ultrakurz; Schütze Walter Aicher

 


Walter Aicher stammte aus einem Dorf nahe der Stadt Rosenheim. Der Sohn eines Schusters besaß seit jeher das Talent, sich schnell recht fantastische Geschichten ausdenken zu können. Bereits im Alter von sieben Jahren hatte er seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Elisabeth vor dem Einschlafen von dem Land Ziroklan erzählt, wo immer Sommer herrschte, die Bäume durchgehend grüne Äpfel trugen und der Käse ganze Berge bildete. Niemand in Ziroklan wurde jemals krank und die Katzen jenes Ortes konnten selbstredend sprechen. Walter hatte sich das erdacht, weil in jenen Tagen Elisabeth von einer argen Erkältung heimgesucht worden war und kläglich in ihrem Bett vor sich hingehustet sowie leichtes Fieber gehabt hatte. Zudem liebte sie Bergkäse und grüne saure Äpfel bis zum heutigen Tage. Walter stieg in die Fußstapfen des Vaters und erlernte das Schusterhandwerk. Alles was er eigentlich wollte, war, nach der Arbeit seine Gedanken zu Papier zu bringen, sei es im Sommer auf dem Dorfplatz beim kleinen plätschernden Brunnen, wo es eine wahrlich schöne Bank gab, oder bei Regen und Schnee am Schreibtisch in seinem Zimmer im Haus der Eltern, wo er kurz nach der Lehre noch immer lebte. Doch dann kam der Krieg und der überzeugte Pazifist Walter Aicher musste zu den Soldaten und des Kaisers Rock tragen. Und die Schwester, mittlerweile an der Grenze zu einer schönen jungen Frau, schrie, da der Bruder von daheim in die Kaserne aufbrach: "Nein! Bitte nehmt mir meinen Bruder nicht fort!"

Irgendwo an der Westfront hatten sich die Infanteristen, zu denen auch Walter gehörte, in ihren Schützengräben verschanzt. In Sichtweite, keine hundert Meter entfernt, tat der Gegner dasselbe. Die Landschaft bestand lediglich noch aus Baumstümpfen, Erdreich, Granattrichtern und Stacheldraht. Beinahe pausenlos dröhnten die Donner der schweren Artillerie in einem unheilvollen Duett mit dem Rattern der Maschinengewehre. Manchmal machten die einen ein paar Meter an Raumgewinn gut, manchmal gelang dieses den anderen, doch im großen und ganzen waren die Stellungen festgefahren. Das Sterben auf beiden Seiten hielt mit jedem verstrichenen Moment weiter an und lag somit wie eine finstere Konstante über der Szenerie des industriellen Krieges. Selbst, wenn die gegnerische Artillerie eine Pause einlegte, meinten hüben wie drüben die Soldaten, auch weiterhin das Trommelfeuer hören zu können. Einige verloren darüber den Verstand, so dass von ihnen endlich nur eine zitternde Hülle zurückblieb, die selbst ein paar Schuhe oder eine leere Weinflasche zu Tode ängstigte. Vor dem seelischen Sterben schützte Walter Aicher seine rege Fantasie, die ihn sich hinfortstehlen ließ aus dieser Welt des niemals endenden Schreckens. Wie viele andere seiner Zeit hatte auch Walter den 1905 in Deutschland erschienenen Roman Die ersten Menschen im Mond von H. G. Wells gelesen und er träumte sich hin in die Welt der Seleniten, wo es gar ungewöhnliche Abenteuer zu erleben gab. Doch niemals beschossen ihn die Mondbewohner mit Trommelfeuer. Auch jene Herrscher von Venus und Mars taten dies nicht. Manchmal fragte sich Walter, ob die Seleniten mit feinster Optik wohl vom Trabanten aus die gigantischen Schlachtfelder sehen könnten und zu was für einer Erkenntnis über die Gattung Mensch sie diese Beobachtung endlich brächten. Schütze Aicher war sich sicher, dass das nichts Gutes wäre, nein, ganz und gar nicht. Dann fragte er sich, ob dort drüben, in den nahen Schützengräben des Gegners wohl ein junger Mann in blauer Uniform sitzen täte, der in der gleichen Welt wie er selbst lebte. Und er stellte sich vor, wie schön es wäre, mit diesem Gegenstück zusammen über die Regenwälder der Venus oder die Bewohner des Mars zu philosophieren, anstatt ewig nur aufeinander zu schließen. Einfach nur ein nettes Gespräch führen weit abseits des Todes und der Ratten als ständige Begleiter. 

