Anmerkung;
die folgende Geschichte wurde inspiriert durch das Lied The Traveller
von Chris de Burgh, welches im Jahre 1980 auf dem Album Eastern Wind erschien.
Der
Reisende
Irgendwo
an der steilen Küste der Bretagne liegt, dort wo sich die gewaltigen Wogen an
dunklen Felsen wütend brechen, ein Dorf, in welchem heute vielleicht noch
dreihundert Seelen ein einfaches Leben führen. Die große Straße teilt die
Siedlung in zwei Hälften. Sie führt auch direkt an dem zentralen Platz vorbei,
in dessen Mitte der alte Brunnen vor sich hinplätschert. Von dort bedarf es
lediglich etwa zwanzig Schritte und man steht an der Theke des urigen Cafes Le
Sanglier Rouge. Die wenigen Touristen, welche das Dorf durchqueren, kommen
allesamt beim Schauen aus den Wagenfenstern einhellig zu dem Schluss, dass hier
die Zeit stillstehe. Niemand nimmt sich die Zeit, die Fahrt zu stoppen, um
einzukehren ins Le Sanglier Rouge; fast niemand.
In
den frühen 2020er-Jahren betrieb die Gaststätte ein gewisser Rüdiger Heitmann,
der mit Jeannette verheiratet war, die bis zu ihrer Jugend in diesem Dorf
gelebt hatte und außerdem die Tochter des Ehepaares war, welches einst dieses
Lokal betrieben hatte. Die beiden waren
vor vielen Jahren an der Universität von Grenoble ein Paar geworden, wo sowohl
der deutsche Heitmann als auch die Bretonin Jeannette studiert hatten. Sie
hatten eine Zeitlang in New York, dann in Kalkutta, auch in Sydney sowie Madrid
gelebt, weil es ihre hochwertige Ausbildung ermöglichte, überall und immer eine
gut bezahlte Tätigkeit zu finden. Dann seien sie, so sagte man im Dorf
jedenfalls, auf den Wunsch von Rüdiger hierhergezogen, da er sich im Geburtsort
seiner Gattin wahrlich wohlfühle.
In
der Gaststätte saßen unter der Woche vielleicht im Durchschnitt fünf ältere
Dorfbewohner, an den Wochenenden konnte es dann auch mal zehn sein. Das reichte
kaum zum Überleben der Betreiber unter normalen Bedingungen, aber Jeannette und
Rüdiger hatte beide großzügig geerbt und konnten es sich dementsprechend
leisten.
Es
war an einem Donnerstagabend, als der Reisende das Lokal betrat. Es verloren sich
hier zu dieser Stunde vier Personen, sah man von Rüdiger hinter dem Tresen und
Jeannette in der Küche ab. Zunächst konnte man in der Schankstube vernehmen,
dass draußen vor dem Eingang ein schweres Motorrad zum Stehen kam.
Sofort
ging ein Raunen durch die Gäste, welche allesamt älteren Jahrgangs waren. Ein
Fremder im Dorf, da stimmten sie überein, war ein gefährliches Zeichen.
Die
Tür ging auf, es läuteten die daran befestigten Glöckchen und ein Mann trat
ein. Er war jung, groß, hatte schwarze Haare und einen Dreitagebart, der genau
so dunkel wirkte wie das Haupthaar auf dem Kopfe. Langsam ging er Richtung Tresen,
ohne dabei nach links oder rechts zu schauen. Seine Augen waren klar fokussiert
auf jenen Menschen, der hinter der Theke stand.
„Vielleicht
ist es ein Verbrecher auf der Flucht“, flüsterte am Ecktisch eine alte Frau ihrem
Mann zu.
„Vielleicht
hat er eine Waffe“, raunte dieser ihr zurück.
Alle
Augen ruhten auf dem Unbekannten in der typischen schwarzen Ledermontur eines
Motorradfahrers. Der Helm jedoch, welchen er unter dem linken Arm trug,
schimmerte scharlachrot im fahlen Licht jenes Ortes. Weil niemand der Anwesenden
mehr sprach, hallten die Schritte seiner schweren Stiefel besonders laut durch
den Raum.
Genau
am Tresen endete der vorläufige Weg des Fremdens. Er wuchtete sich auf einen
der Hocker und legte den Helm auf den freien Platz daneben.
