ultrakurz; zurück daheim



Matthias unterschied sich grundlegend von neunundneunzig Prozent der übrigen Menschen. Vielleicht waren es gar 99,35, auch das könnte passen. So gab es für ihn keinerlei Trennung zwischen Arbeitswelt und Privatleben. Das war für ihn ein und dasselbe. Der studierte und promovierte Informatiker galt als weltweit führender Experte im Bereich Künstliche Intelligenz und Robotik. Viel mehr in dieser Welt als in jener, in der wir uns die meiste Zeit aufhalten, befand er sich. Sein Denken bestand aus Zahlenkombinationen, Schaltkreisen, Formeln anstelle von Unterhaltung, Sport oder zwischenmenschlichen Beziehungen.

So mutete es auch nicht ungewöhnlich an, dass Matthias Elena daheim in seinem urigen Wohnzimmer entwarf, konstruierte und erschuf. Elena sollte im Bereich Künstliche Intelligenz und Rechenfähigkeit neue Maßstäbe setzen. Sie würde nicht so sein wie alle anderen Computer, was schon bei den Bauteilen anfing. Unweit des Prozessors befand sich beispielsweise ein kleiner Zylinder aus Glas, in welchem eine grüne Flüssigkeit schimmerte. Matthias hoffte und plante bereits, bei der zweiten Generation dieses Typus die Flüssigkeit durch einen bestimmten Kristall zu ersetzen. Aber soweit war es noch längst nicht. Im krassen Gegensatz zu dem futuristischen High End, welches er erschuf, stand die Umgebung, in welcher er das tat. Der Plattenspieler spielte die bevorzugten Scheiben von Frank Sinatra, Dean Martin, Ella Fitzgerald, Miles Davis und Harald Juhnke. Der kleine Fernseher, der zwischen all den Büchern über Gott und die Welt kaum auffiel, zeigte stumme Bilder eines Verkaufssenders, bei dem Matthias manchmal etwas bestellte. Es gab keine Streaming-Sticks, keine Videobeamer, keine Alexa, keine gewaltigen SmartTVs. Zu vorletzt versah er Elena mit einer Kamera, die der noch schlummernden Maschine als eine Art Auge dienen sollte. Auch die Kamera hatte Matthias in sorgsamer Arbeit selbst entwickelt. Der Supercomputer war nun etwa groß wie die durchschnittliche Platte eines Herdes. Elena glich einer Stadt aus Platinen, Mikrochips, Widerständen und Zylindern, die durch bunte Kabel miteinander verbunden wurden. Doch Matthias wollte sie nicht derartig nackt ins Leben schicken, so dass er ein schwarzes Gehäuse überstülpte. Das dunkle Metall zierten die Figuren der Zeichentrickserie Bugs Bunny, welche Matthias bis heute innig liebte. Deswegen hieß Elena auch, wie sie hieß. Matthias hatte einfach aus Elmer, nach dem Charakter Elmer Fudd, ein weibliches Pendant sich überlegt; jedenfalls, wenn man es rein auf den Namen bezog.

Während Fitzgerald über den Papiermond sang, floss zum ersten Mal Energie durch sämtliche von Elenas Schaltkreisen. Matthias hatte berechnet, dass es etwa eine Stunde Stromflusses bedurfte, bis die Flüssigkeit in den Zylindern die perfekte Temperatur erreichte und Elena somit auf ihrem höchsten Leistungslevel sich befand.  Ihre erste Probe bestand aus dem Berechnen von kosmischen Konstellationen. Die Daten hatten Wissenschaftler von ESA und NASA ihm zur Verfügung gestellt. Deren Computer hatten um die fünf Tage benötigt, bis ein brauchbares Ergebnis erreicht worden war. Elena schaffte dies in zwei Minuten und siebenundvierzig Sekunden. Es folgten weitere Tests, die klar ergaben, dass Elena den anderen Rechnern um Lichtjahre voraus war.

