ultrakurz; Eine traumhafte Nummer

 



Ich tat vor dem Zubettgehen nichts Besonderes. Im Privatfernsehen lief ein Spiel der Europa League, ein Viertelfinale zwischen einem spanischen und einem englischen Verein. Weil es sich um das Hinspiel handelte, waren meiner Meinung nach beide Teams zunächst noch primär auf Sicherheit bedacht. Die Partie endete 0:0 und ab Mitte der zweiten Hälfte machte es mir Mühe, die Augen aufzuhalten. Die zweite Dose aromatisierten Bieres, die ich mir zur Pause hin geöffnet hatte, würde von mir, das stand fest, nicht mehr geschafft werden. Normalerweise pflegte ich nach der Übertragung noch die Zusammenfassung der übrigen internationalen Spiele zu schauen. Das gehörte einfach zu meinen einsamen Fußballabenden dazu. Heute jedoch sollte mir auch das nicht gelingen. Eine Müdigkeit schwer wie Blei lastete, warum auch immer, am Ende dieses Donnerstages auf mir.

Um kurz vor 23:00 Uhr, im Fernsehen plärrte gerade der grelle Werbeclip eines Mobilfunkanbieters, nahm ich mein abendliches Antidepressivum, schaltete das SmartTV aus, machte mich auf vom Sofa ins Schlafzimmer. Per Handy lief stets zum Einschlafen eine Dokumentation. Früher, ja früher, hatten das Fernsehprogramm, der Videorekorder, später auch die DVD dafür herhalten müssen, aber diese Methoden bildeten längst Relikte der Vergangenheit. Nur dass ich ohne etwas Klang in meinen Ohren und leichten Lichtschimmer nicht einschlafen konnte, das war über all die Jahre hinweg immer gleich geblieben. Um diesen einsamen Tag abzuschließen, fiel meine Wahl auf eine Vorlesung durch die wissenschaftlichen Mitarbeiter der Sternwarte Potsdam; Thema: das Magnetfeld unserer Sonne. Sanft, kaum noch vernehmbar geleitete mich eine männliche Stimme auf meinem Weg ins Reich der Träume.  Nun entfaltete sich auch die müdemachende Nebenwirkung der Arznei, so dass der Schlaf bereits über mich kam, als der Wissenschaftler noch von Unterschieden bei der Oberflächentemperatur der Sonne referierte.

...der Sand ist weiß, das Meer türkis, der Himmel blau mit einigen Fetzen heller Wolken darin. Palmen reichen heran bis fast an die sanfte Brandung und ich kann die Sonne auf meiner Haut fühlen sowie den warmen Sand unter meinen baren Füßen, die schauen heraus aus meiner schlichten Lieblings-Blue Jeans. Ein azurfarbenes Trikot der italienischen Fußballnationalmannschaft trage ich am Leib. Es ziert, jenes weiß ich, ohne mich davon zu überzeugen, die Nummer 10 und ist mit R. BAGGIO beflockt. Eigentlich glaubte ich, das Trikot mit dem Ende des letzten Jahrtausends verloren zu haben. Doch nun, an diesem Ort, ist es wieder zurück und darüber wundern tue ich mich nicht. Es ist wie in der Realität. Es ist, wie es ist, auf einer Insel in den Weiten der Südsee zu sein. Wohliger Wind zupft an meinen etwas zu langen schwarzen Haaren, während seicht der Ozean beim Brechen am Strand vor sich hin rauscht. Ich bewege mich und der Sand knirscht sanft unter meinen Schritten. Ich bin hier an diesem Ort, das steht vollkommen außer Frage.

Dann ist sie plötzlich da. Sie trägt ein buntes Sommerkleid, hat dunkle Haare und ein zauberhaftes Lächeln auf dem zarten Gesicht. Ein paar Kilo zuviel wird die Unbekannte schon mit sich herumschleppen, doch was soll es! Ihre haselnussbraunen Augen funkeln gleich Edelsteinen aus einem wundervollen Märchen und bergen dabei Tausende von Geheimnissen in sich. Sie, das steht zweifelsohne fest, ist die schönste Frau der Welt; die Person, auf welche ich seit dem Ende der Planck-Zeit gewartet habe. Wenn ich in ihr Gesicht schaue, könnten die Äonen vergehen und ich würde es nicht einmal bemerken.

"Ich bin so glücklich, dich hier gefunden zu haben. Fast achtzig Millionen zu eins standen unsere Chancen, dass wir uns an diesem Ort zwischen den Welten treffen. Sei froh, andere begegnen sich nie. Übrigens, mein Name ist Derya", sagt sie und ich weiß in diesem Moment, dass Derya und ich bis in die Ewigkeit füreinander bestimmt sind. Und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Denn ihre Stimme höre ich mehr aus meinem Herzen heraus als durch die Ohren. 

"Ich weiß nicht, was ich sagen soll", lautet daher nur die Antwort. Doch dann fällt mir tatsächlich noch etwas ein: "Ich weiß lediglich, dass ich dich wiedersehen möchte." 

