ultrakurz; der Gesang von nebenan

 


Wenn ich vor vielen Jahren gefragt worden wäre, wie ich mir mein Leben in Zukunft vorstelle, hätte ich ganz sicher nicht gesagt, dass ich irgendwann mal aus dem Home Office heraus im Kundenservice arbeiten und in einem Hochhaus der Trabantenstadt wohnen würde. Aber, es ist so, wie es ist, und es kommt so, wie es kommt. Sich zu beschweren über das große Gebilde des Lebens , führt endlich doch zu nichts.

In meinem Hochhaus lebten über den Daumen gepeilt sicherlich mehr als vierhundert Menschen, doch kennen tat ich lediglich zwei. Die etwa gleichaltrige Hülya und den fünfundzwanzig Jahre jüngeren Justin. Hier an diesem grauen Orte weit weg vom leuchtenden Zentrum der großen Stadt regierte die Anonymität mit eiserner Hand.

Hülya und ich gaben uns manchmal die Zärtlichkeit, die wir dort draußen immer gesucht, aber niemals gefunden hatten. Uns verband ganz unverkennbar eine tiefe Art der Seelenverwandschaft, aber zu einer festen Beziehung war weder sie noch ich in der Lage. Genau wie ich philosophierte Hülya gerne für mehrere Stunden am Stück über diese Welt, betrachtete alles mit Tiefgang, las zwischen den Zeilen. Genau wie ich besaß auch sie höhere Bildung, welche sie ebenso kein Stück in diesem Leben wirklich weitergebracht hatte. Sie hockte im Discounter nahe der Trabantenstadt an der Kasse und füllte die Regale auf, so wie mich mein altes abgeschlossenes Grundstudium der Geschichte und Alten Sprachen heute im heimischen Call Center sitzen ließ in einer Zeitspanne der Schichten zwischen 06:00 und 23:00 Uhr. Justin Herold war gänzlich anders. Er wusste nichts von den Objekten des äußeren Sonnensystems und den Konjunktiv hielt der Kerl aus dem Apartment nebenan für einen DJ oder MC. Trotzdem mochte ich den Mann, der mein Sohn hätte sein können, auf eine gewisse Art und Weise. Mal jobbte er;  in Fastfood-Schuppen im Gewerbegebiet, an der Waschstrasse von Timo Behrmann , als Hilfsarbeiter bei Daniel Simmern Garten- und Landschaftsbau. Das tat er nicht ungern, was ein Foto in seinem Smartphone zeigte, welches ihn hinter dem Steuer eines nagelneuen Ford Rangers zeigte, der die Aufschrift Timo Behrmann Vulkan Wäsche trug. Stolz schaute Justin in den Sucher des Smartphones, welches diesen Schnappschuss geschossen hatte. Doch eigentlich träumte Herold von der Karriere als großer Rapper. Manchmal kam er mit zwei Dosen Bier, einer Tüte und seiner Kladde zu mir herüber, um für ein Stündchen oder zwei mit mir zu chillen, wie er es nannte, und seine neusten Reime vorzulesen, von denen er hoffte, sie würden ihn eines Tages aus der Vorstadt bringen in ein Anwesen mit Swimmingpool hinein, wie das all seine großen Vorbilder des Sprechgesanges bewohnten. Irgendwann brachte Justin einen Typen namens Jannik mit in den Block, ein seltsamer Kerl, der seltsames Zeug über Okkultismus erzählte und noch viel seltsamere Ohrringe, Ringe, und Kettenanhänger trug. Ich mochte Jannik nicht. Er war mehr als unheimlich und wenn Justin sich in dessen Gegenwart befand, mied ich meinen Nachbarn und fragte mich stets, was Jannik, der aus der noblen Südstadt stammte, hier in dieser Gegend wollte. 

Eines Tages verschwanden die zwei Schosshündchen von Ingrid. Ingrid wohnte irgendwo in diesem Haus und ich hatte sie vielleicht in all den Jahren zweimal gesehen. Hülya berichtete mir, dass das Verschwinden die ohnehin schon kranke alte Frau noch kränker gemacht hatte. Zwei Tage später starb Ingrid. Die Hunde blieben verschwunden.

