ultrakurz; Weiter oben die Straße hinauf



Über dem protzigen Palast hatte der seewärts kommende Wind an diesem Abend im Spätherbst dunkle Wolken zusammengetrieben. Hinter dessen dicken Mauern zog sich der alte Despot zum Sterben in sein Schlafgemach zurück. Über Jahrzehnte wurde das große Land von ihm autoritär regiert, aber er konnte sich nichts vorwerfen. Nein, er, der einzigartige Führer hatte stets alles richtig getan. 

Für mich gibt es kein Vertun. Ich habe stets im Namen dieses wundervollen Landes, welches ich liebe, und dessen Bewohnern, die mich lieben, gehandelt. Als ich angefangen habe in der großen Politik, da haben viele über mich als unbeschriebenes Blatt gelacht, haben mich für einen Dummling gehalten, der von den Diensten kommt. Von diesen Leuten lacht heute niemand mehr!

In den pompös eingerichteten Raum waren dem Despoten lediglich die engsten Familienangehörigen, die Leibärztin sowie der höchste Geistliche der orthodoxen Kirche seines Landes gefolgt. Das Zimmer war abgedunkelt und wurde von zwei sanft scheinenden Stehlampen erleuchtet, obgleich jenseits der Fenster noch Tag herrschte. Doch in den letzten Stunden seines Lebens suchte den Diktator eine herbe Lichtempfindlichkeit heim. Sein jüngstes Enkelkind, ein fröhliches kleines Mädchen, schaute selbst an diesem Ort und in dieser Situation ständig auf das Smartphone und verfolgte grelle YouTube-Clips. Doch der Alte konnte ihr deswegen nicht böse sein. Böse auf all das Unheilbringende von außerhalb des Reiches war er im Laufe seiner Karriere hingegen genügend gewesen. Kriege hatte es unter seiner Führung reichlich gegeben. 

Die Städte im Nahen Osten, dort wo die islamischen Terroristen hausen, habe ich durch meine mächtige Luftwaffe in Schutt und Asche legen lassen und gleichzeitig dabei noch einem guten Freund geholfen. Der Westen hat mich hart dafür gescholten und mir unterstellt, dadurch würde ich Leid und Flüchtlingsströme erzeugen. Diese Bastarde! Sie sollten mir dafür danken. Die Menschen, die dort von den Bomben getroffen wurden, waren allesamt Terroristen und ihre Kinder die Terroristen von morgen. Niemand ist dort unschuldig. Ich bin ein Held, denn ich habe diese Welt sicherer gemacht!

Nicht immer waren seine Feldzüge erfolgreich, doch die Schuld dafür trugen andere. Er selbst konnte sich nichts vorwerfen. Das sagte auch der Patriarch, welcher ihm anstandslos die letzte Ölung verpasst hatte. 

Das schlechte Abschneiden bei der militärischen Spezialoperation im Nachbarland ist ausschließlich auf den moralisch verkommenen Westen zurückzuführen. Sie haben den Nazis von nebenan geholfen, weil die ihre Werte moralischen Verfalls teilen. Schwule, Transgenders, Teufelsanbeter und Emanzen lauern dort an jeder Ecke. Sie hassen mich, weil ich gegen ihre Morallosigkeit stehe. Weil ich der letzte Vertreter des wahren Christentums bin, dafür hassen mich diese vom Teufel gesteuerten verkommenen Subjekte. Deshalb haben sie sich zusammengerauft und dem faschistischen Regime in unserer unmittelbaren Nachbarschaft geholfen. Und Satan ist stark, verdammte Tat, sehr stark! Aber ich habe ihm die Stirn geboten! Ich! 

Auch im eigenen Land mussten unzählige Menschen erfahren, dass es nicht klug war, sich mit ihm zu messen. Viele saßen in den Kerkern der Foltergefängnisse oder in den Arbeitslagern, die sich über das gesamte Riesenreich verteilten. Andere wurde durch den Geheimdienst vergiftet oder sonst wie ermordet, ganz gleich, wo auf dieser Welt sie sich befanden. Lang war der Arm des Despoten. 

Diese Menschen haben sich gegen die wahre Freiheit unseres Volkes gestellt. Sie sind Verbrecher und besessen vom Leibhaftigen! Sie sind ebenso schlimm wie die Feinde von außerhalb, mit denen sie Hand in Hand arbeiten. Sie wollen dieses Land seiner Strahlkraft und Religion, seiner Werte und Moral berauben. Sie wollen die letzte leuchtende Stadt auf dem Hügel zerstören und sind deshalb genauso zu behandeln wie die Feinde jenseits der Grenzen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Ich habe ein reines Gewissen und wasche meine Hände in Unschuld!

