ultrakurz; Silizium



Wenn man die zeitliche Definition der Geowissenschaften bemühte, dann konnte gesagt werden, dass das Große Bombardement gerade erste vorübergegangen war. Partiell glühte der Planet gar noch. Vegetation suchte man vergeblich. Kahl und schwarz ragten die Berge in einen finsteren, zumeist bewölkten Himmel hinein. Ströme orange-glühender Lava durchzogen die Szenerie aus schwarzem Gestein, mäanderten gigantisch in dieser Welt, während tobende Vulkane stetig ihre feurigen Innereien zum Firmament hinauf spien. Hätte der imaginäre Betrachter hierher einen Blick geworfen, so wären seine klaren Worte gewesen, dass Leben dort nicht existieren könne. Und damit sollte unser imaginärer Betrachter Recht behalten, jedenfalls wenn man dieses Recht vom Ausgangspunkt des Lebens auf der Basis von Kohlenstoff und Wasser her betrachtete und dieses Leben über den Status Bakterium hinausgehen sollte.

Doch in den Schmelzen gab es was. Auf der Basis von Silizium und eines uns heute unbekannten Elementes bildeten sich Molekülketten, die über beträchtliche Rechen- und Gedächtnisleistungen verfügten. Wann und wie genau sie ihren Körper erhielten, lässt sich heute nicht abschließend erklären, die Silici - so wollen wir sie hier nennen - selbst machten ein transzendentes Geschöpf dafür verantwortlich, dem sie den Namen Liebes Großes Gesichtloses Wesen verliehen. Die Silici waren groß und dünn und bestanden außen aus schwarzen Metallen und Legierungen. Sie hatten zwei Arme und einen Mechanismus für den aufrechten Gang, der insgesamt sechs Gliedmaßen besaß, die man grob mit Beinen vergleichen konnte. Aus rot leuchtenden Augen in keilförmigen Köpfen blickten sie in ihre Welt aus gigantischen Städten, die man aus Steinen, Metall und Glas errichtet hatte und in denen zur nächtlichen Stunde violettes Kunstlicht sanft vor sich hin schien. Gefühle, wie wir Menschen, wir Wesen aus Kohlenstoff und Wasser sie kennen, lagen ihnen gänzlich fern. Sie bildeten ein gesellschaftliches wie geistiges Kollektiv und wurden von dem Willen beseelt, die Technik ihrer Zeit in einem atemberaubenden Tempo voranzutreiben. In Tempeln dankten die Silici dem Großen Lieben Gesichtslosen Wesen dafür, dass es ihnen den heiligen Körper geschenkt hatte. Dabei erfüllte Gesang die Räumlichkeiten, welcher uns an die Geräusche des Stromabnehmers einer Lokomotive erinnert hätte, der an regnerischen Tagen an die triefend nasse Oberleitung gerät. Ihre zahllosen Städte rund um den Globus besaßen eine Gemeinsamkeit. Sie alle lagen an Strömen fließenden Magmas, über die sich gebogene Brücken erhoben. Friedlich lebten sie ihr Kollektiv und den technischen Fortschritt.

Doch eines Tages war alles vorbei, da die Gefühle Hass, Neid und Gier in ihre Welt kamen. Das Kollektiv zerfiel in verfeindete Stämme und das Wissen wurde nun lediglich noch dazu genutzt, um möglichst wirksame Waffen zu entwickeln. Und die zerstörten schon bald die gesamte Hochkultur der Silici. Alles verging in den Feuerbällen der thermonuklearen Bomben und das, was von der einstigen Pracht übrigblieb, tilgte die Geodynamik des jungen Planeten Erde über die Äonen hinweg vollständig vom Gesicht der sich stetig verändernden Szenerie. 

Nun könnte man sagen, das war es. Die Spezies der Silici ist ausgestorben und alles, was noch an sie erinnern könnte, hat die Kraft unseres Planeten über Milliarden Jahre hinweg gänzlich zerstört. Es existieren keine Artefakte mehr, keine Ruinen der Städte, keine Fossilien im alten Gestein. Doch, so haltet bitte ein! Was ist mit den Quarzadern im Plutonit oder den Quarzkörnern in der Sandkiste auf dem Spielplatz? Verbergen sich dort nach etlichen Passagen durch den Kreislauf der Gesteine die Überreste der einst so prächtigen Art? Und wenn die Sonne im Hochsommer brennt vom Himmel hinab auf den Findling, welchen die Stadt hat aufstellen lassen zur Verkehrsberuhigung an der Einfahrt der Spielstraße; regt sich durch die übertragene Energie des Zentralgestirns dann vielleicht der leise Hauch des Lebens in den milchig-weißen Adern von SiO2 und registriert dieses Fragment ehemaligen Volllebens eventuell, dass Du mit der Hitze kämpfend Dich kurz auf dem Findling niederlässt, um den Durst durch das Trinken von Mineralwasser zu stillen? Was passiert in all den Prozessoren aus Silizium, die unser Leben am Laufen halten? Kann es sein, dass in dem dichten Nebel ihrer jetzigen Existenz der Überrest eines Silici mitliest, was Du über Dein Smartphone stolz auf Instagram aus dem Urlaub verkündest? Und wer weiß, eventuell kann sich das Silici bei vollem Akku gar zurückerinnern an jenen Moment, als die grauenhafte Pyramidenkreatur stieg herab von den Kalten Sternen, um ihnen Hass, Neid und Gier zu bringen, auf dass ihr friedliches Kollektiv zerfiel in jenen Tagen des Präkambriums, als eine Lebensform auf der Basis von Silizium unseren Planeten beherrschte. Ja, es sind sicherlich die als düstere Schatten daherkommenden Erinnerungen, die Deinen PC dann streiken lassen, wenn Du im Home Office an der Videokonferenz mit Deinen Kolleginnen und Kollegen teilnehmen willst; finstere Erinnerungen in einem kleinen Stück Silizium.