Ankündigung ausführlich beschrieben und ich stellte erleichtert fest, dass am Ende zwanzig Mädels und Jungs für dieses Projekt eingeschrieben waren. Ich hatte mit fünf oder sechs Figuren gerechnet, weil ein Zeichentrickfilm oder auch das Erstellen einer App für die Pflanzen des Waldes in meinen Augen für Jugendliche doch interessanter als Bücher und deren Geschichte sein mochten, aber mein Selbstvertrauen war noch nie das größte gewesen. Wichtig war mir vor allem, dass die Schülerinnen und Schüler recht am Anfang der drei Wochen ermitteln sollten, welche Gattungen der Literatur es gab. Danach wollten wir diese chronologisch nach deren Auftreten einordnen und die Gründe dafür herausfinden.           

Eifrig arbeiteten meine Jungs und Mädels schließlich an der Sache und es ergab sich aufgrund dieses kollektiven Fleißes, dass wir die Agenda bereits zweiundsiebzig Stunden vor dem Tag der Präsentation abgearbeitet hatten. Die Präsenz innerhalb der Schulhomepage war ebenfalls zur Veröffentlichung bereit. Ich hätte gerne meiner Gruppe für diese Zeit freigegeben, damit die Jugendlichen den wunderschönen Sommer im Freibad verbringen konnten, aber dagegen hätte die Schulleitung sicherlich Einspruch erhoben. Also entschied ich, dass die Schülerinnen und Schüler den Unterricht am Mittwoch und Donnerstag selbst gestalten konnten, indem sie jeweils ihr Lieblingsbuch literarisch einordnen und vorstellen sowie einen möglichen tieferen Sinn dessen erörtern sollten. Ich war an diesen Tagen der Schüler, der zuhören und sich eventuell Fragen stellen lassen musste, was er denn dazu denke und warum er das tue. Jede einzelne Präsentation sollte zwischen zehn und fünfzehn Minuten dauern. 

Leni kam kurz vor der ersten Pause am zweiten Tag an die Reihe. Sie besuchte die Parallelklasse und vor dieser Projektphase hatte ich das aufgeweckte, schwarzhaarige Mädchen lediglich vom Sehen her gekannt und von ihrer Klassenlehrerin, der in meinen Augen etwas linkisch wie spießigen Tanja Bolte nie ein Wort weder von positiver noch von negativer Natur über sie gehört. Aber Tanja redete zumeist so oder so lediglich über sich selbst. Leni hatte ein gebundenes gelbes Buch ohne Schutzumschlag mitgebracht, welches sie auf das Pult legte, denn für die Dauer ihres kleinen Vortrages durften die Referenten selbstverständlich am Lehrerpult Platz nehmen.

"Ich habe das Buch Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren mitgebracht. Das Buch fällt auf den ersten Blick in die Kategorie Kinder- und Jugendbuch. Doch tatsächlich ist es viel mehr als das. Aber dazu erzähle ich euch später mehr. Jetzt erzähle ich erstmal was zu der Autorin und dem Inhalt", eröffnete Leni den Vortrag und fasste dann zusammen, worum es sich in dem Werk drehte. Sie berichtete von dem kranken Kind Karl, dem nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt verblieb und darüber, wie ihn sein größerer Bruder Jonathan all seine Liebe gab und ihm die Angst vor dem Sterben zu nehmen versuchte, indem er ihm von dem Land Nangijala erzählte, wo ein Mensch nach dem Tode hingelangte. Nangijala sei das Land, in welchem es keine Krankheiten gebe und man den gesamten Tag Abenteuer erlebe. Doch der kerngesunde Jonathan ging vor Karl nach Nangijala. Jonathan starb, als er Karl aus dem brennenden Mietshaus rettete und so blieb der kleine Bruder allein auf der Erde zurück und vermutete, dass Jonathan ihn gelegentlich in Form einer weißen Taube besuchte, der es möglich war, zwischen Nangijala und unserer Welt zu reisen. Endlich jedoch wurde Karl von seinen irdischen Leiden erlöst und fand sich dann tatsächlich im Kirschblütental zu Nangijala wieder. Er war vollkommen gesund und konnte Dinge, die er auf der Erde nicht gekonnt hatte wie etwa das Schwimmen. Nangijala selbst stellte sich als eine quasi mittelalterliche Welt der Lagerfeuerromantik heraus, was aber nur scheinbar war. Denn es gab Tengil, einen Schurken der Premiumklasse, der mit seinen schwarz uniformierten Soldaten und besonders mit dem schrecklichen Drachenweibchen Katla das Dornrosental, einen anderen Teil von Nangijala, besetzt hatte und die Menschen dort als Sklaven zu Tode schuften ließ. Doch im Kirschblütental waren sie längst dabei, eine Armee zur Befreiung der Unterdrückten aufzustellen, wobei Jonathan eine entscheidende Rolle spielte. Nach vielen gewaltigen Abenteuern kam es schließlich zum finalen Kampf zwischen Gut und Böse. Das Gute triumphierte und es gelang Jonathan und Karl sogar, den Drachen Katla, jenen Faustpfand für Tengils Tyrannei, zu töten. Doch der Preis war hoch. Mit ihrem feurigem Atem hatte Katla Jonathan gestreift und ein Kontakt mit diesem Atem bedeutete für den Betreffenden Lähmung und qualvollen Tod. Karl brach in Tränen aus, da er nun bereits zum zweiten Mal im Begriff stand, seinen Bruder zu verlieren. Doch Jonathan berichtete von einer weiteren Welt des Lebens mit dem Namen Nangilima. Diese lege hinter Nangijala und dort gäbe es keine Lähmung mehr für ihn und alle im großen Kampf gegen Tengil gefallenen Freunde weilten bereits dort. Endlich sprangen die Brüder Löwenherz von einer Klippe, um den Tod und den Weg nach Nangilima zu finden, wo die Erlösung wartete. Das Buch endete mit den Worten Karls beim Sprung, dass er bereits das Licht sehe könne.