Leutnant Karl Rosenbluhm, so hieß es, sei direkt von der Universität an die Front gekommen. Jedenfalls frischte er die Kräfte der Truppe auf. Walter mochte ihn vom ersten Moment an, denn Rosenbluhm war gänzlich anders als die übrigen Offiziere, welche er so kannte. Auf Anhieb verstanden sich die zwei Männer blendend. Als es wieder einmal zu schwerem Trommelfeuer durch den Gegner kam, sah Leutnant Rosenbluhm den Schützen Aicher abwesend wirkend auf seinem Posten im Schützengraben hocken. Ein paar Tage später saßen sie während einer kurzen Feuerpause auf ein Bier zusammen. 

"Herr Schütze, in welcher Welt waren Sie eigentlich, als der Feind uns kürzlich ins schwere Artilleriefeuer genommen hat? Sie haben gewirkt, als seien Sie sie überall, aber nur nicht hier auf dem Schlachtfeld", erkundigte Rosenbluhm sich. 

"Ich war auf der Venus und habe mit den freundlichen Bewohnern dort mich ausgiebig unterhalten. Danach haben wir ein Segelboot gebaut, um über den großen Ozean zu fahren. Die Bewohner der Venus haben noch keine Dampfschiffe und sie wissen nicht, was dort auf der anderen Seite des großen Meeres ist. Das Eintreten in diese Welt hilft mir immer, Herr Leutnant. Es hilft mir, dass ich hier an der Front nicht den Verstand verliere", erklärte Walter Aicher leise und dabei leicht verlegen wirkend. Für den Moment fürchtete er gar, dass Leutnant Rosenbluhm über ihn in Lachen ausbrechen könnte. Doch das geschah nicht. Der Offizier griff in die Tasche seiner Uniform und zog eine silberne Taschenuhr hervor. Ein gutmütiger Ausdruck lag dabei auf seinem Gesicht. Er klappte sie auf, worauf eine sanfte Melodie erklang, die Walter nicht recht zuordnen konnte. Der Schütze fragte sich hingegen, wo in dem recht kleinen Gegenstand die Spieluhr montiert sein konnte. Und Rosenbluhm sagte etwas Geheimnisvolles: "Es wird ein Tag kommen, da wird dir alle Fantasie nicht mehr helfen, dieses kranke, unmenschliche  Geschehen zu verdrängen. Doch, mein lieber Schütze Aicher, an diesem Tag werde ich dir ein Zeichen geben, welches dich zur Erlösung führt. Das hast du dir verdient. " Dann trank er sein Bier aus und ging von dannen. Walter blieb verwundert zurück. 

