ultrakurz; der Flug der Puppe

 


Der Samstag an diesem Wochenende in der Mitte des Monats November war vom Wetter her wunderschön und, man muss es natürlich sagen, für diese Jahreszeit viel, viel zu warm. So ging ich mit meiner Tochter zur Mittagsstunde hinaus, um bei frühlingsähnlichen Temperaturen in Richtung des Baumspielplatzes zu ziehen, einer von drei solchen Orten innerhalb des Dorfes vor den Toren von Koblenz, wo ich mit meiner Familie lebte. Unser Weg führte uns über die nahen kahlen Felder und durch eine Gemeinschaft von Bäumen, die man mit viel Fantasie den kleinen Wald nennen konnte. An dessen Rand lag zwischen hohem Gras und Klee eine einsame wie nackte Puppe, welche meine aufmerksame Siebenjährige entdeckte und umgehend an sich nahm. Wir rätselten kurz umher, warum die Puppe ausgerechnet hier lag, vergessen und verlassen wohl von einem Kind, von dem das Spielzeug einst geliebt worden war, bevor es sich endlich aber in ein einfaches Stück Plastik verwandelt hatte. Meine Tochter jedenfalls entschied rasch, die nackte Puppe temporär zu behalten.

Wir passierten den Graben. Der Graben stand mitten im Nirgendwo und was genau er einst gewesen war, das konnte ich nicht ganz sicher beantworten. In jedem Fall war er künstlichen Ursprungs, wovon die zwei langen Betonwände rechts und links zeugten. Ich nahm an, dass hier einst wahrscheinlich zu Zeiten des Wirtschaftswunders eine Kfz-Werkstatt gestanden und dieser Graben dazu gedient hatte, Lastkraftwagen von der Unterseite her zu inspizieren und zu reparieren. Die Werkshalle um ihn herum war längst verschwunden und statt Öltropfen fielen heute Regengüsse und die bunten Blätter des Herbstes in das Bauwerk hinein. Seine Wände zierten Graffitis, einige schwachsinnig, andere gelungen. Wie immer, wenn wir uns auf diesem Weg befanden, blieben meine Tochter und ich stehen, um einen Blick hineinzuwerfen. Gestern Nacht hatte es einen argen Schauer gegeben, so dass Fützen zwischen dem Laub im Licht der Sonne funkelten. Eine davon schien seltsamerweise violett zu schimmern, was aber auch eine optische Täuschung sein konnte.

Dann kreuzte Mark unseren Weg. Mark verkörperte in diesem Ort so etwas wie den Ritter der traurigen Gestalt. Er mochte, genau wusste ich das nicht, so um die Mitte dreißig sein und hatte sich, das wusste ich im Gegensatz zum Alter ganz sicher, in früheren Jahren mit Tee aus Engelstrompeten und anderen psychotropen Substanzen häufig aus dieser Welt katapultiert und nun gelang es ihm trotz medizinischer Unterstützung nicht mehr, so ganz in diese zurückzukehren. Der Vater von drei Kindern war arbeitsunfähig und seine Frau hielt als Lehrerin die Familie finanziell und organisatorisch am Leben. Martin sah sich beispielsweise überall von Reichsbürgern und Neonazis, die er zutiefst verabscheute, umzingelt, ja, vermutete diese gar in hohen politischen Kreisen, wo sie als Wölfe in Schafspelzen aus dem Verborgenen heraus ihre Fäden zögen. Dennoch mochte ich Mark auf eine gewisse Art und Weise. Während ich mich mit ihm unterhielt, schlenderte meine Kleine in den ausgedienten Kfz-Graben hinab. Heute redete er nicht von Reichsbürgern, sondern erwähnte, dass man im Himalaya Spuren finden könne, die eindeutig belegen würden, dass Außerirdische bereits vor vielen Zeitaltern auf der Erde gewesen wären. Er empfahl mir dazu die Serie Ancient Aliens auf Kabel 1 Doku.

"Papi!", rief meine Tochter aus. "Ich habe die Puppe in die Fütze geworfen und jetzt ist sie einfach weg!"

Aufgeregt hüpfte sie vor der Wasserlache und zwischen den von Graffiti übersprühten Wänden auf und ab. Martin und ich stiegen zu ihr hinab, worauf sie nochmals erklärte: "Ich habe die Puppe in die Fütze da geworfen! Und dann war sie plötzlich einfach weg!" Ihr Arm wies dabei auf das kleine Fleckchen trüben Wassers, welches nicht größer als der Deckel einer ordinären Toilette war. Alle drei beugen wir uns hinab und siehe, die Oberfläche wurde von seichten, jedoch geometrisch streng angeordneten Sechsecken überzogen. Der Betrachter musste schon genauer hinsehen, aber sie waren eindeutig vorhanden und schimmerten milchigweiß bis violett im Licht der Herbstsonne. Mark nahm einen Stock vom Boden auf und führte ihn hinein ins Wasser und als sei die Fütze mehrere Meter tief, versank das Holz bis fast zu seiner Faust.

"Da ist kein Grund, Mann! Ich kann das Ding da locker reinstecken, als wäre da ein Swimmingpool drunter", erklärte Mark und zog den Stock wieder zurück. Seine Stirn lag in Falten. Flüssigkeit tropfte beinahe von dem gesamten Holz hinab.

"Das kann nicht sein. Los nochmal!", forderte ich ihn auf, während die Kleine quakte: "Wo ist die Puppe?"

Mark tat, wie ihm geheißen, doch diesmal drang der Stock keine fünf Zentimeter in die Fütze, bevor er den Grund erreichte. Mit unseren Füßen schoben wir das trübe Nass hinfort, wobei meine Tochter eifrig half. Sichtbar wurde allerdings nur der verblichene Betonboden der ehemaligen Kfz-Werkstatt. Die Puppe blieb verschwunden.

Im wundersamen Licht des prächtigen blauen Gasgiganten erschien im Firmament voller silberner Sterne Abermillionen Lichtjahre von der Erde entfernt ein schwarzes Sechseck. Es war dermaßen dunkel, dass es nur auszumachen war, weil es einen Teil der Sterne und des beringten Planeten für den einen Moment verdeckte. Lange blieb es nicht, aber bevor es wieder verschwand, spie es etwas aus. So stürzte durch die Atmosphäre und hinab in Richtung Mondoberfläche jene Puppe, welche die Siebenjährige vor wenigen Augenblicken auf der Erde in eine Fütze geschleudert hatte.  Schier ewig dauerte der Flug der Puppe, doch endlich stürzte sie hinein in einen smaragdgrünen Ozean. Und die Gezeiten trugen das Barbie-Imitat dahin, bis es endlich durch die silbern brechenden Wogen an einen violetten Sandstrand gespült wurde. Da lag sie nun und eine Sphinx schaute auf das einsame Spielzeug hinab.