„Eine
Flasche Whiskey bitte, Herr Wirt! Ich möchte mich für eine Weile unterhalten“,
sagte der Motorradfahrer mit dumpfer Stimme und seine brauen Augen hafteten fix
auf Rüdiger.
Dem
Wirt wurde sehr unbehaglich, während er Jameson und ein Glas mit
Eiswürfeln auf das Holz der Theke stellte. Diese Augen wirkten, als blickten
sie zu ihm hinüber aus einer gänzlich anderen Welt, nein, aus einer gänzlich
anderen Zeit. Und irgendwie kam das Antlitz des Fremdens ihm vertraut vor. Er
brauchte keine volle Sekunde überlegen, da wusste Rüdiger bereits, woher er ihn
kannte. Es lag lange zurück, bald fünfzig Jahre, und obgleich der Wirt weder
eine Foto von damals noch einen unscharfen Super8-Film besaß, würde er dieses
Gesicht niemals vergessen. Und dann brandete kurz Hoffnung in Rüdiger auf,
denn, dass es sich bei dieser Person hier vor dem Tresen um denselben Menschen
aus dem Jahre 1974 handelte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Denn wenn das der
Fall sein sollte, so hätte er sich kein bisschen verändert, wäre jung
geblieben.
Außerdem
kann er sich gar nicht verändert haben! Er ist tot! Er ist tot! Ich habe es
selber gesehen! Ich habe mich selber davon überzeugt! Er ist tot! Er ist tot!
Er ist tot! Er ist tot, tot, tot, tot, tot, tot…
Brutal
hämmerten die drei Buchstaben wieder und immer wieder durch seinen Kopf.
Tot,
tot, tot, tot, tot, tot…
„Hallo
Rüdiger! Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben. Weißt du es noch? Du
hast geglaubt, du begehst das perfekte Verbrechen, weil wir uns zuvor niemals
begegnet sind. Du hast dich wohl von dem Film Der Fremde im Zug inspirieren
lassen. Aber noch mehr als um das perfekte Verbrechen war es dir darum
gegangen, einen Menschen zu ermorden. Zu sehen, wie ein menschliches Wesen
unter Höllenqualen vergeht. Zu fühlen, wie es ist, die göttliche Macht über
Leben und Tod in den eigenen mageren Händen zu halten. Deswegen hast du mich durch
eine gefälschte Anzeige in die Industriebrache gelockt und mich dort bei
lebendigem Leibe verbrannt. Als ich in Benzin getränkt vor dir auf dem grauen
Boden lag und du das Paket mit den Streichhölzern in die Hand genommen hast, da
hast du eine Erektion gehabt. Nach deiner Tat hast du niemals wieder etwas davon
gehört. Niemals ist eine Person deswegen an dich herangetreten. Hast du
wirklich geglaubt, damit durchzukommen bis zum Ende deiner Tage? Hast du
wirklich geglaubt, dein Reisen durch die ganze Welt konnte dich davor bewahren,
Deiner bestialischen Tat eines Tages ins Gesicht zu sehen? Hast du wirklich
geglaubt, dich hier in diesem Dorf vor dem Schicksal verstecken zu können? Weiß
deine liebe Frau, dass sie mit einem sadistischen Mörder verheiratet ist?“,
sprach der fremde Reisende und seine Stimme klang ruhig, beinahe sanft.
Rüdiger
atmete tief durch und seltsamerweise empfand er plötzlich beinahe eine Art Erleichterung.
Die
beiden Männer, der Wirt und der Reisende, unterhielten sich und den Gästen kam
es so vor, als redeten sie über Alltäglichkeiten und aktuelle Themen; Fußball,
Krieg, Energiepreise, Konzerte, Autorennen. Worüber Rüdiger und der Reisende
tatsächlich sprachen, wird wohl niemals bekannt werden.
Fest
stand und steht jedenfalls, dass Rüdiger wusste, dass er mit diesem Mann reden
musste.
Und
ich muss mit ihm gehen! Ja, ich muss mit dem Reisenden gehen! Zusammen auf
seinem Motorrad!
Nachdem
die Flasche Whiskey leergetrunken worden war, erhob sich der Fremde von dem
Barhocker und ging in Richtung Ausgangstür. Rüdiger folgte ihm. Die Gäste
hörten, und in der Küche des Lokals vernahm es auch Jeannette, wie draußen das
Motorrad angeschmissen wurde und davonfuhr.
Rüdiger und der Fremde wurden niemals wieder gesehen.