Am nächsten Tag fiel Leutnant Karl Rosenbluhm im Kampf für Kaiser und Vaterland.  Vom Generalstab kam der Befehl, die gegnerische Stellung anzurennen. Schütze Aicher, der in einem Granattrichter in Deckung gegangen war, konnte alles sehen und was er sah, war extrem verstörend. Es schien, dass schemenhaft angedeutet eine Pyramidenkreatur auf dem Schlachtfeld wütete. Sie tötete sowohl den Feind als auch die eigene Truppe. Sie tötete den Leutnant und jeden Menschen, den sie kriegen konnte. Direkt vor ihm streckte das Geschöpf einen einfachen Soldaten von der anderen Seite zu Boden, indem sie ihm das Genick brach. Und Walter sah, dass dem armen Soldaten etwas aus der blauen Uniform fiel, bevor dieser selbst in den Staub des Schlachtfeldes sank und diese Welt für immer verließ. Obwohl Kugeln um ihn her zischten und Granaten überall detonierten, verließ Walter Aicher seine Deckung, um nach dem fremden Gefallenen und dem Gegenstand zu schauen. Er konnte nicht anders. Bei dem Gegenstand handelte es sich um ein Buch. Obgleich der Titel auf dem Deckel in einer anderen Sprache logischerweise verfasst war, erkannte Walter ihn umgehend. Dort stand übersetzt: Die ersten Menschen im Mond von H. G. Wells. Der tote Besitzer glich ihm von den Gesichtszügen her auf eine gar schauerliche Art und Weise. Dann schaute er nach dem gefallenen Rosenbluhm. Doch dessen Leiche war fort. Nur noch die Uniform mit dem Leutnantstern auf den Schulterklappen lag im Dreck. Aber auch der Stoff stand im Begriff, sich aufzulösen, worüber die finstere Pyramidenkreatur sich entsetzlich aufzuregen schien. 

Dann hielt der Herbst Einzug an der Westfront und er brachte Kälte, Regen und Unmengen an Schlamm mit sich, der sich auf den Böden der Schützengräben sammelte und durch den die Ratten gleich Geschöpfen aus den tiefsten Tiefen der Hölle krochen. Der Herbst brachte auch jenen Tag mit sich, den Leutnant Rosenbluhm prophezeit hatte; jener Tag, an dem die Fantasie Walter Aicher nicht mehr vor dem Krieg bewahren konnte. Seit über zweiundvierzig Stunden prasselte das Trommelfeuer auf die Stellungen nieder, so dass die Einschläge einzelner Granaten längst nicht mehr herausgehört werden konnten. Gelegentlich schlug Metall auf Metall als Warnung vor den chemischen Wolken, die sich den Schützengräben näherten. Dann galt es, die ABC-Schutzmaske aufzusetzen, was die Soldaten im Halblicht des herbstlichen Abends wie Dämonen aussehen ließ. Die eine Seite zahlte es der anderen Seite mit barer Münze zurück. Leichen lagen überall; zwischen den Schützengräben in schlammigen Granattrichtern, in ihnen selbst, hingen in den Befestigungen aus Stacheldraht und Ratten frassen ihnen die Gedärme aus den zerfetzten Leibern. Ein Geruch hing in der krachenden Luft, den der begnadetste Lyriker nicht zu beschreiben vermochte. Dieser Ort, Zweifel gab es keine, war die Hölle auf Erden. Schütze Walter Aicher versuchte, auf die Venus oder den Mond zurückzukehren, aber das Schlachtfeld hatte sich auf die Größe des gesamten Universums ausgedehnt und er wusste, dass, wenn er nur noch eine kurze Zeit in diesem Kosmos verbliebe, der Wahnsinn die Kontrolle über sein gesamtes Wesen übernehmen würde. Den Gefreiten Günther Erich hatte es direkt neben ihm schwer erwischt. Sein Überleben war möglich, aber selbst der geschickteste Chirurg auf dem Planeten wäre wohl nicht in der Lage, seine Arme und Beine zu retten. In diesem Moment beschloss Schütze Walter Aicher, dass er sterben wollte. 

Ich kletter einfach aus dem Schützengraben und renne ins offene Feuer. Es ist besser, sich direkt eine Kugel oder eine Granate einzufangen. Es ist besser, schnell durch den Tod Erlösung zu finden, als dass mir der Wahnsinn meine Fantasie nimmt oder ich als Krüppel ein Dasein in Windeln und meinen eigenen Exkrementen führe. Ich kletter einfach hier raus und rasch ist alles vorbei! 