So war es ihm erst kürzlich vom Patriarchen, der einen notorischen Ja-Sager verkörperte, bestätigt worden, was ihn ungemein auch in Hinblick auf den Übergang ins Jenseits beruhigte. Auch die vielen Söhne des eigenen Landes, die für seine Kriege, ob sie nun wollten oder nicht, in den Tod gegangen waren und gingen, kümmerten ihn kaum.

Die berühmten Philosophen sagen es! Dieses Land hat groß zu sein vom Meer bis zum Ozean, vom Pol bis in die Tropen! Es hat mit seiner Moral und seinen Werten, seiner Kultur und seiner Stärke den Kreis der Erde zu dominieren! Für diese heilige Sache sein Leben zu lassen, ist eine Ehre, denn warten tut der Himmel. Wer das anders sieht, der soll auf ewig mit den Dekadenten und Faschisten in der Hölle schmoren!

Nein, über die Gefallenen seines Landes zerbrach der Despot sich nicht den Kopf. Dafür wunderte er sich über eine andere Sache. Als Kind in den grauen Arbeitervororten einer Megastadt sowie als späterer Student hatte der heutige Despot oft denselben Traum gehabt; er steht Mitten auf einer langen Straße, die von Bäumen gesäumt wird, in einer insgesamt doch recht winterlichen Szenerie. Er erwartet beinahe angstvoll, dass hinter all den kahlen Bäumen Menschen auftauchen. Doch nichts geschieht, bis er erwacht. Dann, als seine politische Karriere begonnen hatte, war der Traum verschwunden, um dann nach all den Jahren kürzlich zurückzukehren. Er hatte seine Leibärztin gefragt, was das bedeuten könne, und deren Worte waren gewesen, dass er sich darüber keine größeren Gedanken machen solle. Das beruhigte ihn bis heute, denn auf eine bestimmte Art und Weise empfand er diesen Traum als unheimlich.

Nein. Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Es gibt nichts zu bedauern! Es gibt nichts zu bereuen! Und doch; der Traum...

Gegen 22:00 Uhr erwachte der Despot noch einmal aus seinem Rausch aus Opiaten, Muskelentspannern und Beruhigungsmitteln, um sich von seinen nächsten Angehörigen zu verabschieden. Während er sich zur Wand hin auf die Seite rollte und die Fötalposition einnahm, fing der Patriarch das Totengebet zu murmeln an. Es wurde zu einer Litanei in der Quasistille des Schlafgemaches. Die kleine Enkelin schaute weiter YouTube. 

Nein. Ich habe mir nichts vorzuwerfen! Es gibt nichts zu bedauern! Es gibt nichts zu bereuen! Und doch; der Traum...

Gegen 22:57 Uhr führte die Leibärztin, bei der es sich ebenfalls um eine chronische Ja-Sagerin handelte, eine weitere Untersuchung durch. Mit gespielter Traurigkeit verkündete sie, dass es nun bald vorbei sei. Der Patriarch betete natürlich weiter und auch die anderen Ja-Sager in diesem Raum gaben sich von tiefer Trauer erfüllt. Nur die Kleine, die mit Ja-Sagerinnen und Ja-Sagern nichts am Hut hatte, schaute weiter YouTube mit einem leichten, kaum auszumachenden Lächeln auf dem Gesicht.

Old McDonald hat ne Farm, Hihahihaho, und auf der Farm da wohnt mein Hund, Hihahihaho, und es bettelt hier und es bettelt dort, bettelt hier und an jedem Ort, Old McDonald hat ne Farm, Hihahihaho... Ich kann mir nichts vorwerfen... Ein Tor in der letzten Minute... Nichts bereuen... Und doch, der Traum...der Klerus sagt, dass ich mich um nichts zu sorgen brauche. Immer habe ich richtig gehandelt und Gott und sein Sohn standen stets an meiner Seite. Die Sakramente wurden gespendet. Ich werde eingehen in den Himmel...und doch, der Traummmmmmm...ich werde eingehen in den Himmel... Kann ihn schon fast sehen... Der Himmel...Dort ist alles, wie ich es versucht habe, auf Erden zu errichten...

Um genau 23:23 Uhr stellte die Ärztin den Tod des Despoten fest. Zumeist Pseudogeheule brach in dem Schlafgemach aus, welches allerdings sehr echt wirkte. Nur die kleine Enkelin schaute weiter YouTube. 