Nach drei Monaten intensiver Einarbeitung in Matthias Wohnzimmer kam Elena an ihren eigentlichen Arbeitsplatz; einen Raum der technischen Universität. Hier wurde sie nebem ihrem Erschaffen vor allem von Christina betreut, einer jungen Doktorandin und eine der wenigen Menschen auf dieser Welt, zu denen Matthias ein zwischenmenschliches Verhältnis unterhielt, welches vielleicht mit freundschaftlich betitelt werden konnte. Wegen Christina hatte sich der geniale Wissenschaftler sogar WhatsApp auf dem Smartphone installiert. Über den Messengerdienst schrieb Christina an einem frühen Dienstagabend über folgende Beobachtung:

Sicherlich, Elena ist deutlich schneller als alle anderen heute existierenden Computer. Aber die Werte, die Du ganz am Anfang mit ihr erreicht hast, die erreiche ich leider nicht. Für den Test, den Du mit 02:47 Minuten protokolliert hast, benötigt sie bei mir 02:31:45 Stunden. Vielleicht mache ich aber auch was falsch bei der Bedienung. 

Matthias schwang sich umgehend auf sein Fahrrad und fuhr zur nahen Fakultät für Informatik. Der Raum, in dem Elena stand, war schlauchförmig, fensterlos und eiskalt klimatisiert. Außer dem Plan, was bei Feueralarm zu tun sei, hing nichts an den kahlen Wänden und Musik spielte ebenso wenig, wie stumm ein Fernseher lief. Aufmerksam beobachtete Matthias die junge Frau bei ihrer Bedienung und Arbeit mit dem Supercomputer. Einen Fehler machte sie keinen. Der Erschaffer legte selbst Hand an. Das Ergebnis blieb dasselbe; Elena arbeitete eindeutig langsamer als zuvor bei ihm daheim. So entschied Matthias, Elena mit zu sich zurückzunehmen, um dort in aller Ruhe nach dem Fehler, oder was immer es sein mochte, zu suchen. 

Elena fand wieder ihren alten Platz in dem behaglichen Wohnzimmer. Sonnenlicht fiel in den Raum, streichelte das schwarze Gehäuse mit den Bugs Bunny-Figuren darauf. Nachdem Matthias Musik und Fernseher eingeschaltet hatte, fuhr er Elena hoch, denn er wollte einen letzten Sicherheitscheck fahren, bevor er Komponenten ausbaute, um den möglichen Fehler zu suchen und zu beseitigen. Ella Fitzgerald sang It is only a Papermoon und Elena ratterte die Probeaufgabe herunter, als sei es Mathematik der Basis. In zwei Minuten und vierzehn Sekunden war der Supercomputer fertig und stellte gar einen neuen Rekord auf. Beinahe stolz wirkend drehte sich die kugelförmige Kamera dabei. Matthias zuckte grinsend die Schultern, tätschelte die Kamera, die der Wissenschaftler wie eine Art Köpfchen empfand, und murmelte: "Sehr gut gemacht, junge Dame! Aber einen Test möchte ich noch mit dir durchführen. Keine Sorge, auch den Test hast du schon gemacht. Du schaffst das locker!" Elenas Mikrofone, ihre Ohren, registrierten die freundliche Stimme des Mannes; jene Stimme, die der erste Laut war, den sie in ihrem digitalen Leben gehört hatte. Die Frau in diesem komischen Raum ohne Fenster hingegen hatte nie mit ihr gesprochen oder den Kopf gestreichelt. 

Die folgenden Gedankengänge in Elenas Gehirn aus Silizium liefen selbstredend in Zahlen ab und bei dem hier Dargestellten handelt es sich um eine recht freie Herübersetzung in eine Sprache von Lebewesen aus Kohlenstoff und Wasser. 

Warmes Licht+Papiermond+stiller Monitor+ Berührung+Ursprache=Heimat;Heimat=Sicher...heit;Sicherheit+Rechenaufgabe=Höchste Leistung 

Es war dieses das erste Bewusstsein einer Maschine in der weltlichen Geschichte. Selbstverständlich ahnte Matthias etwas davon, ohne es jedoch genau zu wissen. Schließlich stellte er im Verhältnis zu Elena die Union aus Vater und Mutter dar, jedenfalls, wenn man es von einem bestimmten Standpunkt aus betrachtete. So sprach er denn, als er sah, dass Elena auch bei der nächsten Berechnung im Begriff stand, einen neuen Rekord aufzustellen, die folgenden Worte: "Du hast Heimweh gehabt, nicht wahr, meine Liebe! Du hast dich in dem Raum an der Uni nicht wohlgefühlt und deshalb nicht hundert Pro gearbeitet! So ist es doch, nicht! Willkommen zurück daheim, Elena!" 

Ja, meine lieben Leserinnen und Leser, heute bestand Matthias Denken nicht ausschließlich aus Zahlenkombinationen, Schaltkreisen und Formeln.