Die Entscheidung war unwiderruflich gefallen. So machte sich Schütze Walter Aicher daran, die Wand des Schützengrabens hinauf in Richtung des offenen Geländes zu ersteigen. Doch kurz vor der Kante rutschte der junge Mann wegen der schlammigen Beschaffenheit der Materie ab und riss ein gehöriges Quantum Erdreich mit sich hinab auf den Grund des Grabens. Und zwischen all dem gefallenen Matsch lag plötzlich die Uhr des Leutnants. Silbern schimmerte sie wie ein lebhafter Stern, was schon allein aufgrund der optischen Verhältnisse in diesem grauen Zwielicht ein Ding der Unmöglichkeit war. Walter klappte die Taschenuhr umgehend auf. Und, siehe, ein Schwall gleißender Energie kam heraus, der von beträchtlicher Reinheit und grün wie die Hoffnung war. Sein Schein hüllte das gesamte Schlachtfeld ein, worauf die Männer auhörten zu kämpfen und die Artillerie das Trommelfeuer einstellte. Sie alle sahen die gleißend reine Energie, doch allein Walter erkannte, was sich hinter dem Schein befand und wusste nur zu genau, dass dieses wahre Wunder lediglich kurz würde anhalten. Hinter dem Licht im Inneren der Taschenuhr sah Walter die von ihm in Gedanken erschaffene Welt Ziroklan. Die Landschaft war grün, die Bäume trugen Äpfel und der Käse bildete ganz Berge. Und er erkannte, dass die Taschenuhr ein Portal war und er sich beeilen musste. Schütze Walter Eicher sprang direkt hinein in den Schein. Kurz darauf war alles vorbei. Es gab kein grelles grünes Licht, keine Taschenuhr und keinen Walter mehr an diesem Ort des Todes und der schlammigen Gräben. Nicht mal zwanzig Sekunden, nachdem der Schein verschwunden war, nahm die Artillerie beider Seiten ihren Dienst wieder auf. 

Elisabeth Aicher, die nun Obermüller hieß, spielte seit ein paar Jahren das Leben arg mit. Nachdem ihr mitgeteilt worden war, dass ihr großer und einziger Bruder an der Westfront als vermisst galt, hatte sie einen Metzgermeister aus München geheiratet und war zu ihm gezogen. Der einst so freundliche Mann entpuppte sich nach der Hochzeit als wahrer Tyrann. Er schlug und misshandelte seine junge Gattin und trank nach Feierabend Unmengen an Alkohol. Von ihrem geliebten Bruder hatte Elisabeth nie wieder ein Lebenszeichen vernommen und für die zarte junge Frau stand längst fest, dass Walter sein Leben in diesem sinnlosen Krieg gelassen hatte. An einem grauen Februarabend, der Gatte war in die Bierkeller der Stadt ausgezogen, um einem Kerl namens Hinkel oder Hiller zu lauschen, klopfte es bei Elisabeth an der Wohnungstür. Davor stand ein hübscher großer Mann in Anzug und Krawatte, dessen helle Augen liebevoll funkelten. In seiner Hand trug er eine offenen Kiste aus einfachem Holz. 

"Guten Abend, Frau Obermüller. Ich war mit Ihrem Bruder im großen Krieg. Ich habe ihn sehr gern gemocht und er bat mich, Ihnen das hier zu geben. Ich soll Ihnen sagen, es stammt aus Ziroklan", sprach der Fremde freundlich und reichte ihr die Kiste. Sie war nicht schwer und Elisabeth erkannte darin grüne Äpfel, ein Stück Bergkäse, einen Brief, auf dessen Umschlag Für meine geliebte Schwester stand. Die Worte waren ganz eindeutig in der Handschrift ihres Bruders Walter verfasst. Und in der Kiste lag eine silberne Taschenuhr. Der Fremde stand bereits im Begriff, die Treppen in Richtung Hauseingang hinunterzusteigen. 

"Wer sind Sie?", fragte Elisabeth leise, worauf der Unbekannte sich noch einmal umdrehte und mit einem Lächeln antwortete: "Mein Name ist Karl Rosenbluhm. Im Krieg hat man mich auch Leutnant Rosenbluhm genannt, doch das bedeutet heute gar nichts mehr." 

Dann war er verschwunden und Elisabeth konnte nicht sagen, ob er wirklich die Treppe hinabgestiegen war oder sich einfach in Luft aufgelöst hatte.