Kurz darauf stand an einem Abend Justin bei mir vor der Tür. Stolz berichtete er, dass er ein nicht unbedeutendes Reime-Battle gewonnen habe. Dieses sei der erste Schritt hin zur Karriere und zudem hätte der Preis für den Gewinner bei tausend Euro gelegen und es wäre ihm gelungen, im Rahmen der Veranstaltung Kontakte zu professionellen Musikern herzustellen. Justin lud mich daher auf eine Flasche Champagner und besonders edles Gras ein. Er rappte den Siegesreim herunter und ich musste eingestehen, dass die Worte wesentlich besser waren als jenes, was Herold zuvor sich erdacht hatte.

Ich saß am dienstlich gelieferten Computer und telefonierte im Rahmen der Spätschicht an einem Donnerstagabend mit einem Kunden, der die Fritz-Box zu tauschen gedachte. Nachdem das Telefonat beendet worden war, legte ich das Headset neben die Tastatur auf den Schreibtisch. Die Uhr zeigte nach zehn an, die Anrufzeit war verstrichen und nun galt es bis elf, Backoffice-Tätigkeiten zu erledigen.  Als ich gerade eine E-Mail hinsichtlich eines Tarifwechsels beantwortete, hörte ich die Geräusche durch die Wand. Aus Justins Apartement drang, nun als solcher zu vernehmen, Gesang von nebenan durch die Wand.  Doch es handelte sich hier nicht um Hip-Hop-Reime, sondern hier sang eine Gruppe von Menschen etwas Choralartiges in einer Sprache, die Latein hätte sein können, doch es kam zu gedämpft daher und dauerte zudem nicht lange genug an, so dass ich es endlich nicht genau sagen konnte. Nach etwa einer Minute erstarben die Laute und sie hatten extrem unheimlich, äußerst unangenehm geklungen. Ich fragte mich, mit wem Justin dort drüber an was für einer Art von Musik arbeitete. Ein schon recht arges Gefühl breitete sich in mir aus, während ich die nächste E-Mail zu bearbeiten anfing. 

Am nächsten Tag machte ich mich vor der Spätschicht zum Einkaufen auf. Im Flur traf ich Khaled, der, so meinte ich jedenfalls, ganz am oberen Ende des Ganges wohnte. Ich kannte nur seinen Namen und wusste sonst nichts über ihn und ich nahm weiter an, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Mehr als Hallo sagten wir bislang nie zueinander. Doch das änderte sich am heutigen Vormittag. Khaled berichtete mir von seltsamen Lichtspielen, die sich am gestrigen Abend in der Wohnung von Justin abgespielt hätten. Er habe es unter der Türe blinken sehen, als ob da eine Lichtorgel liefe. Und von draußen wäre es durch die Fenster noch deutlicher sichtbar gewesen. Rot, Grün, Blau hätten ständig gewechselt. Und das sei nicht das einzige Merkwürdige dieser Nacht in Verbindung mit Justin gewesen. Als Khaled später auf dem Balkon eine Zigarette geraucht hätte, habe er unten Justin mit drei weiteren Männern gesehen. Zusammen hätten sie einen Teppich oder so geschleppt. Dann verschwand Khaled in die Anonymität seiner Wohnung hinein und ich in die meinige. Den seltsamen Gesang nebenan hatte ich nicht erwähnt. Hülya erzählte mir dann etwa eine Woche später, dass ein junger Mann aus der ersten Etage seit letzten Donnerstag spurlos verschwunden sei. Vom Namen her, er hieß Hristo, kannte ich ihn natürlich nicht und auch, als Hülya ihn mir beschrieb, baute sich vor meinem inneren Auge kein passendes Gesicht dazu auf. 