"Erstmal ist das Buch Die Brüder Löwenherz ein toller Abenteuerroman für Kinder und Jugendliche. Aber hinter der Geschichte steckt noch viel mehr. Natürlich werdet ihr jetzt alle sagen, dass die eigentlichen Themen hinter der Geschichte der Tod und das Sterben sind, was sicherlich auch so stimmt. Aber für mich gibt es da noch viel mehr und um euch das zu erzählen, muss ich ein wenig ausholen. Es gibt ja in der Wissenschaft die Theorie vom Multiversum. Die sagt so viel aus, wie dass es nicht nur das eine Universum gibt, in dem wir leben, sondern Milliarden von anderen. Und die ganze Theorie ist noch viel abgedrehter. In jedem Moment teilt sich die Zeit und erschafft ein neues Universum. Ich kann euch das Mal an einem Beispiel erklären. Stellt euch vor, ihr fahrt mit euren Eltern in den Urlaub nach Italien und überquert dabei mit dem Auto eine Kreuzung. In diesem Universum fahrt ihr geradeaus weiter nach Italien. Genau an diesem Punkt teilt sich die Zeit und bildet weitere Universen. In einem biegt ihr rechts ab und fahrt nach Frankreich. In dem anderen geht es nach links und ihr habt einen schrecklichen Unfall. Und dann gibt es natürlich auch ein Universum, in dem ihr umkehrt, weil der Urlaub ausfällt. Die Theorie sagt aus, dass in einem Multiversum jede nur erdenkliche Möglichkeit Wirklichkeit ist. So gibt es, weil sich ja die Zeit nicht erst seit gestern, sondern schon immer teilt, natürlich auch Universen, in denen es keine Menschen gibt. Stattdessen leben intelligente Salamander auf der Erde. In wieder anderen Universen ist die Erde gar nicht da. Die gibt es einfach nicht. Und so weiter und so weiter. Jedenfalls habe ich mir meine Gedanken zu der Viele-Welten-Theorie, so nennt man die in der Wissenschaft, gemacht, weil ich diese Theorie eben schon sehr interessant finde. Ob es wirklich so ist, wie die Wissenschaftler, die die Viele-Welten-Theorie vertreten, behaupten, weiß ich nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich selber für diese Theorie bin oder dagegen. Aber ich weiß in jedem Fall, dass da, wo die Viele-Welten-Theorie herkommt, nämlich aus der westlichen Welt, immer weniger Menschen an Gott glauben oder überhaupt religiös sind. Ich meine, schaut euch doch mal die Kirchen an. Da sind doch außer ein paar Senioren kaum noch Leute drin zum Gottesdienst am Sonntag. Und wenn man als Jugendlicher sagt, dass man an Gott glaubt und oft in die Kirche geht, dann wird über einen doch hinter vorgehaltener Hand getuschelt, dass man ein Sonderling ist und so weiter. Aber die Menschen brauchen, es liegt wohl so in ihrer Natur, etwas, woran sie glauben können. Ich habe mich gefragt, ob es nicht sein kann, dass die Wissenschaft immer mehr die Rolle der Religion einnimmt. Die Religion hat doch für so viele hundert Jahre den Menschen die Angst vor dem Tod genommen oder zumindest weniger gemacht. Die Kirche hat den Menschen hier immer wieder erzählt, dass es das ewige Leben gibt wegen Jesus und so weiter. Nur wer glaubt heute noch ernsthaft daran, dass am Tag des Jüngsten Gerichts die Toten wiederauferstehen, Jesus Christus Gericht hält und diejenigen, die ein gutes Urteil von ihm bekommen, das ewige Leben haben werden? Davor kommt Jesus natürlich noch auf den Wolken angeschwebt direkt zum Gerichtssaal und die Posaune pustet. Das ist echt schwer zu glauben. Ist es da nicht einfacher, sich an eine wissenschaftliche Theorie wie die mit dem Multiversums zu klammern? Wenn mein Leben hier, also in unserer Welt, nicht mehr ist, dann lebe ich in einem anderen Universum weiter oder werde da sogar erst noch geboren und weil ja alles möglich ist, werde ich dort vielleicht sogar ein ganzes Königreich mein Eigen nennen. Wenn ich in diesem Universum, also auf dieser Erde in meinem Leben andere Menschen betrogen, bestohlen, verletzt, vielleicht sogar ermordet habe, ist das doch halb so wild. In einem anderen Universum werde ich dafür jede Menge Gutes tun. Ich werde all meine schlechten Taten wieder wettmachen. Das hat doch viel mit der Absolution der katholischen Kirche oder dem Verzeihen der Sünden nach Jesu Tod am Kreuz zu tun. Finde ich jedenfalls irgendwie. Und natürlich werde ich in einem Multiversum wieder mit meinen lieben Freunden und Verwandten zusammen sein, die auf der Erde leider viel zu früh verstorben sind. Und damit sind wir wieder beim Thema Tod und Astrid Lindgren. Die Viele-Welten-Theorie hat sich ab den 1950er-Jahren entwickelt. Astrid Lindgren, die ja eine gebildete Frau gewesen ist, konnte also durchaus vom Multiversum gewusst haben. Nein, sie konnte nicht nur gewusst haben, sie hat gewusst und ihr Roman Die Brüder Löwenherz erschien 1973, als die Idee des Multiversums, die übrigens eng mit den Quanten, also der Welt des Allerkleinsten, zusammenhängt, bereits ausführlich in der Wissenschaft behandelt wurde. Die Brüder Löwenherz ist eine Erzählung, die zwischen den Zeilen das Multiversum ins Zentrum stellt. Von einer modernen Welt geht es in eine Welt der Abenteuer und Sagen. Alles ist möglich. In der alten Welt lasse ich Schmerzen und Krankheiten hinter mir, um in einem Paralleluniversum neu als gesunder Mensch durchzustarten, wie das Karl Löwenherz in Nangijala tut. Alles ist möglich. Und wenn es auch dort keine Hoffnung mehr gibt, dann geht es für mich eben in einer anderen Welt auf eine andere Art und Weise weiter und so springen Jonathan und Karl von der Klippe, um ins nächste Universum, nach Nangilima zu gelangen. Denn alles nur erdenklich Mögliche ist im Modell des Multiversums möglich. Astrid Lindgren beschreibt aber auch, dass es Verbindungen zwischen den verschiedenen Universen gibt. So kommt zum Beispiel der in unserer Welt verstorbene Jonathan seinen kleinen Bruder Karl, als dieser noch lebt, in Gestalt einer weißen Taube besuchen. Gewisse Grundzüge seines eigenen Wesens wird man laut Astrid Lindgren zudem wohl in jedem Universum behalten und niemals verlieren. So ist Karl sowohl auf der Erde als auch in Nangijala ein ängstlicher Mensch, während sein Bruder ein mutiger ist. Das ist das eigentliche Thema, denke ich, worum sich das wundervolle Buch Die Brüder Löwenherz dreht. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit."