Er steht auf einer Straße in einer verschneiten Szenerie im schwachen Tageslicht eines tristen Wintertages. Die Straße verliert sich in der Unendlichkeit und rechts und links von ihr stehen finstere kahle Bäume. Hinter dem Baum, der ihm am nächsten wächst, kommt eine alte Frau mit Kopftuch hervor und direkt auf den Despoten zu. Der erwartete, von ihr freudig im Jenseits empfangen zu werden, schließlich hat er sich nichts vorzuwerfen. Doch es kommt anders, als er denkt.

"Ich", fängt sie mit einer Stimme an, die kälter ist als die Szenerie, "bin eine deiner Landsfrauen, im Leben fleißig und unbedeutend gewesen, so dass du mich nicht wahrgenommen hättest. Ich habe gearbeitet, damit mein Sohn Archäologie und Ägyptologie studieren konnte. Zwei Jobs habe ich deswegen gemacht. Er war schon immer ein ruhiges, in sich gekehrtes Kind, das sich am wohlsten bei seinen Büchern gefühlt hat. Er wollte nur lesen und seine Ruhe haben. Du hast ihn mir weggenommen! Du hast ihn in Uniform gesteckt, von einem Priester segnen lassen und mit einem uralten Gewehr an die Front geschickt, damit er dort deinen ganz persönlichen Krieg führt und andere Kinder von Müttern wie mir ermordet. Er kam im Sarg zurück ins Vaterland! Fühle meinen Schmerz, den ich gespürt habe, als ich die Nachricht von seinem Tod überbracht bekommen habe und der mich selbst kurze Zeit darauf ins Grab hat sinken lassen!"

Und dann kommt der Schmerz. Er explodiert gleich einer Thermofusionsbombe im Herzen des Despoten, um sich von dort rasch im jenseitigen Körper auszubreiten. Der Schmerz bildet ein eigenes Universum rund um ihn herum und er brennt, brennt, brennt. Die Qual ist derartig gewaltig, dass der Despot in die Knie geht und dabei einen Schrei von sich gibt, der über sämtliche Grenzen hinweg dröhnt. Dann sieht er es weiter oben die Straße hinauf. Dort kommen hinter den Bäumen plötzlich Menschen, Männlein wie Weiblein, Alt wie Jung, hervor. Plötzlich kann er weiter oben die Straße hinauf bis zum Horizont sehen. Überall kommen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Sie nehmen wie eine Armee von Ameisen den heruntergefallenen Lutscher alles im Feld der Sicht ein. Die ganze Welt ist schwarz von ihnen und sie stehen rechts und links der Straße. 

"Sie alle", fängt die Alte zu erklären an, "sind durch deinen widerwärtigen Einfluss auf diese Welt ums Leben gekommen. Sei es nun in deinem eigenen Land oder in jenen, welche du attackiert hast aus den fadenscheinlichsten Gründen. So wie du meinen Schmerz gerade spürst, so wirst du auch ihren Schmerz, ihre Angst und ihre Verzweiflung spüren, als sie erkannten, dass ihr Leben zu Ende geht. Du wirst es tausendfach potenziert spüren, während du einsam und allein und ohne deine Ja-Sager diese Straße entlang gehst. Und du wirst gehen!"

Dann ist die Frau verschwunden. Unter Höllenqualen, die schwer wie das Gewicht eines Neutronensternes auf ihm lasten, rappelt der Despot sich auf. Er weiß, dass er für alle Ewigkeit diese Straße wird entlangwandeln müssen. Also macht er sich auf den endlosen Weg. Vor Schmerzen tränen seine Augen in einem fort und sie werden mit jedem zurückgelegten Meter schlimmer und schlimmer werden, denn in dieser Welt kennt der Schmerz keine Grenzen. Er wird brennen, brennen, brennen. Tief nach vorne gebeugt, den Mund dabei weit geöffnet, schleppt der Despot sich vorwärts und weiter oben die Straße hinauf warten die ersten Seelen auf ihn. 

Im Schlafgemach auf Erden löste sich die Gruppe allmählich auf. Obgleich es keiner der Ihrigen sagen würde, empfanden beinahe alle eine große Linderung der bis dahin permanenten Angst. Nur das Enkelkind hatte es nicht eilig, vom Totenbett ihres Großvaters fort zu kommen. Sie saß auf dem luxuriösen Sessel und irgendwie war sie auf YouTube in ein grandioses Live-Konzert von Neil Young gelangt. Der große Musiker sang: "Keep on rocking ' in the free world!" 

Und die dynamischen Klänge stiegen vom Palast hinauf und quer durch das Multiversum, bis der Despot auf der endlosen Straße sie vernehmen konnte. 

Keep on rocking in' the free world...