"Du brauchst auch nichts zu sagen. Ich rufe jetzt dein Handy an und dann siehst du meine Nummer auf dem Display. Falls du dir die Nummer nicht merken kannst, werde ich dich eines Tages anrufen und sagen, dass mein Name Alexandra Noeth lautet. Ich werde fragen, ob ich dort richtig bin bei Hausmeisterservice Günther Rausch. Das soll seien unser Code. Dann weißt du, dass ich es bin. Ich, Derya, die hier mit dir heute tatsächlich auf dieser Insel in der Südsee weilt", erklärt sie und gibt mir einen Kuss, kurz und ohne Zunge, auf den Mund. Die Berührung ist derart real, dass ich die warmen Wellen spüre, welche sich vom Kontaktpunkt in meinem ganzen Körper ausbreiten.  Ich bin mir sicher, gerade sämtliche positive Energien des Universums in mir fühlen zu können. 

Dann ist Derya verschwunden und wo sie eben stand, liegt nun ein gigantisches Smartphone im Sand. Es gehört mir, wenn es nur ein paar Größen geringer ausfallen täte. Umgehend fängt das Teil zu klingeln an mit dem Geräusch luftiger Streicher, ganz wie es bei meinem wahren Gerät der Fall ist. Auf dem Display erscheint die Rufnummer des eingehenden Anrufers, aber ich kann diese nicht vollständig erkennen. Nur die ersten und letzten drei Ziffern sind sichtbar. 

015...165

Ich biege und verrenke mich, um diese Nummer zu erkennen, denn sie gehört Derya. Die Nummer vollständig in meinem Besitz zu haben, ist zweifelsohne die wichtigste Angelegenheit im gesamten Universum. 

015...165

Verdammt! Ich kann die komplette Nummer nicht ausmachen! 

015...165...

...und die Streicher klingen fast hämisch dabei... 

...ich erwachte und wusste sofort, dass mein wirklicher Platz dieses Bett, diese Wohnung, diese Stadt, dieses Land, dieser Kontinent, diese Welt war. Tageslicht drang durch die Vorhänge in den Raum. Heftige Enttäuschung wütete in mir darüber, hier und nicht am Strand bei Derya zu sein, wo ich doch eigentlich hin gehörte. Der Traum war in allem so real gewesen. Ich warf die Decke beiseite mit gehöriger Frustration, schaute an mir runter und erwartete, nein erhoffte gar, Sand zwischen meinen Zehen zu finden. Doch da war nichts. Statt des weißen Standes der Südsee wurde mein Smartphone neben dem Kopfkissen gefunden. YouTube lief in Endlosschleife. Irgendwie war das Programm in den Kanal eines Retrofernsehfreaks gelangt. Dieter Thomas Heck sang den Auftakt zur längst verschwundenen operettenhaften Show Melodien für Millionen. Immerhin war Freitag und das Wochenende lächelte bereits aus naher Distanz. 

015...165 

Diese Zahlen würde ich nie vergessen. Sie waren, das stand fest wie der tägliche Sonnenaufgang, Teil meines Bewusstsein, vielleicht gar immer gewesen. 

015...165

Aber was befand sich dazwischen? Was befand und befindet sich dazwischen, verdammt noch einmal! 

Der Morgen verlief wie immer. Schwarzen Tee kochen, Computer hochfahren und ab ins Homeoffice, wo ich telefonierte, Daten transferierte, E-Mails las und verfasste. Gegen 10:00 Uhr beendete ich ein Gespräch mit dem Logistikleiter einer internationalen Spedition. Als ich mein Headset absetzte, um aus der Küche Nachschub an Assam zu holen, erfüllten die luftigen Streicher das Arbeitszimmer, welches zugleich auch Wohnzimmer war. Mein Handy klingelte. Mich rief eine Nummer an, welche nicht in meinen Kontakten gespeichert war. Dann drohte mir das Herz aus dem Brustkorb zu springen, da ich sah, dass die Nummer mit 015 begann und auf 165 endete. Von allen Seiten des Universums konnte ich meinen rasenden Puls vernehmen, während ich das Gerät von der Platte meines Schreibtisches hob und über das grüne Symbol zur Annahme von Gesprächen strich. Rasch in der Geschwindigkeit einer startenden Rakete, vor Aufregung beinahe zitternd und gleichzeitig langsam, als liefe alles in Superzeitlupe ab, führte ich das Gerät hin zu meinem rechten Ohr. 

"Hallo", meldete ich mich und dieses eine Wort schien eine dritte Person zu sprechen. 

"Guten Tag. Mein Name ist Alexandra Noeth. Bin ich da richtig beim Hausmeisterservice Günther Rausch?", fragte Derya mit einem Lachen in der Stimme, welches heller als tausend Sterne der höchsten Spektralklasse erstrahlte. Die traumhafte Nummer hatte sich wahrhaftig gemeldet.