Nachdem Leni mit diesen Worten ihr Referat geschlossen hatte, herrschte zunächst Schweigen. Als ich ein Kind gewesen war, hatte meine Mutter mir vor dem Zubettgehen Die Brüder Löwenherz vorgelesen und diese wundervolle Geschichte voller Traurigkeit und Hoffnung faszinierte mich bis heute. Das gelbe Buch mit dem Druckjahr 1980 hatte ich beim Auszug aus dem Elternhaus mitgenommen und es stand bis heute in einem unserer Bücherregale. Leider, so fand ich, hatten sich unsere zwei Kinder nicht für dieses unfassbare Werk begeistern können. Sie schworen wohl auch noch bis heute mehr auf Pippi Langstrumpf und Michel aus Lönneberga, aber an der großen Astrid Lindgren waren auch sie selbstverständlich nicht vorbeigekommen, obgleich Smartphone und TikTok in ihren Leben von Anfang an eine größere Rolle spielten als das gedruckte Wort. Bis heute hatte ich Die Brüder Löwenherz sicherlich über zwanzig Mal von Anfang bis Ende durchgelesen und sicherlich nicht minder häufiger nach einem tieferen Sinn für dieses Werk gesucht und obwohl ich ein großer Science-Fiction Fan war und mich ungemein für die Astronomie interessierte, die Dokus über Universum und Multiversum auf YouTube rauf und runter schaute, wäre mir ein solcher Ansatz der Interpretation niemals gekommen. Ich fragte mich gerade, wie Leni mit ihren noch nicht einmal fünfzehn Jahren darauf gekommen war. Irgendeiner der Schülerinnen und Schüler fing an, als Anerkennung für das Referat mit der Faust auf die hölzerne Platte des Tisches zu klopfen. Sofort stimmten alle anderen mit ein und selbstverständlich nahm auch meine Wenigkeit umgehend daran teil.