Justin Herold stieg zum Megastar der deutschen Rap-Szene auf und die Geschwindigkeit, in der es geschah, war atemberaubend. Über Nacht quasi nahm ihn eines der größten Labels des Planeten unter Vertrag und keine zwei Monate nach dem Gesang von nebenan sang Justin nun vor tausenden von zumeist sehr jungen Leuten über Drogen, Gewalt und das Leben in der Vorstadt, in welcher er allerdings nicht mehr lebte. Er lud mich in seine neue Penthousewohnung mitten in der Innenstadt ein. Auf der Dachterrasse, wo es gar einen geräumigen Whirlpool gab, feierte er eine Party mit Champagner und Kokain. Nun umgaben ihn Menschen, für die er noch vor einem Vierteljahr nicht mehr als Luft gewesen wäre, und natürlich zeigte mir Herold in der hauseigenen Tiefgarage seinen nagelneuen Bentley Continental GT, ein schwarzes Gefährt, dessen rote Felgen gleich dem Feuer der Hölle im Kunstlicht funkelten. Doch am meisten beeindruckte mich, in welchem Tempo Justin neue Reime auf das Papier brachte. Überall in der riesigen Wohnung lagen Zettel voller Texte umher. Ich erkundigte mich, wie er das fertigbringe und er antwortete, dass er das eigentlich gar nicht bewusst tue, denn sobald der Stift in seiner Hand lege, führe eine höhere Kraft diesen über das Papier. Ich schob die Aussage auf das Kokain. 

Nicht viel später verbrachte ich mit Hülya einen verregneten Sonntag im Bett, da die Zeit wieder einmal gekommen war, dass sowohl sie als auch ich ein Quantum Zärtlichkeit benötigten. Uns gegenseitig streichelnd schauten wir Dokumentationen aus dem Reich der Tiere. Weil die Berichte über die Wildnis irgendwann vorüber gingen, strahlte der Sender nun Beiträge über Baumaschinen der Superklasse aus, was für uns zwei einsame Geschöpfe nun wahrlich nicht interessant war. So fing Hülya an, die über einhundert Sender, welche ein digitaler Kabelanschluss mit sich brachte, hinauf und hinunter zu schalten. Auf MTV gab Justin Herold seine neuste Kreation des Sprechgesanges zum Besten. Zwischen leichtbekleideten, wohl proportionierten Mädels, tiefergelegten SUVs und Pseudomarihuanaqualm singsangte mein ehemaliger Nachbar unter anderem die folgende Passage: 


... Du wirst daran scheitern

Was ich locker kann

Die Dämonen der Hölle

Die treiben mich voran... 


Nun schlug der Geistesblitz grell und voller Gewalt in mein Gehirn ein. 

Jannik hat Justin mit so okkulten, satanischen Dingen in Kontakt gebracht. Justin hat einen Pakt mit Satan geschlossen, was in jener unheilvollen Nacht geschehen ist, als ich den Choralgesang gehört habe und Khaled die seltsamen Lichtspiele beobachtet hat. Er hat das getan, um eine ganz große Nummer im Hip-Hop-Geschäft zu werden, was ihm ja auch gelungen ist. Doch Satan verlangt für den Erfolg selbstverständlich eine Gegenleistung. So musste Justin opfern; zuerst die Hunde von Ingrid. Das hat er vor den Lichtspielen und dem Gesang getan. Wahrscheinlich war dieses Opfern eine Voraussetzung dafür, dass er kurz darauf den Pakt mit dem Teufel schließen durfte, was im Rahmen einer widerwärtigen Zeremonie in seinem Apartment geschah und wobei gesungen und geopfert wurde. Und das farbige Licht hat sicherlich die Ankunft Satans auf Erden angekündigt. Das Opfer war Hristo aus der ersten Etage, der bis heute spurlos verschwunden ist. Khaled hat ja gesehen, wie Justin und drei andere Männer einen Teppich aus dem Hochhaus getragen haben. In diesem Teppich war die Leiche von Hristo! Und nach dem Menschenopfer kam der ganz große Erfolg! Ein solch gewaltiger Erfolg, dass Justin ganz offen zugibt in seinem Song, wem er diesen zu verdanken hat! Die höhere Kraft führt den Stift! Das hat er mir selbst gesagt! 

In mir zog sich etwas zusammen und ich kroch unter die gemeinsame Decke, um mich ganz eng an Hülya zu kuscheln. Es konnte mir die Kälte und die tiefe Furcht nicht nehmen, ihre Wärme zu spüren. Doch all meine Gedanken sprach ich mit keinem Wort aus, so wie wir wohl niemals gegenüber dem anderen unsere wahren Gedanken aussprachen. Aber, wie wir da so zusammen lagen, konnte ich wieder den Gesang vernehmen. Diesmal kam er wesentlich klarer von der Akustik daher; er, der Gesang von nebenan.